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Terrafranca
Оглавление„Merda!“, fluchte Olsen. Er hasste die Unerbittlichkeit, mit der der Transluzender am Deka genau um 32.400 Sekunden angelegt werden musste. Das Ding nervte und schmerzte, und er hatte wirklich besseres zu tun. Grob schob er Lara zu Seite, die sich neben ihm im Bett räkelte und ein Bein über ihn geschlagen hatte.
„Noch 20 Sekunden“ flüsterte Lara etwas atemlos und klemmte stöhnend das Gerät wieder an. Olsen tat es ihr gleich. Er hasste diese Prozedur.
Im Grunde war es ja sehr bequem, sich nicht selbst um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse kümmern zu müssen. Der Marketing-Senat erledigte alles, indem er den freien Kräften des Marktes – in diesem Fall den individuellen Wünschen, die der Transluzender automatisch aus dem Frontalkortex und den Schleimhäuten der Menschen auslas - alles überließ. P.C. - „panem es circensis“ (Brot und Spiele) war das vom römischen Vorbild übernommene Motto. Selbst bei der Partnerwahl wurde nichts dem Zufall überlassen, weil man am Transluzender einfach den sogenannten 'Pirsch-Modus' einstellen konnte. Ohne lästiges Geplänkel, ohne zeitraubendes Gebalze, kamen so Männer mit Frauen, Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen und Männer mit Männern in Kontakt und ohne Umschweife zum Ziel.
Sobald man auf jemanden traf, dessen Vorlieben den eigenen entsprachen, blinkte, summte und vibrierte das Gerät. Die Auswertungsalgorithmen waren immer weiter perfektioniert worden. Schließlich sonderte jeder Einwohner, wo er ging und stand, konsumierte, kopulierte, entspannte oder verdaute, eine Unsumme von Daten ab, die die der Marketing-Senat unablässig analysierte.
Was immer es auch sein mochte – welches Angebot eines Unternehmens jemand angenommen, angesehen oder ignoriert, welche Veranstaltung er besucht und wie sehr oder wenig begeistert er oder sie davon gewesen war – alle Regungen wurden mit Hilfe ausgeklügelter Rechenoperationen kontinuierlich, unauffällig und effektiv aufgezeichnet und ausgewertet und bildeten in ihrer ungeheuren Summe die Grundlage für alle Entscheidungen die der Marketing-Senat, das Führungsgremium des Staates, traf.
Die Peinlichkeitsschwelle lag hoch in Terrafranca. Auf die Privatsphäre zu achten, galt als rückschrittlich. Olsen war es dennoch eindeutig lieber, seine Partnerinnen, die er regelmäßig und in kurzen Abständen wechselte, aus eigener Kraft zu erobern. Regelmäßig kamen E-Mails und sogar Briefe des Marketing-Senats, in denen er aufgefordert wurde, endlich den Gedankenverbesserer zu nutzen. Gelangweilt löschte er die Werbe-E-Mails, die ihm die Vorteile des bestehenden Systems in aufwendig zusammengestellten Filmchen nahebringen wollten. Wenn er diese einmal wieder ignoriert oder gelöscht hatte, quäkte aus jedem Lautsprecher, in dessen Nähe er geriet, tagelang der Präferenzer-Jingle - eine unerträgliche süßliche Melodie, wie Olsen fand. Das Internet verfolgte ihn mit Präferenzer-Werbeeinblendungen, und wie zufällig patrouillierten hübsche Präferenzer-Promoterinnen vor seinem Wohnblock, lächelten strahlend und wackelten mit Po und kaum verhüllten Brüsten. Es war ein Spielchen, bei dem es darum ging, die Nerven zu behalten. Olsen versuchte deshalb, diese Belästigungen zu ignorieren. Der Senat konnte ihm nicht wirklich gefährlich werden. Diese Leute brauchten ihn schließlich mehr als er sie, das wusste Olsen.
Sein überbordendes Selbstbewusstsein verdankte er nicht zuletzt einer hervorragenden Ausbildung. Auf Anraten eines Onkels hatte Olsen während seines Tennis- Golf- und Polostudiums an der Leisureluxury-University in Kopenhagen, das in einer merkwürdigen Mischung aus Antike und Moderne inzwischen 'Terrafranca-City' hieß, einige Semester Medizin belegt. Schließlich hatte er sich für die Pathologie entschieden.
Es war weniger das Zerlegen der Körper oder das Untersuchen der Todesursachen, das ihm zusagte, als vielmehr die paradiesische Ruhe im Sektionssaal. Hier war einer der wenigen Orte, an denen man für sich sein konnte, wo man Abstand gewann zum unablässigen geschäftigen Konsumieren und Kopulieren im Lande.
Es war, als ob auch die Toten die knapp bemessene Ruhe vor dem letzten und lärmenden Akt des Beerdigungsrituals genössen. Denn, nachdem der tote Körper nach römischer Sitte von den Verwandten rasiert, gebadet und parfümiert worden war, wurde er mehrere Tage aufrecht sitzend in der Öffentlichkeit in einer Sänfte herumgetragen. Es war wie ein Zwang. Mit dem Eintritt des Todes wurde dieser sofort verdrängt. In der Trauer sollte alles an das Leben des Toten erinnern, nicht an sein Ende. Nach einer Trauerwoche, in der die Hinterbliebenen einen schwarzen Flor tragen durften, wandte man sich wieder dem Leben zu und die vulgäre Geschäftigkeit des pseudorömischen Alltags begann von neuem.
Der Sektionssaal aber war kühl, sachlich, medienfrei und auch die Autopsiegehilfen – vierschrötige Gestalten, die emotionslos mit Brustmeißel und Schädelsäge an den Leichen hantierten und bei denen es sich zum großen Teil um Arbeitssklaven aus Neoland handelte – sprachen selten und nie lauter als unbedingt nötig. Der tote Körper waren Olsen immer als die letzte Zuflucht vor einer allzu lärmenden Gesellschaft erschienen. Abgekoppelt vom Datenstrom lagen die Leichen friedlich da und warteten auf letzte Verwertung. Denn selbstverständlich durfte in Terrafranca nichts vergeudet werden. Seine Arbeit als Pathologe hatte er wegen seines neuen Jobs aufgegeben und betrat nur noch gelegentlich einen Sektionssaal.
Olsen schlurfte in die Küche und kehrte mit zwei Orangeaden ins Schlafzimmer zurück. Der Raum war vollständig auf Olsens promisken Lebensstil zugeschnitten. Ein weißer flauschiger Teppich arbeitete sich zu einem Podest hoch, auf dem sich das breite Bett samt ebenfalls weißer seidener Wäsche befand.
In Regalen rechts und links reihten sich unzählige Flakons mit Lotionen, Wässerchen und Tinkturen für unterschiedlichste Zwecke aneinander. Der Raum war fensterlos. Pinkfarbenes indirektes Licht schmeichelte Laras Körper, die gerade gebannt eine der chirurgischen Morgenshows im Fernsehen verfolgte. Spätestens jetzt fühlte Olsen einen unwiderstehlichen Drang aufzubrechen.