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Zettel

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In einer schäbigen Kaserne tief in Neoland erwachte Silvio mitten in der Nacht vom schrillen Pfiff eines vermutlich betrunkenen Wachoffiziers, denn auf den Pfiff folgte ein unverständliches zorniges Gegröle, das in den kahlen Kasernenfluren widerhallte. Der Wachoffizier war betrunken, weil Wochenende war, und die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften in der Kaserne bleiben mussten. Was gab es anderes zu tun, als sich volllaufen zu lassen, wenn zweihundert Soldaten in braungrauer Uniform ihr Wochenende zusammengepfercht verbringen mussten? 'Großes' stand bevor, hatte Scholz behauptet. Was es war, hatte er wie immer nicht gesagt. Das machte es in den Augen des Wachoffiziers nicht besser.

Silvio versuchte sich blinzelnd in der Dunkelheit der Soldatenstube zurechtzufinden. Da standen drei Dreistockbetten, in denen acht Kameraden unruhig schnarchten. Fast durchgängig war ein Quietschen zu vernehmen, wenn ein Soldat sich im Bett herumdrehte, im vergeblichen Bemühen, auf der daumendünnen Pferdehaarauflage ein weiches Plätzchen zu ergattern oder ein regelmäßiges Wimmern der stählernen Bettfedern, wenn einer der der Rekruten masturbierte. Also quietschte es im Grunde immer.

Der Federstahl des Bettgestells stach nach wenigen Minuten durch die Matratzen und machte den Schlaf unruhig und leicht. Der ständige Schlafentzug fiel unter 'Abhärtung', führte aber nur dazu, dass die Soldaten ständig übermüdet ihren Dienst taten. Einschlafen während des Dienstes galt jedoch als Vergehen und wurde mit Streichen der Essens- und Schnapsration für die gesamte Stube für einen ganzen Tag bestraft. Der Eingeschlafene büßte seine Verfehlung doppelt, wenn die Kameraden ihn nachts zur Vergeltung mit Seifenstücken grün und blau schlugen, die sie in nasse Handtücher einwickelten. Diese Strafe, der sogenannte 'Seifenmann' fiel unter den Begriff 'Erziehung zur Kameradschaft'. Neben dem 'Seifenmann' existierten noch der 'Pissmann' und der 'Altölmann'.

Zugführer Scholz ließ die Soldaten vor der Baracke antreten. Er war um die vierzig, groß und massig und hatte ein ungemütliches Gesicht mit flacher niedriger Stirn und einem kurzgeschnittenen Vollbart, der in eine graue, sehr kurze Stoppelfrisur überging, die je nach Lichteinfall glänzte wie ein Rattenpelz. Scholz' Arme wuchsen aus breiten Schultern und endeten in schaufelartigen Händen mit kurzen dicken Fingern. Er trug Stiefel aus echtem Leder, die ihm bis ans Knie gingen und die er - wie man munkelte - einem toten Terrafranca-Soldaten abgenommen hatte. Sein linkes Auge wirkte wie ständig aufgerissen, seit ihm bei einer Rauferei das Lid abhanden gekommen war. Seine Eckzähne waren mit Silberblech überkront.

Scholz' Frau war bei der Geburt des sechsten Kindes gestorben. Seine Kinder wurden seither in der Kinderkaserne aufgezogen. Scholz hatte sie seit Jahren nicht gesehen.

Sein Zuhause war das Militär, aber er soff gegen die Verzweiflung an, wenn er an seine tote Frau und seine Kinder dachte, die irgendwo ihr Dasein fristeten. Mit seiner dunklen kehligen Stimme befahl Scholz die jetzt Männer auf die Ladeflächen von fünf Militärlastern, die mit nagelnden Dieselmotoren bereits vor der Kaserne warteten. Blauschwarze stinkende Auspuffschwaden lösten sich träge in der kalten Winterluft auf.

