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BEWEGTE JUGENDJAHRE IN SITTARD
Meine Jugend habe ich in Sittard verbracht, in der Sint Josephstraat, im Stadtteil Stadbroek. Dort bin ich aufgewachsen, und diese Straße hat auch meine Mentalität geprägt. In dem Viertel wohnten überwiegend Grubenarbeiter. Am Ende unserer Straße befand sich ein Fußballfeld und dahinter ein Wohnwagenplatz, wo wir uns als Jungs auch manchmal herumgetrieben haben. Erst recht, als ich mit sechzehn in der Gegend Zeitungen ausgetragen habe.
Die Sint Josephstraat war eine ordentliche Straße, jeder kannte jeden. Bei schönem Wetter hockten alle draußen, hielten ein Schwätzchen und tranken zusammen Kaffee. Unsere Haustür stand immer offen, jeder konnte einfach hineingehen, und das war auch wirklich immer so.
Glücklicherweise befand sich direkt vor unserem Haus ein kleiner Platz, auf dem wir immer gekickt haben. Dort habe ich Fußballspielen gelernt. Auch auf dem Schulhof haben wir in jeder freien Minute Fußball gespielt, das ging so, bis ich sechzehn war. In einer Seitenstraße der Sint Josephstraat gab es eine Mauer, gegen die ich oft alleine geschossen habe, um meine Technik zu verbessern. Oder ich habe zusammen mit einem Freund gegen die Mauer gebollert.
Die Leute, die dort wohnten, haben mir zwar manchmal den Ball weggenommen, denn es ging die ganze Zeit Bumm!, Bumm!, Bumm!, immer gegen ihre Hauswand. Aber Schläge habe ich nie bekommen. Und den Ball haben sie mir später auch immer zurückgegeben.
Wir waren fünf Brüder, ich war der dritte. Der älteste ist Nico, er ist neun Jahre älter als ich, Jan ist drei Jahre älter, und dann gibt es noch die beiden Nachzügler. Paul ist zwölf Jahre jünger als ich und John vierzehn. Wir hatten zwei große und ein kleines Schlafzimmer. Als die beiden Jüngsten zur Welt kamen, waren die beiden Ältesten bereits aus dem Haus. Die Jüngsten schliefen gemeinsam in einem Zimmer, ich hatte das kleine Zimmer.
Bei uns war es sehr harmonisch, die Familie hielt fest zusammen, und wir haben auch heute noch viel Kontakt. Letztens waren wir in Den Helder auf der Urnenbeisetzung der jüngsten Schwester meiner Mutter. Nico, Paul und ich waren auch dort. Jan war krank, und John war in Spanien, sonst wären sie mit dabei gewesen. Bei solchen Treffen tauschen wir uns immer richtig gut aus. Und wir haben viele Cousinen und Cousins mit ihren Kindern getroffen.
Wir hatten damals zuhause nicht viel Geld, aber immerhin mehr als die anderen in der Straße. Unsere Eltern hatten nämlich einen Zusatzjob als Putzhilfen in einer Berufsschule. Mein Vater arbeitete nachts unter Tage. Er kam dann morgens nach Hause, schlief bis ungefähr eins oder zwei, und um vier Uhr ging er mit meiner Mutter die Schule putzen. Wir haben sie manchmal begleitet und mitgeholfen. Abends um acht ging mein Vater dann wieder zur Arbeit.
Nico hat auch kurze Zeit in den Gruben gearbeitet, aber das gefiel unserem Vater nicht. Er wollte nicht, dass sein Sohn Grubenarbeiter wird. Denn er wusste nur allzu gut, wie ungesund und hart diese Arbeit war. Später landete Nico dann beim Straßenbau, genau wie Jan. Sie mussten Leitungen verlegen und solche Sachen. Paul hat dort später auch gearbeitet. John macht alles Mögliche. Er fährt Taxi, baut und vermietet Häuser und was weiß ich noch alles. Wir fünf haben alle unseren Weg gefunden.
Der Zusatzjob unserer Eltern ermöglichte uns etwas Luxus. So hatte mein Vater zum Beispiel einen Opel, in den wir alle hineinpassten, und wir waren in unserer Straße die Ersten, die einen Fernseher hatten. Kam etwas Schönes im Fernsehen, war unser Haus voll. Das war sehr gemütlich.
Wir hätten eigentlich auch noch eine Schwester gehabt. Nach Nico brachte meine Mutter ein Mädchen zur Welt, Rini. Sie starb mit vier, möglicherweise an Herzstillstand. Der Verlust war für meine Mutter sehr groß, denn Rini war ihre einzige Tochter. Ich habe Rini nicht erlebt. Nach mir hatte meine Mutter noch eine Totgeburt mit einem Jungen. Besonders schlimm war für sie aber der Verlust der Tochter, doch sie hat nie darüber gesprochen. Wie das genau passiert ist, weiß ich nicht. Damals ging man ganz anders mit kranken Kindern um. Vielleicht hatte sie eine Krankheit, die ihr Herz angegriffen hat, ich weiß das bis heute nicht. Ich weiß aber ganz sicher, dass es nichts mit den Herzrhythmusstörungen zu tun hatte, die ich später bekam.
