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Wochenschau

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Die Kinos von Neoland – 'Lichtburgen' genannt – bildeten eine der seltenen Zerstreuungen, bei denen die Neoländer im Schutze der Dunkelheit ein Gefühl von Freiheit genossen. Die meisten Lichtburgen waren in entweihten Kirchen eingerichtet worden, deren Fenster man mit Brettern zugenagelt hatte, damit auch am Tage Vorführungen stattfinden konnten. Aus Propagandafilmen erfuhren die Menschen, dass in den Kirchen das Volk früher massenhaft verdummt worden sei. Die schlimmsten Demagogen 'der Popen' seien die 'Katholen' gewesen, die außer dem Verblöden des Volkes, dem Missbrauchen von Kindern und dem Zusammenraffen von Schätzen in ihren Kirchen für viele weitere Übel des alten Systems verantwortlich gewesen sein sollten.

Den Menschen, die gekommen waren, um sich abzulenken, war es gleich. Sie gaben weder etwas auf die Religion, von der sie nicht wussten, ob sie gut oder schlecht sein sollte, noch auf die Sprüche der Partei. Alles, was sie wussten, war, dass im Winter ein mächtiger Kanonenofen einheizte, während im Sommer die Kirchengemäuer für angenehme Kühle sorgten. Es war recht gemütlich dort. Niemand ging allerdings davon aus, dass die Partei nicht auch hier herumschnüffeln wollte.

Landesweit lief in allen Kinos die 'Nationale Wochenschau'. Eine vielköpfige Menge hatte es sich im Saal des Gaus 'Schwarzried', so gut es ging, gemütlich gemacht. Es roch nach alten Kleidern, Schnaps - dem billigen 'Neoländer', einem Fusel, der in der Kehle so brannte, dass es einem die Tränen in die Augen trieb - und nach menschlichen Ausdünstungen. Dafür war es warm, und man kam hierher, weil man in der sicheren Dunkelheit flüstern und die Blicke unbeobachtet schweifen lassen wollte.

Die Vorstellung begann. Je nach Jahreszeit präsentierten stramme, ansehnliche junge Frauen in ihren rosafarbenen Jungmaidenblusen Woche für Woche entweder die kolossalen Ernte- oder Produktionsergebnisse, die die Erwartungen einmal mehr um ein Vielfaches übertroffen hatten, oder es wurden die heldenhaften Gefechte zwischen der 'tapferen Neoländer Armee' einerseits und der 'Terrafranca-Weltverschwörung' andererseits gezeigt.

Archivaufnahmen flackerten über die Leinwand, die Grenztruppen von Neoland in dem zwei Kilometer breiten säuberlich geharkten Sandstreifen mit Sperrgräben, Panzersperren und Wachtürmen zeigten, der die Nordgrenze zu Terrafranca bildete. Große hölzerne mit weißen Totenköpfen bemalte Tafeln kamen ins Bild, die vor dem 'Angriff auf das friedliche Neoland' warnten. Dazu schmetterte ein Kinderchor das 'Lied vom freundlichen Soldaten Peter'.

Dann wechselte die Musik. Untermalt von dramatischen Celli und der schnarrenden Stimme eines Wochenschausprechers tauchten von links auf der Leinwand feuernde Raketenwerfer, dröhnende Panzer und Infanterie der Terrafranca-Armee auf, die sich durch den Sperrgürtel kämpfte und eine Schneise in die Reihen der Feinde schlug.

