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IV

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ine Zeitlang hielt ich noch Heerschau über die in Reih und Glied stehenden Granitriesen der Crawford Notch, dann machte ich Schritte zur weiteren Untersuchung der ausgesteckten Bahnlinie.

In der Richtung der Notch war mir das Vordringen unmöglich (ich bin kein wahnsinniger Bergfex), aber entgegengesetzt ging’s. Von Stein zu Stein klimmend, mich hier und dort wider die Wand lehnend, bewältigte ich glücklich die ersten paar hundert Schritte. Stellenweise waren kleine Sprengungen gemacht worden zum Aufstellen von Instrumenten für die Ingenieure, und das ermutigte mich nicht wenig. Wenn’s „der“ oder „die“ leisten konnten, dachte ich, dann kann’s auch der Mann aus dem Schwarzwald!

Zweimal kam ich an Abgründe, in deren Tiefen Bergwasser tosten. Den ersten Abgrund überbrückte ein schmaler Steg aus querliegenden Fichtenstämmen, deren frische Axtschnitte zeigten, dass das Bauwerk nur wenige Tage alt sein konnte. Die nächste Felsenspalte, tiefer und breiter noch, musste ich mit Hinab- und Hinaufsteigen überwinden. Es war eine verwünscht mühsame Kletterei, sogar für den Anbeter jeglicher Romantik.

Gleich gab mir aber meine Göttin die Belohnung, denn jenseits der Schlucht überraschte mich ein denkwürdiger Anblick. Hier musste in uralten Zeiten ein Bergrutsch stattgefunden haben. Glatt und dachsteil — eine Halde, mit dichtem Hochwald bewachsen — lag die Geröllmasse vor mir. Entlang der Strecke, wo die Eisenbahn gebaut werden soll, hatten Holzhacker sämtliche Tannen gefällt und die schier astlosen Stämme an den unteren Rand der Lichtung gerollt, als wertloses, dem Verfaulen geweihtes Unkraut.

Da lagen sie zu Hunderten, die majestätischen Waldriesen, ihr harziges Blut vergießend aus den geschlagenen Wunden, ein Anblick, der einen deutschen Förster zu hysterischem Weinen gerührt haben würde.

Ungewollt musste ich — diese wandalische Holzverwüstung sehend — an die vielen kalten Kammern armer Leute denken. Bilder tauchten auf vor mir, blasse Kindergesichter, ungewaschene, verwahrloste, frierende Kindergesichter; Kindergesichter, die so tiefgefurchte Spuren des Elends zeigten, dass ich mich abwenden musste. Kinder und deren Mütter, ach! diese Märtyrer einer egoistischen Gesellschaftsordnung!

Ein lautes Lachen weckte mich aus meiner Betrachtung. In Gedanken war ich eine weite Strecke durch den ausgehauenen Wald marschiert und stand plötzlich auf einer neuen Arbeitsstelle. Es war ein begonnener Durchstich durch weiches Erdreich. Schaufeln, Picken und Schiebkarren lagen ringsherum am Boden. Auf den Schiebkarren saßen Männer, die lebhaft miteinander disputierten und lachten und ihre Pfeifen rauchten.

Ich grüßte die Gesellschaft — sie mich. Wir wurden augenblicklich vertraut, denn drei der fünf Männer hatten die Reise von Neuyork mit mir gemacht, sogar mein Landsmann Gustav befand sich unter ihnen. Sie luden mich ein, Platz zu nehmen, und die Konversation, die durch mein Erscheinen anfangs bedenklich stockte, kam wieder ins Fließen, als ich von dem halsbrechenden Felsensprengen, das meiner am Montag warte, zu erzählen begann.

Die Kameraden erzählten dann ihrerseits, dass sie gute Kost hätten drunten in der Shanty, und ebensolche Strohsäcke als Betten; dass ihr Sektionsaufseher ein zivilisierter Indianer aus den Adirondacks sei, und der Koch dessen Schwager; dass die Arbeit den ganzen Winter ununterbrochen durch Geröll und weichen Boden gehen werde.

„Verstanden aber, wenn wir nicht festfrieren!“ rief ein älterer Arbeiter dazwischen. „Jungens! wenn es hier oben November wird und der Blizzard aus der Notch herunterpfeift, dann hat’s Feierabend geschellt mit dem Schaufeln. Ich kenne die White Mountains wie ein Mohawk; hab’ drunten in der Glen Ellis Ranche Holz geschlagen und Bahnschwellen, drei Winter lang.“

Des Alten Rede wirkte als Dämpfer; die andern wurden merkwürdig kleinlaut.

