Читать книгу So sah ich. Mein Leben. Mein Österreich. Die Welt - Drei Bände. Life is a story - story.one - Hugo Portisch - Страница 19
Hundert Leute, eine Wurst
ОглавлениеHugo Portischs größtes Interesse gilt dem Weltgeschehen. Neben ihm schon bekannten Ländern wie den USA oder Großbritannien bereist er bereits zu Beginn der 60er-Jahre Länder in Asien, Lateinamerika und Afrika, die anderen westlichen Journalisten noch keinen Zutritt gewähren. Daraus entstehen Bücher der „So sah ich …“-Reihe, die allesamt zu Bestsellern werden. 1962 besucht der überzeugte Antikommunist zum ersten Mal die Sowjetunion. Von einer Dolmetscherin namens Alexandra begleitet, weiß er sehr genau zwischen den Menschen und dem Regime zu unterscheiden.
Alexandra hat mich die ganzen vier Wochen über begleitet und es war klar, dass sie mich auch zu überwachen hat. Jeden Tag ist sie eine halbe Stunde verschwunden, um darüber Bericht zu erstatten, was ich gemacht habe. Ich hatte einige sehr einschneidende Erlebnisse. Die langen Menschenschlangen vor dem großen Kaufhaus GUM in Moskau zum Beispiel. Ich dachte mir: Was gibt’s dort zu kaufen? Die Lösung: Es war eine ziemlich wuchtige, runde Wurst, von der große Scheiben abgeschnitten wurden. Um diese Wurstscheiben haben sich mehr als hundert Leute angestellt. Dann bin ich in ein Kaufhaus gegangen und habe gesehen, wie armselig dort alles ist, und wie teuer das Armselige ist. Eine ganz einfache Jacke war fast unbezahlbar für einen normalen Sowjetbürger. Gleichzeitig waren die Leute aber alle recht gut angezogen. Wie machen die das?, dachte ich. Sie waren munter, heiter und freundlich. In der Tat ein tolles Volk!
Alexandra war in manchen Fragen hilfreich, in ideologischen Angelegenheiten war sie aber völlig stur und von der Propaganda vollkommen falsch unterrichtet: In Korea haben die Amerikaner angegriffen und nicht die Nordkoreaner. Der Eiserne Vorhang ist natürlich nur dazu da, um die westlichen Spione davon abzuhalten, die sozialistischen Länder zu überrennen. In Sibirien steht auf jeder kleinen Brücke ein Mann mit einem Gewehr. „Wozu?“, fragte ich sie. „Es ist ja kein Bürgerkrieg mehr.“ – Antwortet sie: „Die Brücken werden wegen der westlichen Agenten bewacht.“ Das schien mir doch unwahrscheinlich, 500 oder 1.000 Kilometer von der nächsten westlichen Grenze. Wo sollen da Agenten herkommen?
Nach ein paar Tagen hab ich vom KGB die Auskunft bekommen: Ich möge das verstehen, während des Krieges war das notwendig, weil es da ja tatsächlich überall Nazi-Agenten gab. Da hat man ein großes Wachkorps hauptsächlich für Brücken, Viadukte und Eisenbahnen aufgestellt. Jetzt, lange nach dem Krieg, wagt es niemand, diese Leute nach Hause zu schicken. Sie wären nämlich arbeitslos und sie können keine Arbeitslosen brauchen. Die bleiben weiterhin bei den Brücken stehen, weil das ihr Job ist. Den haben sie gelernt. Davon beziehen sie ihren Lebensunterhalt. Sie können sie nicht abziehen.
Wahrscheinlich tausende, die nur so dagestanden sind und die Brücken bewacht haben wegen nix und wieder nix. Unglaublich!