Wie beim Militär zu allen Zeiten üblich wurde zu allen Gelegenheiten 'Singen' befohlen. Ein Marschlied auf den Lippen setzte sich die Kompanie schlaftrunken in Bewegung. Scholz brüllte, dass es 'zur Küste' ginge und 'gefälligst lauter' gesungen werden müsste.

„Lauter, Ihr Säcke!“

Bei dem Wort Küste spürte Silvio ein freudiges Kribbeln, schließlich hatte Kim denselben Weg genommen.

Silvio war außer zur Spargelernte kaum aus seinem Dorf herausgekommen und konnte sich unter der Küste nicht viel vorstellen. Im einzigen Lehrbuch, das die Volksschüler erhielten, dem 'Band der Heimat' hatte er einmal eine Schwarzweißzeichnung gesehen, auf der Fischer in ihren Booten am Strand Netze flickten. 'Kameraden der Nordsee' hatte das Bild geheißen, hatte der Lehrer gesagt. Ihm war klar, dass dies zur Orientierung kaum reichen würde. Aber er würde Kim finden.

Je acht Soldaten nahmen auf jeder Seite der überplanten Ladefläche auf Holzbänken Platz. Bald rumpelten die Laster über die Straße aus hartgefrorenem Lehm Richtung Norden. Der Konvoi fuhr durch Ortschaften, die von ihren Bewohnern aufgegeben worden waren, durch Städte, die diese Bezeichnung nicht mehr verdienten, in denen fensterlose dunkle Löcher aus Ruinen auf die Betrachter starrten und durch Wälder, die so dicht und dunkel waren, dass man nur mit dem Kopf im Nacken oben über den Baumkronen kleine Himmelsfetzen erkennen konnte.

Nach Stunden erreichte die Kolonne einen stillgelegten Industriekomplex. Trotz der Kälte stieg nirgendwo Rauch aus einem der brüchigen Schornsteine auf. Die Ruine, die mit ihren Röhren, die sich rostig zu Hunderten über das Gelände schlängelten, einmal eine riesige Chemiefabrik gewesen sein musste, reckte sich in den kalten Morgenhimmel. Ein Dutzend Krähen betrachteten auf einer Mauer hockend neugierig die Karawane. Eine flog auf und schiss dabei einen gewaltigen weißen Klecks, der an der Scheibe der Fahrertüre eines der Laster landete. Bald breitete sich wieder rechts und links der Straße undurchdringlicher Wald aus.

Eines der wenigen Lebenszeichen kam von einem Rudel Hunde mit räudigem Fell und teils grotesken Verstümmelungen, die fast zwei Meilen hinter der Wagenkolonne her rannten und kläfften, was ihre ausgemergelten Körper hergaben. Es war nicht ungefährlich, diesen Rudeln schutzlos zu begegnen, da die Tiere wegen des ständigen Hungers jede Beißhemmung verloren hatten und sogar übereinander herfielen.

Silvio dachte an die kleine Jette aus seinem Heimatdorf, die eines Tages nicht vom Brennnesselsammeln zurückgekehrt war. Ein Suchtrupp hatte abends nur noch ein Zopfband, ein Kettchen und Knochen mit Bissmarken gefunden.

Die Landschaft war jetzt flach und frei. Bis zum Horizont war nichts als braunes frostiges Gras und Gestrüpp zu erkennen. Hier war lange nichts angebaut, geschweige denn geerntet worden.

'Das Volk liebt seine Soldaten' behauptete ein Transparent, das froststarr zwischen zwei der Betonmasten hing, die die Landstraße säumten und die alle 600 Fuß mit Lautsprechern bestückt waren. Aus ihnen blökten normalerweise unablässig Lieder und Weisungen der Partei. Offenbar hatte die Kälte aber die Elektrik außer Betrieb gesetzt. So war es gegen jede Gewohnheit still.