„Dann bist du am Ende doch besser dran als der Rest“, sagte der Hamburger auf Deutsch zu mir, während die übrigen unter sich auf Englisch verhandelten. „Felsen zerknallen kann man bei kältestem Wetter.“

„Auf dem Glatteis ausrutschen und hundert Meter tief hinabfliegen kann man auch bei kältestem Wetter“, gab ich mürrisch zurück.

„Dann willst du also nicht bleiben?“

„So lange mir’s gefällt, bleibe ich.“ „Ich auch, und keine Stunde länger!“ lachte der immer leichtlebige Hansabürger und ehemalige Seemann. „In dieser verdammten Klemme stecken, da ist das Junggesellenleben doch ein wahrer Gottessegen. Wir sind an nichts gebunden; hurra! es lebe die Freiheit! — In der Shanty unten sind Ehemänner, die armen Kerls müssen schaffen, und wenn sie erfrieren hier; und was noch schlimmer ist: sie müssen ihren blutig verdienten Monatslohn bei Dollar und Cent an ihre Weiber abliefern, und der Kuckuck weiß, was die Frauen treiben, derweil die Männer tausend Meilen von ihren Betten auf Schildwach stehen, hahaha!“

„Aber Gustavchen“, sagte ich, „irgendjemand muss doch das Ehekreuz schleppen, sonst stirbt die Welt aus.“

„Hast auch recht“, meinte der Hamburger. „Eins aber will ich dir sagen: wenn uns die Geschichte zu dumm wird in den White Mountains — wir gehen miteinander fort von hier, wie wir miteinander hergekommen sind. Das muss festgenagelt bleiben! Gehn wir morgen, so ist das Reiseziel: zurück nach Neuyork; halten wir aus bis zum Frühjahr, dann möcht’ ich mir einmal den Niagara ansehen, oder lieber gleich die ganzen Vereinigten Staaten bis Kalifornien.“

Da unsere Kameraden sich erhoben hatten und den Weg zu ihrer Shanty schritten, standen Gustav und ich ebenfalls auf und folgten dem Trupp.

Der Abstieg zu Tal war nur ein Kinderspiel im Vergleich zu der Felsenkletterei droben in der Notch; immerhin ging er steil und öfters um Löcher und Baumgruppen herum. Auch die Entfernung zwischen der Arbeitsstelle und der Shanty war viel geringer.

„Ihr habt’s gemütlich“, sagte ich, als sich das Blockhaus zwischen den Bäumen zeigte. „Ihr könnt zum Mittagessen herunterkommen. Ich werd’ mein Essen — wie ich gehört hab’ — im Kessel hinauftragen und in der Nachbarschaft der Wolken verzehren müssen; und Holz zum Feuermachen gibt es auch nicht in der Notch, außer man nimmt sich’s mit aus — —“

Ich wollte noch mehr sagen, Gustav gebot mir jedoch durch einen Rippenstoß Schweigen. „Still!“ flüsterte er und zeigte aus die Senkung des Fußsteiges, hinter dem unsere vier Kameraden verschwunden waren. Statt ihrer tauchte ein großer, herkulisch gebauter, jedoch weißhaariger, weißbärtiger Mann aus der Tiefe und schritt uns langsam entgegen.

„Schau dir diesen Menschen gehörig an, nachher erzähle ich dir mehr,“ flüsterte mein Freund noch einmal.

Der Fremde kam näher. Trotz seines Alters und der Steilheit des Pfades marschierte er festen Fußes und ohne Atemnot. Er trug auch — ungeachtet des kühlen Wetters — weder Rock noch Weste, nur einen breitrandigen Schlapphut, ein blaues Flanellhemd mit aufgerollten Ärmeln, Lederhosen, in hochschäftigen Stiefeln steckend. Seine linke Hand stemmte er gegen die Hüfte, während die Rechte eine schlanke, frischgeschnittene Rute laut zischend durch die Luft fuchteln ließ.

Offenbar pilgerte der Riese in Gedanken versunken nur so vor sich hin, denn erst als wir ganz dicht aneinander vorbei schritten, warf er einen flüchtigen Blick auf uns. Ich meinte ihn ganz allein bekommen zu haben, denn ein solcher Blick, und nur die Hälfte vom ganzen, das wär’ übermenschlich.

„Was denkst du von dem Alten?“ frug mich der Hamburger nach einer Pause.