Es gibt auch keine Fotos mehr von meiner Schwester. Als ich bereits aus dem Haus war, hat es bei uns ein Feuer gegeben, bei dem alle Fotos verbrannt sind. Das macht alles noch tragischer. Ich selbst besitze auch kaum Fotos aus meiner Jugend. Auf Rinis Grab gab es ein Foto. Ich kann mich daran erinnern, dass sie wie wir dunkles Haar und Locken hatte. Aber auch das Grab ist inzwischen verschwunden.
Als Kinder waren wir alle frech. Aber wir gingen nett miteinander um, auch mit unseren Eltern, insbesondere mit unserer Mutter. Denn wir wussten, wie schwer sie es hatte und dass sie dennoch alles für uns tat. Die Familie hat ihr große Freude bereitet. Paul war zum Beispiel ein richtiger Witzbold, über den sie herzhaft lachen konnte.
Ich wäre als Kind zweimal fast ertrunken. Hinter unserem Haus verlief ein reißender Bach. Als ich ungefähr sechs war, fuhr ich zu schnell auf meinem Tretroller und raste zack in den Bach. Die Tochter der Nachbarin hat mich damals aus dem Wasser gezogen. Sie hat mir wirklich das Leben gerettet, denn die Strömung war dermaßen stark, dass ich es niemals aus eigener Kraft geschafft hätte. Später bin ich dann noch mal in einen Bach gefallen, allerdings in einen anderen, aber da kam ich von allein wieder heraus.
Wir haben auch gerne mal heimlich Birnen und Äpfel geklaut. Wenn einen der Bauer dabei erwischte, musste man schnell abhauen. Mich konnten sie nie erwischen, Jan dann aber doch einmal. Der Bauer schleppte ihn zu unserem Vater, der Jan eine Standpauke hielt. Aber ich glaube, das war nur gespielt von ihm. Jedenfalls war es lustig. Wir haben Steine in den Baum geworfen, damit die Birnen herunterfielen. Doch wenn jemand im Baum saß und an den Ästen gerüttelt hat, durften wir natürlich nicht werfen. Einmal hat jemand nicht mitbekommen, dass ich unter einem Baum stand und Äpfel auflas, und hat einen Stein geworfen. Der landete mitten auf meinem Kopf. Ich wurde gleich ins Krankenhaus gebracht, und die Wunde wurde genäht. Ich musste sogar ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, weil sie Angst hatten, ich könnte eine Hirnhautentzündung bekommen. Das war dann doch ziemlich schlimm.
Meinem Vater war Disziplin sehr wichtig. Wenn Jan zum Beispiel in die Disco ging, dann hatte er um halb zwölf zuhause zu sein. Doch wehe, wenn er zu spät kam, dann durfte er zwei Wochen abends nicht ausgehen. Ich habe auch einmal Hausarrest bekommen. Bei einer Familie mit fünf Jungen war Disziplin wirklich angebracht. Jan war in der Pubertät auch nicht gerade einfach. Einmal sind wir auch richtig aneinandergeraten, und es ging ziemlich rund, mit einer ordentlichen Prügelei. Aber auch das gehörte einfach dazu.
In unserem Viertel gab es immer wieder mal eine Schlägerei. Einmal wurde sogar ein Nachbar erstochen. Ich war damals noch ein kleiner Knirps, aber ich habe den Mann dort liegen sehen. Sie haben noch versucht, seine Wunde zuzupressen, aber später ist er dann doch gestorben. Die Gegend mag zwar rau gewesen sein, doch ganz bestimmt nicht kriminell. Es gab zum Beispiel keine Einbrüche oder Diebstähle, obwohl alle Türen immer offen waren.
Manchmal haben wir auch auf Ratten geschossen, denn sie waren eine Gefahr für Vaters Tauben. Die Ratten hielten sich am Bach hinter unserem Haus auf und kamen dann manchmal auf unser Grundstück. Wir hatten ein Luftgewehr, mit dem wir uns nachts öfter mal auf Rattenjagd begaben. Ich trug eine Lampe, Nico und Jan schossen. Später habe ich dann auch selbst geschossen. Getroffen haben wir sie natürlich auch. An einem Abend schossen wir manchmal fünf, sechs Ratten.
Ich hatte viele Freunde. Mit einem von ihnen, einem Cousin von mir, Ger Minkenberg, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin, hatte ich letztens noch Kontakt. Wir haben uns gemütlich unterhalten und uns versprochen, dass wir uns öfter sehen. Meinen engsten Freund Jacques Philippen habe ich aus den Augen verloren. Das Viertel wurde inzwischen komplett abgerissen.
