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Rekruten
ОглавлениеWar er nicht schon tot? Hatten sie ihn nicht vor langer Zeit erschlagen, und war er nicht hinabgesunken auf den Grund des Meeres, wo das Böse wohnte? Sie hatten sich geirrt. Der Leviathan erwachte mächtiger als je zuvor. Übermütig hatten sie ihm neues Leben eingehaucht.
Es schneite. Silvio beobachtete, wie sich das Porträt des Vorsitzenden vom westlichen Ende des riesigen Aufmarschplatzes näherte. Es war mit einem Gestell auf einem klobigen Militärlaster befestigt. Bald konnte Silvio das feiste Präsidentengesicht mit dem fleischigen Mund erkennen, um das Schneeflocken tänzelten. Die fanatischen hellblauen Äuglein des Vorsitzenden blickten unter einer großen Offiziersmütze hervor. Eine Ecke des Porträts zierte Trauerflor. Der Fotograf musste die Aufnahme vor langer Zeit gemacht haben, denn der Verblichene, der hinter seinem Porträt auf dem Lastwagen in seinem kupfernen Sarg lag, wirkte hier so viel kraftvoller und jünger als bei seinen letzten seltenen Auftritten in der Öffentlichkeit. Der Blick des Vorsitzenden war durchdringend und schien dem Betrachter unablässig zu folgen.
Gelegentlich konnte Silvio Musikfetzen eines getragenen Marsches der Militärkapelle hören, die den Leichenzug begleitete. Mit der Musik drangen vereinzelte Schluchzer aus der Menschenmenge herüber, die sich in geometrischer Präzision auf dem Aufmarschplatz versammelt hatte.
Silvios Füße und Gesicht waren taub vor Kälte. Sein Gewehrriemen schnitt ihn in die Schulter. Die Wagenkolonne schwarzer gepanzerter Funktionärskarossen, die dem Sarg folgte, war jetzt noch etwa 500 Fuß entfernt. Silvio würde hier noch Stunden mit seinen Kameraden reglos stehen müssen.
Um vier Uhr früh hatte der Hauptmann das Wachregiment 'Sonnentau' mit dem 'Gruß an den Gütigen Führer' wecken lassen, einer Ode an den Herrscher des Landes, die heute wie an jedem Morgen aus den Lautsprechern der riesigen grauen Kaserne schepperte.
„Euch mache ich Beine, wascht Euch, Ihr Arschlöcher! Wagt es nicht, stinkend vor die Leiche des Gütigen Führers zu treten!“ hatte Zugführer Scholz gebrüllt.
Mit einem seit früher Kindheit eingeübten gleichmütigen Gesichtsausdruck war Silvio mit den anderen Soldaten in den Waschraum gerannt. Stumpf vor Müdigkeit und Kälte wuschen die Rekruten ihre bleichen knochigen Körper. Wie jeden Morgen schaute Silvio auf das bröckelnde Kachelmosaik an der Stirnwand. Es stellte einen grimmigen Soldaten mit muskulösem freiem Oberkörper dar, dessen Sturmgewehr in seinen kräftigen Händen zu verschwinden schien. Der sonnengegerbte Mosaiksoldat – dessen linke Wange fehlte, weil die Kachel, die sie abbilden sollte, herausgebrochen war - stürmte einem Dutzend feindlicher Soldaten hinterher, die nur als krumme, dunkle Silhouetten vor einem rotem Sonnenaufgang zu erkennen waren.
Nach dem Waschen trotteten die jungen Wachsoldaten müde in ihre Stuben zurück, um ihre Paradeuniform anzuziehen. Keiner von ihnen war unter 5 1/2 Fuß groß. Damit galten sie in Neoland als wahre Hünen. Alle waren seit mindestens sechs Monaten bei der Armee.