„Was ich denke? Dem möcht’ ich nicht allein begegnen und eine goldene Uhrkette im Knopfloch haben.“

Gustav lachte laut. „Für einen Räuberhauptmann hältst du den Alten?“

„Sapperment, ist das meine Schuld? Mit solchen Augen, wie der sie hat, kann jede westliche Postkutsche zum Halten gebracht und ausgeplündert werden; Flinten und Revolver braucht man nicht.“

„Weißt du was? Der Graukopf ist der beste Kerl“, fuhr Gustav zu erzählen fort; „der gemütlichste, beste Kerl, den ich je getroffen habe. Am Freitagabend, wie er mit den andern von der Arbeit kommt (selber durchnässt bis auf die Haut), da hat er sich, statt an den Tisch gesetzt zum Essen, erst um uns Zugereiste bekümmert. Er bot uns trockene Unterkleider an, die wir übrigens nicht nötig hatten anzunehmen“

„Vielleicht ist er ein reformierter Desperado“, warf ich scherzend ein.

„Was ich glaube“, erwiderte der Hamburger, „er ist ein degradierter Geistlicher, ein ehemaliger Professor, oder sonst ein hochstudierter Mensch. Es gibt ja in Amerika so viele, die in jungen Jahren hinter dem Katheder stehen und in ihren alten Tagen hinterm Schiebkarren.“

„Es gibt auch viele, die es umgekehrt machen.“

„Das schon; aber der Graukopf ist ein phänomenaler Kopf; ein Professor, sag’ ich noch einmal; ein Genie!“ Gustavs Gesicht strahlte vor Begeisterung. „Respekt vor deiner Bildung, Landsmann! Du hast mir den Span, dass die Schwaben erst mit Vierzig gescheit werden, ziemlich beschnitten; aber vor dem Alten da musst du ganz einfach die Segel reffen, er bläst dich um — Kiel nach oben!“

Ich drehte mich um, das Weltwunder wenigstens von hinten noch einmal anstaunen zu können; aber der Riese war bereits hinter den Bäumen verschwunden. „Und so viel Respekt hat er dir schon abgezwackt?“ frug ich, in meiner Eitelkeit nicht wenig verletzt. Ehrlich gebeichtet: ich hielt mich bis dahin für unüberwindlich aus dem Gebiet des Wissens — das heißt: unter den wenig geschulten, hart arbeitenden Gesellen, mit denen ich ja nur verkehren konnte.

„Über welches Thema hat der Herr Professor denn Vorlesung gehalten, um derartigen Enthusiasmus seiner Hörer ernten zu können?“ frug ich weiter.

„Komm mal ’runter!“ sagte Gustav trocken. „Wiederholen, was er sagte, das kann ich doch nicht, sonst wär’ ich ja ebenso gescheit wie der Alte. Komm mal ’runter am Abend nach der Arbeit und hör’ ihn sprechen! Eine Meile her, eine Meile hin! Vielleicht wird er anbinden mit dir. Das gäb’ was zu lachen, euch zwei disputieren zu hören! — Die andern sagen, dass er beinah’ jeden Abend Geschichten erzählt — oft bis zehn Uhr — und lauter wahre Geschichten aus der Römerzeit und noch ältere. Gestern bei dem Regenwetter hat er mir und drei andern bewiesen, warum die Erde um die Sonne herumgehen muss, wie die vier Jahreszeiten gemacht werden und der Regen und Schnee.“

Wir waren jetzt bei der Hütte angelangt. Der Abend senkte sich, bedenkliche Schatten werfend, ins Tal herab. Wenn ich zum Nachtessen in meinem Quartier sein wollte, durfte keine Zeit vergeudet werden mit Plaudern. Ich drückte darum rasch des Landsmanns Rechte, wünschte ihm Glück zur Arbeit, Appetit zum Abendbrot, süße Träume zu gesundem Schlaf.

„Kommst also mal ’runter bei schönem Wetter und hörst den Alten?“ sagte Gustav, mir gleichfalls die Hand schüttelnd.

„Werd’s probieren“, erwiderte ich. „Hoffentlich entspricht die Vorlesung der Architektur eures Universitätspalastes!“ — Schon im Wegschreiten begriffen, setzte ich noch hinzu: „Wie heißt denn der Herr Professor? Du hast mir ja nicht seinen Namen gesagt.“

„Bob!“

„Bob? — Ist das alles?“

„Kurzweg: Bob!“

Wir lachten und verschwanden, Gustav in der Shanty, ich im Wald.

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Bob, der Sonderling

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