Am Straßenrand tauchte eine Gruppe junger Frauen auf, die mit geschulterten Hacken nach Norden trotteten. Eine Ältere mit geplatzten Äderchen an Wangen und Nase war die Anführerin. An der einen Hand zog sie ein fleckiges Arbeitspferd an einem Strick hinter sich her, dessen Schulterblätter unter der Kruppe mitleiderregend hervorstachen. Die andere Hand ruhte locker auf einem Revolver, den sie auf Taillenhöhe um ihren abgeschabten Mantel in einem Holster trug.

Da sie bewaffnet war, musste sie der Capo sein. Vermutlich waren die Frauen auf dem Weg zu irgendeiner Zwangsarbeit.

„He Kameraden, anhalten“, mit erhobener Hand winkte sie dem Fahrer des Leitfahrzeugs zu. Abrupt stoppten die Laster, so dass die Soldaten, die nichtsahnend auf der Ladefläche unter der Plane gesessen hatten, fluchend übereinander purzelten. Die Kolonnenführerin wechselte ein Paar Worte mit dem Fahrer. Dann band sie ihren Klepper an die Bracke des LKW und verschwand kichernd in dem verbeulten mit Tarnfleck bemalten Führerhaus. Unter dem Gejohle der Soldaten stiegen die jungen Frauen auf die Ladeflächen und quetschten sich mit gespielter Unbeholfenheit zwischen die jungen Soldaten. Bald setzte die Kolonne ihre Fahrt mit Rücksicht auf den hinterher trottenden Gaul etwas langsamer fort. Im letzten Laster begann eine angeregte Unterhaltung zwischen Mädchen und Rekruten.

„Wo wollt Ihr denn mit Euren Hacken hin?“, fragte einer der Soldaten seine neue Nachbarin nach kurzer Zeit.

„Keine Ahnung - wahrscheinlich Rüben hacken, vielleicht auch etwas anderes. Schwachsinnig, weil der Boden steinhart ist“, maulte eine kesse Schwarzhaarige und blickte dem Soldaten direkt ins Gesicht.

Silvio spürte, wie sein Schwanz steif wurde.

„Hier kannst Du schonmal was Steinhartes anfassen“, sabberte der Soldat neben Silvio, ein Typ mit schadhaftem Gebiss und stierem Gesichtsausdruck. Der Rekrut beugte sich zu der jungen Frau und versuchte, ihre Hand zwischen seine Beine zu drücken. Silvio schüttelte den Kopf.

„Behalt' deine Griffel bei dir, Wichser!“ Eine Blonde, zwei Sitze weiter, brüllte den Grabscher an und traf ihn mit ihrem Hackenstiel hart an der Schläfe. Mit einem Ächzen sackte der Aufdringliche auf den Boden des Lasters.

„Hab' Dich nicht so. Der kannte bis heute nur seine Ziegen und seine rechte Hand!“ rief ein Soldat. Unter Lachen und Gejohle ging die Fahrt weiter.

Die Frauen hatten schmale Gesichter und kaputte Zähne. Die Haut an ihren Händen war aufgeplatzt und die Wangen grindig. Wahrscheinlich waren die Frauen in diese menschenleere Gegend verbannt worden, weil sie sich irgend etwas Läppisches hatten zu schulden kommen lassen. Vielleicht hatten sie die Sperrstunde missachtet, waren zu spät zur Arbeit erschienen oder hatten vergessen, eines der Doppelporträts oder der Landesflaggen nach Vorschrift zu grüßen und waren denunziert worden. Die Flaggen erinnerten an den 'Großen Aufstand' – und wie von den Bildern des Vorsitzenden und seines Sohnes es gab nicht eben wenige davon in Neoland. Vielleicht waren sie aber auch rein zur Abschreckung verhaftet worden, wie es seit einigen Jahren üblich war. Niemand traute sich zu fragen.

Trotz des jämmerlichen Anblicks, den die Frauenkolonne bot, waren die jungen Männer sofort elektrisiert vom Duft der Mädchenkörper und dem Klang ihrer Stimmen. Dünn besiedelt wie Neoland war, begegneten Menschen einander ohnehin selten. Junge Mädchen und junge Männer selbstverständlich noch seltener.