In der Stube angekommen nestelte Silvio mit morgensteifen Fingern die Aluminiumknöpfe seiner Uniform zu und erinnerte sich daran, wie er und seine Kameraden vor knapp einem halben Jahr Jahren direkt nach der Erntezeit von Militärpolizei festgenommen worden war. Mit drei Dutzend anderer junger Männer waren sie auf offener LKW-Pritsche in die Provinzhauptstädte gefahren worden.
Während sie schwankend auf der Ladefläche des altersschwachen 'Heimat'-LKW standen, ahnten sie, dass dies eine der berüchtigten 'Sonderrekrutierungen' war. Alle eingefangenen Jungen – freiwillig meldeten sich nur Dummköpfe oder Verzweifelte zum Militär - waren auffällig groß.
Jetzt – Monate später - waren die jungen Soldaten längst nicht mehr so dürr wie bei ihrer Zwangsrekrutierung. Dank der Sonderrationen des Wachregiments waren sie kräftiger geworden. Hier im Wachregiment gab es weitaus bessere Verpflegung als beim Rest der Armee – mit Ausnahme der Luftwaffe, wo sie noch besser war. Die Soldaten bekamen mehr und vor allem regelmäßiger zu essen als die Leute in den Dörfern - ganz zu schweigen von den Bewohnern der Ruinenstädte.
Silvio, den sie im Dorf nur 'Lulatsch' nannten, erinnerte sich, wie sie ihn hinter dem Stall erwischt hatten. Die Militärpolizisten hatten ihn grob gepackt und ihn hoch zu den anderen zerlumpten Gestalten auf dem Laster geprügelt, nicht ohne zwei ausgemergelte Ziegen, aus dem Besitz von Silvios Familie für den Eigenbedarf ins Führerhaus zu zerren. Silvios Vater hatte protestiert, aber die Militärpolizisten hatten ihn rücklings in eine Pfütze neben dem Stall gestoßen. Das letzte, was Silvio von seinem Vater gesehen hatte, war, dass er im Schlamm lag und die Soldaten ihm einen Gewehrlauf an den Kopf hielten.
Während sie sich an den Bracken der schaukelnden Ladefläche und an einander festhielten, mussten die Rekruten das 'Lied der kleinen Hagebutte' singen. Schon die Vierjährigen trugen es den Soldaten am 'Tag der Heimat' vor. Jeder leierte das Liedchen bis zum Erwachsenenalter wohl mehrere tausende Male herunter, ohne auch nur je einen Gedanken auf den kaum glaubhaften Inhalt zu verschwenden, der in endlosen Strophen den Heldentod einer Fünfjährigen beschrieb. Der Unteroffizier des Greiftrupps linste immer wieder mal vom Beifahrersitz durch das vergitterte Guckloch hinter ihm. Er achtete darauf, dass jeder zum Gesang die Lippen bewegte und grölte begeistert den Refrain in seinen tarnfleckbraunen Handlautsprecher, den er zum Wagenfenster heraus hielt. Silvio gelang es, unbemerkt mit seinem Nebenmann zu flüstern.
„Wo haben sie dich erwischt?“ fragte er ihn. Der Angesprochene blickte aus den Augenwinkeln vorsichtig nach dem vergitterten Fensterchen, ohne den Kopf zu bewegen.
„Gar nicht. Die Drecksäcke haben alles durchsucht, aber sie haben mich nicht gefunden. Aber dann hatten sie meine Mutter...“, antwortete er. Er zuckte resigniert mit den Schultern.
„He, Ihr da vorne! Maul halten!“, brüllte der Unteroffizier, der genau in diesem Moment durch sein Guckloch geschaut hatte.
Der Laster und der Jeep mit den vier Feldgendarmen, der ihm als Begleitfahrzeug folgte, erreichten rumpelnd das Nachbardorf. Hier wie überall im Land kündeten riesige Transparente von der Überlegenheit des Gesellschaftssystems, warnten vor den grausamen Feinden der Nation, den Saboteuren, den Vernichtern der Lebensmittel, den Verderbern der Jugend und vor den Fremden als solchen.