Meine Schulzeit verlief gut. Ich war kein besonders guter Schüler, aber ich bin nie sitzengeblieben. Ich wollte besser sein als meine älteren Brüder. Und ich wollte es später auch einmal besser haben als meine Eltern. Das war die Siegermentalität, die ich bereits sehr früh hatte und die ich meinen Eltern zeigen wollte. Ich glaube, dass mir das auch gelungen ist. Nico war ein netter Junge. Jan war eher gerissen. Er drehte Sachen außerhalb der Schule.
Nach der Volksschule bin ich auf die Berufsfachschule gegangen. Denn wie meine Brüder wollte auch ich etwas Handwerkliches machen. Ich habe eine Lehre zum Schlosser absolviert, mit einer Zusatzqualifikation für Metallbau.
Eine Zeit lang habe ich als Schlosser im Stahlbetrieb Demy gearbeitet. Ich habe dort Platten geschleppt, Schweißern assistiert und solche Sachen. Das war ziemlich harte Arbeit. Irgendwann kam ich in die Jugend-Nationalmannschaft und konnte deshalb manchmal nicht arbeiten. Der Chef meinte, ich müsse mich entscheiden, woraufhin mein Vater sagte, ich solle mir etwas anderes suchen. Danach habe ich beim Eisenhandel Zwaans gearbeitet und war dort vor allem für das Platzieren von Kränen auf Lastwagen verantwortlich.
Aber auch bei Zwaans bekam ich wieder Ärger mit dem Chef. Er wollte mir nicht so viel für Fußball freigeben. Also hatte ich wieder dieselben Probleme. Dem Vizevorsitzenden meines Vereins Sittardia gehörte die Trikotagenfabrik Rosita, und er schlug mir vor, dort im Lager zu arbeiten.
Das habe ich dann gemacht, und die Arbeit war auch viel leichter. Ich musste zum Beispiel Arbeiter anleiten oder Kartons verschließen und sie versandfertig machen. Zudem konnte ich früher nach Hause und am Training teilnehmen. Ich habe die Arbeit auch noch ein paar Jahre weitergemacht, als ich einen Vertrag bei Fortuna Sittard hatte.
Auch außerhalb des Fußballs ging es mir immer ums Gewinnen. Zum Beispiel beim Kartenspielen. Wir haben gerne Rommé oder andere Kartenspiele gekloppt. Wenn ich mit meinen Brüdern gespielt habe, ging es oft ziemlich ab. Manchmal flogen sogar die Karten durchs Zimmer, oder wir haben im Spiel betrogen. Später wollte ich selbst beim Spielen mit meinen Kindern immer der Gewinner sein. Sogar meine Enkel lasse ich manchmal spüren, wie es ist, zu verlieren, aber nur manchmal.
Wenn wir mit einer Gruppe Jungs mit dem Fahrrad nach Cauberg gefahren sind, dann wollte ich immer an der Spitze fahren. Und wenn sich hinter mir ein Auto näherte und ich vor mir einen Laternenpfahl sah, dann wollte ich früher am Laternenpfahl sein als das Auto hinter mir. Ich habe mir immer Ziele gesteckt, die ich erreichen wollte. Manchmal hat mich auch mein Vater herausgefordert. Dann musste ich eine abgesteckte Runde bei uns am Haus innerhalb von zwei Minuten rennen. „Das schaffst du nie!“, sagte er dann. Die Strecke war durchaus lang, aber ich habe es geschafft. Auch das war eine Herausforderung.
Während meiner Zeit bei Sittardia zählte ich nicht zu den Schnellsten. Ein Jugendtrainer schlug deshalb vor, dass ich auf dem Fahrrad ab und zu mein Tempo beschleunigen sollte. Oder ich sollte mit dem Fahrrad in einem kleineren Gang fahren und versuchen, dennoch schnell wegzukommen. Ich muss sagen, das hat wirklich etwas gebracht.
Ein anderer Jugendtrainer meinte mal, ich hätte zu wenig Kraft. Also habe ich mich vor eine Bank gestellt und bin hochgesprungen, um damit die Oberschenkelmuskulatur zu stärken. Ich habe mir noch allerlei andere Übungen ausgedacht, denn damals gab es noch keine Fitnessgeräte.
Als ich später bei PSV Eindhoven war, habe ich bei Waldläufen immer wieder mal Tempowechsel eingebaut. Vor unserem Haus stand ein Laternenpfahl, an dem ich auch Körpertrainingsübungen gemacht habe. Ich knotete dann einen Fahrradschlauch um den Pfahl, stellte mich hinein und machte Sprints. So kam man natürlich nicht von der Stelle, aber es trainierte meine Sprintkraft. Derlei Übungen habe ich mir seit meiner Jugend für mich ausgedacht.