Alle Jugendlichen mussten den Massenorganisationen beitreten, in denen streng darauf geachtet wurde, dass sich die Geschlechter nur unter Aufsicht trafen. Sauertöpfisch dreinblickende Funktionärinnen angetan mit den für sie viel zu jugendlichen Uniformen des Bundes schlichen bei diesen Anlässen lügnerisch lächelnd von einem zum anderen Grüppchen und horchten auf die Gespräche, die mit dem Näherkommen einer dieser Wachteln im Handumdrehen einen unverdächtigen Gegenstand annahmen.

Umso ekstatischer fielen zufällige Begegnungen wie diese im Militärlaster aus. Rasch hatten sich auch in den vorderen beiden Lastwagen Pärchen gefunden, die heftig mit einander knutschten und sich gegenseitig befummelten und schließlich mit einander unter den Augen aller anderen sogar vögelten. Gelegenheiten wie diese ließ sich trotz des Verbots niemand entgehen, beschränkten sich die sexuelle Erfahrung der Jugend doch auf gelegentliches Missbrauchen wehrloser Geschöpfe wie Hühner, Ziegen, Hunde oder Schafe sowie auf Masturbation.

Rekruten – wie die erwachsene Bevölkerung überhaupt - konnten in sexuellen Dingen auf eine gewisse Narrenfreiheit setzen. Wie in allen Diktaturen waren Suff und Sex die Ventile, die das Regime geöffnet hielt und kaum regulierte.

Selbst die Spitzel, die eigentlich immer da anzutreffen waren, wo mehr als fünf Personen zusammenkamen, musste man in diesem Fall nicht fürchten. Sogar die furchterregenden Feldgendarmen drückten Alkohol und Sex ein Auge zu. Zwar hielt die Staatsführung offiziell das Ideal der Keuschheit hoch, huldigte aber andererseits dem Ideal ungezügelter Fruchtbarkeit.

„Wenn eine starke Nation heranwachsen soll, muss man der Natur ihren Lauf lassen“, war eine der Weisheiten der Partei. Der Gütige Führer hatte sich zu Lebzeiten bei öffentlichen Auftritten stets mit Kindern umgeben und in seinen Reden unablässig die heilige Aufgabe der Frau gepriesen, die höchste Erfüllung darin fände, Partei und Volk reichlich Kinder zu schenken.

Jedes überlebende achte Kind einer Familie durfte darum auf die Patenschaft des ersten Mannes von Neoland und auf zahlreiche Privilegien hoffen, von denen das beste die Befreiung vom Militärdienst, das zweitbeste die Sicherheit vor Verhaftung war.

An einem Militärposten hielt die Kolonne. Zugführer Scholz ließ die Frauen aussteigen. Unauffällig drückte die Blonde, die Silvio während der Fahrt unablässig angestarrt – und die seinen Blick gelegentlich erwidert hatte, Silvio einen eng zusammengefalteten Zettel in die Hand.

„He Langer“, flüsterte sie. „Du hast ein gutes Gesicht und scheinst nicht so ein Schwein wie Deine Kameraden zu sein. Nimm den Zettel und bring ihn dem Widerstand. Wir sind in Lebensgefahr.“

'Widerstand?' Silvio durchzuckte es wie ein Blitz. Trotz der Kälte fing er an zu schwitzen. Gab es sie also doch, die 'Aufsässigen', die angeblich den Umsturz planten und den Vorsitzenden und seinen Sohn umbringen und eine neue Ordnung errichten wollten? Wie sollte ausgerechnet er, der außer seinem Dorf nichts kannte, Kontakt zum Widerstand bekommen? Unauffällig ließ Silvio den Zettel in der Beintasche seiner Uniformhose verschwinden. Silvio hoffte, dass unter den Aufsässigen jemand war, der lesen konnte. Er selbst hatte es nie richtig gelernt.

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