'Euer Einsatz, Euer Wohlstand!' versprach ein zwanzig Fuß breites und fünf Fuß hohes Plakat, auf dem kleines Mädchen dem 'Gütigen' einen Blumenstrauß überreichte.
Der Jeep mit den vier Häschern hielt vor einem Gehöft. Drei der Feldgendarmen schulterten ihre Maschinenpistolen und verschwanden im Gebäude. Nach einer Weile erschienen sie vor dem Tor und stießen einen weiteren großgewachsenen Jungen mit den Gewehrkolben vor sich her. Auch er musste auf die Ladefläche klettern. Über Feldwege holperte der Konvoi zur Dorfstraße zurück. Sie war von Schlaglöchern übersät, zu denen sich wie in jedem Winter neue hinzugesellt hatten.
Der Fahrer musste bremsen. Die Rekruten hörten ihn fluchen. Ein Pferdekadaver, der aufgedunsen auf der Straße lag, versperrte den Weg. Ein Rudel Hunde stritt mit einem Pulk Krähen um die dunklen Fleischfetzen, die an der Karkasse klebten. Alle Augenblicke stob ein schwarzer Fliegenschwarm von der Pferdeleiche auf. Die Krähen ließen sich von der kläffenden Meute nicht den Schneid abkaufen. Die dreisteste von ihnen krallte sich im Kopf einer Töle fest und hackte ihr in die Augen. Jaulend suchte der Hund mit dem Rest der Meute das Weite.
Die Rekruten mussten absitzen. Bewacht von den Feldgendarmen knoteten zwei von ihnen ein Seil um die Hinterbeine des toten Gauls. Drei weitere Rekruten saßen ab. Mit vereinten Kräften zogen die Soldaten das Pferd von der Straße. Ein Soldat griff mit den Händen in den offenen Bauch des Tieres und zerrte den langen Darm heraus. Dann schnüffelte er in der offenen Bauchhöhle und winkte angewidert ab. Das Fleisch war ungenießbar, denn der Körper war bereits in Fäulnis übergegangen. Der Konvoi setzte die Fahrt fort.
Bald lag das Dorf hinter ihnen. Unter bräunlichem Gras und Gestrüpp lag die Winterlandschaft wie unter einer schmutzigen Decke. Der Konvoi passierte die lustlos abgeernteten Felder, die großflächig mit schwarzen Plastikplanen zugedeckt waren, die angefroren aus Eispfützen ragten.
Wie gefesselt starrte Silvio auf ein riesiges nagelneues buntes Propagandaplakat mitten in dieser graubraunen Einöde, auf dem ein vor Gesundheit strotzendes Mädchen für den Jugendbund warb. Es strahlte mit unnatürlich weißen Zähnen und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Betrachter. Dabei legte es seine rechte Hand in Höhe des Herzens auf die üppige Brust. Halb von dem Mädchen verdeckt stemmte ein Jüngling die muskulösen Unterarme in die Hüften und blickte entschlossen in die Ferne.
„Hast Du eine Freundin?“ fragte der Nachbar Silvio halblaut, der Silvios Blick bemerkt hatte, ohne ihn anzusehen. Silvio den Blick zum Horizont wandern. Er sog den Winter in die Nase, der nächsten Monat wie jedes Jahr von einem Augenblick auf den anderen enden würde. Die Frage des Kameraden riss ihn aus seiner trüben Stimmung.
„Ja“ antwortete er, obwohl das diesen Kerl nach Silvios Ansicht gar nichts anging, aber irgendwie tat es trotzdem gut, wenn jemand fragte.
Niemand wusste, wohin die Reise gehen würde. Die Häscher hatten ihnen jedenfalls nicht gesagt, in welche Gegend es ging. Es war auch nicht sicher, wie lange der Militärdienst dauern würde. Es konnten ein paar Monate sein, aber auch Jahre. Neoland war im Krieg, und nichts war so sicher in Neoland wie die Unsicherheit.