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Kim

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Kim und Silvio hatten sich erst im Juni bei der Spargelernte kennengelernt. Kim war zierlich, hatte ein waches Gesicht mit leicht schräggestellten Augen und schwarzes zu Zöpfen geflochtenes Haar, das sie unter einem blauen Kopftuch verbarg, wie es den unverheirateten Frauen des Landes vorgeschrieben war. Sie hoffte auf eine gute Ausbildung und war darum Mitglied des Jugendbundes geworden. Wer dort 24 Monate Dienst tat, durfte ein ganzes Jahr länger zur Schule gehen.

Wie alle Landeskinder ab zwölf Jahren mussten Silvio und Kim im Frühsommer in die 'Spargelschlacht' ziehen. Spargel war die Leibspeise des verstorbenen Präsidenten von Neoland gewesen. Er hatte ihn – so wurde es überall und ständig berichtet - vor dreißig Jahren im Land höchstpersönlich eingeführt. Es existierten unzählige Witze über den 'Alten' und dessen Vorliebe für das Gewächs, aber man ließ sich besser nicht dabei ertappen, dass man diese Scherze kannte, darüber lachte oder sie gar weitererzählte.

Radio Neoland berichtete in seiner Sendung 'Freies Wort' ausführlich und regelmäßig über die kulinarische Passion des Ersten Mannes im Staate. Festlich wurde am 1. Mai überall im Land der 'Tag des Spargelstechens' begangen. Feierlich überreichte die 'Spargelkönigin', ein besonders hübsches Mädchen in Landestracht, bei dieser Gelegenheit dem Staatschef symbolisch den ersten Spargel in Form einer drei Fuß langen hölzernen Nachbildung und wurde dafür mit einem undurchdringlichen Lächeln und einem feuchten Wangenkuss des Herrschers bedacht. Hurra-Rufe der Parteioberen und der zu Tausenden herbeigeschafften Menge begleiteten die von Jahr zu Jahr absurder scheinende Szene.

Bei dieser Gelegenheit pries der Staatschef regelmäßig die Bescheidenheit des Spargelgenusses und lobte allenthalben die Anspruchslosigkeit der Pflanze in endlosen Reden, bei denen er virtuos von einem Thema zum nächsten wechselte. Der 'Gütige' konnte zum Beispiel mit dem Thema Spargelanbau beginnen, die Bedeutung der Infanterie beim Spargelstechen streifen, die Vorzüge des Jugendbundes als 'frischester Organisation der Welt' preisen, um dann zwei bis fünf Fronterlebnisse einzustreuen. Niemand konnte voraussagen, wann der 'Gütige Führer' zum Ende kommen würde, und es war besser, ausgeruht und mit vollem Magen zu den Massenversammlungen zu erscheinen.

Spargel habe ihm damals in der Todeszone das Leben gerettet schwärmte er den weißen Holzspargel fast zärtlich streichelnd. Ohne das köstliche Gemüse wäre er nicht in der Lage gewesen, den 'Großen Aufstand' zu seinem glücklichen Ende zu bringen. Neolands Jugend, so der greise Staatslenker, solle sich gefälligst ein Beispiel an der Pflanze nehmen. Frische, Kraft und Festigkeit seien auch für sie ein Vorbild.

Dabei wedelte er mit dem Mittelfinger phallusgleich und zweideutig, und die Menge lachte pflichtschuldig und voll ängstlicher Übertriebenheit über derartige Anzüglichkeiten. Der Passion des Gütigen Führers folgend war das Land auf seinen wenigen bebaubaren Flächen überzogen von Spargelwällen, zwischen denen die Menschen während der Erntezeit von Aufsehern überwacht wie ein Ameisenheer herumkrauchten.

Unnötige Unterhaltungen und schon gar engere Kontakte zwischen Mädchen und Jungen waren während der Ernte zwar streng verboten, aber trotzdem hatte die Jugend gelernt, sich mit unauffälligen Blicken und Zeichen zu verständigen. So hatte Silvio zumindest Kims Namen erfahren. Nach Sonnenuntergang waren beide aus ihren Unterkunftsbaracken geschlichen und hatten im Mondschein am Rande des Feldes miteinander geredet. Sie hatten den politischen Unterricht geschwänzt, der abends nach dem Ernten stattfand und der im wesentlichen im gemeinsamen Herunterbeten von Losungen bestand, die so perfekt abgespult werden konnten, weil sie von klein auf im Stammhirn verankert zu sein schienen.

Falls herauskam, dass die beiden sich drückten, würden sie sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen. Da aber fast fünfhundert Jugendliche in ihrem Ernteabschnitt arbeiteten, konnten sie Glück haben und nicht auffallen.

„Morgen bringen sie alle Frauen und Kinder an die Küste.“ hatte Kim geflüstert.

„'Landgewinnung', steht im Marschbefehl“, fuhr sie fort. Sie hatten eine Weile geschwiegen.

„Und mich holen sie bestimmt bald zum Militär“ hatte Silvio gebrummt. „Wenn sie mich kriegen...“

Sie lagen aneinander geschmiegt Seite an Seite am Rande des Feldes auf einem Bett aus Plastikplanen und betrachteten die Sterne. Sie strahlten wie jede Nacht hell, weil es im Land kaum Industrie und so gut wie keine Fahrzeuge gab, deren Abgase den Himmel hätten trüben können.

Sie wussten, dass es ein ziemlich großes Risiko, sich hier vor der Arbeitskolonne zu verstecken. Wahrscheinlich würden jetzt alle nach dem Unterricht in der Kantine beim Essen sitzen und alberne Propagandalieder singen. Dieser Moment hier gehörte ihnen ganz allein, und sie würden sich ihn von niemandem stehlen lassen.

Mit der Unschuld der Ahnungslosen und dem Eifer der Gelegenheitsarmen hatten sie sich im Schutze der Dunkelheit zwischen den Spargelwällen geliebt. Morgen würden sie getrennt. Kims Gesicht, ihre Stimme, ihren Körper, ihren Geruch – Silvio wollte nichts vergessen. Er wollte sie wiedersehen.

Kim war sofort in den hageren und auf sanfte Art rebellischen Silvio verschossen, der so anders als die eingeschüchterten Jungs im politischen Unterricht war, die auch bei den absurdesten Behauptungen des Politischen Leiters nicht den geringsten Anflug von Geringschätzung zeigten.

Vor dem Morgengrauen küssten sie sich ein letztes Mal und schlichen zurück in ihre Baracken.

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