Als Augenblicke später Terrafranca-Soldaten durchs Bild marschierten, die höhnisch lachend Frauen und Kinder mit Bajonetten vor sich her stießen, ging ein empörtes Raunen durch die Reihen der Zuschauer. Man sah, wie ein Trupp Soldaten Dutzende Frauen und Kinder mit roher Gewalt hinter einen hohen Stacheldrahtverhau pferchte. In Großaufnahme riss ein rausgefressener Terrafranca-Soldat gerade einem kleinen Mädchen ein Stück Brot weg, lachte und schlug es mit dem Gewehrkolben mitten ins Gesicht. Dazu erklangen Pauken und dissonante Trompetenklänge. Aus dem Publikum ertönten Protestrufe. Bei jeder neuen Grausamkeit die an ihren Landsleuten begangen wurde, heulten die Zuschauer in dem vermieften Raum empört auf. Wieder setzte der Sprecher ein:

'Bruder, Schwester, Kamerad und Parteikamerad. Nach heldenhaftem Abwehrkampf unserer Truppen dringen Horden aus Terrafranca von Norden auf unser Gebiet vor und nehmen Tausende Geiseln. Wir aber, werden den Feind zurückschlagen und koste es uns noch so viele Opfer.'

Schließlich zeigten die Bilder entschlossen blickende Neoländer Soldaten mit kantigen Gesichtern in schmucker Ausgehuniform, stramme Erntehelferinnen, strahlende Kinder und zu ihren Füßen gut genährte Schweine und Gänse in strahlend weißem Federkleid. An Stelle der aufwühlenden Musik von vorhin legte sich ein harmonischer Streicherteppich über die friedlichen Bilder. Auf der Leinwand flatterte jetzt bildfüllend die Fahne der Partei, und die sonore Stimme des Sprechers erklang

Sei bereit, und bringe Dein Opfer für Freiheit und Vaterland!“

„Für Freiheit und Vaterland“ antwortete die Masse halbbeeindruckt mechanisch und von klein auf darauf abgerichtet, den eingeübten Riten zu folgen. Dann war die Vorstellung vorüber, und die Menschen strömten aus dem Vorführsaal. Sie sammelten sich im Foyer, wo drei müde junge Frauen in Rot-Kreuz-Uniformen Suppe aus einem enormen Blechkübel verteilten. Wer seine Suppe bekommen hatte, kauerte auf einer der Holzbänke und schlürfte ergeben die mehr wässrige als fettige Brühe in sich hinein. Brotlaibe, Schweineschmalz und irdene Schnapskrüge kamen auf die Tische, und die Anspannung der Menschen löste sich allmählich.

„Diese Hunde! Diese lateinischen Teufel! Habt Ihr das gesehen? Sie ermorden unsere Menschen!“ schrie eine junge blonde Frau empört, die wenn nicht schon am Umstand, dass sie hier das große Wort führte, dann spätestens an Stiefeln und Koppelschloss als Funktionärin zu erkennen war. Als keine Reaktion von den um die Tische Sitzenden kam, blickte sie lauernd in die Runde. Pflichtschuldig murmelten die Tischgenossen nun beifällig und nickten unschlüssig zu ihrer geifernden Rede.

Wer von den Zuschauern den eigenen Staat nicht aus ganzem Herzen hasste, stand ihm zumindest ablehnend gegenüber. Aber die Gräuel der Terrafranca-Soldaten, die sie hier mit eigenen Augen gesehen hatten, verunsicherten selbst die Kritischen ein wenig, die auch Belial jede Grausamkeit zutrauten. Trotzdem war es ratsam, jedes sichtbare Zeichen von Gleichgültigkeit oder gar offener Ablehnung gegenüber dem Staat oder seinen Funktionären zu vermeiden und sich unauffällig zu verhalten.

Nach etlichen Schnäpsen verließ die Funktionärin beschwipst und mit sich selbst zufrieden den Saal. Die Wochenschau hatte ihren Eindruck nicht verfehlt. Wieder einmal war sich die Funktionärin sicher, dass sie auf der richtigen Seite stand. Diese primitiven Proleten würden es auch noch begreifen. Leicht schlingernd trat die Frau in die Dunkelheit hinaus und merkte nicht, dass ihr in sicherem Anstand zwei Männer folgten, die die ganze Zeit über nüchtern geblieben waren.

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