Читать книгу Wie ein Stein im tiefen Wasser - Ian Malz - Страница 4

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Prolog

Drei Nächte dauerte der verheerende Kampf. Und waren es drei Nächte, so zählte man auch die Tage; Tage voller Zorn, Hass, Blut und Legionen von Römern; von toten Römern, die sich, so weit das Auge über Sümpfe, Hügel und Senken schauen konnte, in ihrem Blut wälzten oder einfach nur mit fassungslosem Blick aus toten Augen gen Himmel starrten.

Hermandum, von den Römern Arminius genannt, einst der große Verräter an seinem Volk, dem dieser Namen von seinen römischen Freunden zuerkannt worden war und die ihn in den Rang eines Offiziers erhoben hatten… - war dies alles nur sein von langer Hand vorbereiteter Plan? Hermandum, der Herr über unsere tapferen Männer? Über so viele Jahre hinweg? Großes Vertrauen hatte Varus in ihn. Ein so großes Vertrauen, dass Varus seinem Wunsche gefolgt war und mit seinen Legionen und Trossen in diese unheimliche, von Sümpfen, Feldern und Wäldern überwucherte Gegend gezogen war, um den vermeintlichen Zänkereien unter einigen Stämmen der Cherusker den Garaus zu machen, anstatt mit seinem Gefolge das sichere Winterquartier in Vetera aufzusuchen. Machthungrig und geldgierig wie Varus war, folgte er blind dem Wunsche seines Verbündeten Arminius. Arminius aber war und blieb doch Cherusker!

Drusus und Tiberius, die beiden Vorgänger des Varus, begannen die Stämme der Cherusker, Brukterer, Marser und Chatten mit all ihren Sippen zu unterwerfen. Varus folgte diesem vermeintlich leichten Unterfangen und wollte den Völkern zwischen Rhenus und Visurgis die römische Rechtsprechung aufbürden. Mit diesen Erfolgen hätte er in Rom bestimmt glänzend dagestanden und vielleicht, vielleicht wäre er der Cäsar geworden und hätte Augustus, diesen alten, unfähigen Mann, abgelöst. Während er sich um die Erweiterung des Römischen Reiches bis in den hohen Norden Sorge machte, vertrieb sich dieser Greis mit Namen Augustus die Zeit mit irgendwelchem Geplänkel in Rom oder er schickte seine Truppen gen Osten. Wozu? Dort war außer Sonne, Sand und ein paar Edelsteinen nichts! Aber hier, im kalten Teil der Welt, dort lagerte das ersehnte Erz tief in der Erde. Ohne Erz kein Eisen und ohne Eisen keine Waffen! Und ohne Waffen kein Sieg. Wenn erst einmal diese Völker, die nur wild vor sich hingrunzten und keinerlei Kultur besaßen, unter seinem Joch stünden, dann würde Rom schon sehen, wer der am weitesten vorausschauende, ja, wer der rechtmäßige Cäsar ist!

Nun lagen die Legionen da! Drei Legionen. An die zwanzigtausend Männer einschließlich der mit ihnen marschierenden Familien, die nach tagelangem Marsch durch unwegsame Wälder endlich eine große Lichtung zwischen zwei Waldgürteln erreichten.. Es war ein mühevoller Weg. Immer wieder mussten Bäume gefällt und Stege über Bäche und Flüsse gebaut werden, bis die Legionen schließlich ihr Ziel erreichten - den Ort, den Hermandum für seinen Hinterhalt ausgesucht hatte, weil der große Thing ihn für geeignet hielt.

Lange Diskussionen gingen dem Beschluss des Things voraus. War es doch nicht so einfach, alle Sippenfürsten von Hermandums’ Plan zu überzeugen. Trotz vieler kleiner Reibereien mit den römischen Besatzern, die mitunter auch für die einzelnen Stämme recht erfolgreich ausgingen, waren die Römer eigentlich zu mächtig und in ihrer Kriegskunst unübertroffen. Doch Hermandum hatte über Jahre hinweg die Kampfkunst der Römer erlernt. Vielen Sippen gab er Unterricht in der Art und Weise, wie sich die römischen Söldner auf dem Schlachtfeld zu bewegen wussten. Mit diesem Wissen war den Kriegern der Sippschaften klar geworden: auch die Römer waren verwundbar! Die vielen Köpfe der Feinde, die in den Wäldern an die Bäume genagelt wurden, zeugten von der tödlichen Verwundbarkeit dieser verhassten Eindringlinge.

Ja, dort, wo Hermandum die Truppen des Varus hinhaben wollte, nämlich in das Gebiet der Sümpfe und Wälder, dort konnten die Soldaten nicht ihre gefürchtete Kampfformation einnehmen, konnte die überlegene Reiterei nicht von den Flanken her angreifen. Auf offenem Feld hingegen hätten sie, die unterdrückten germanischen Stämme, auf verlorenem Posten gekämpft und das Martyrium wäre weiter gegangen. Hatten sie denn nicht schon genug verloren? Hermandum war der Heiling, ihm vertrauten die Stämme und stimmten seinem Plan zu. Aus dem Hinterhalt - die Sümpfe schnitten den Römern den Rückzug ab - würden Varus’ Truppen angegriffen werden, so bestimmte man.

Die Chatten und Marser kamen von Süden her, die Cherusker von Osten und die Brukterer von Norden und stürzten sich auf einige Kohorten, die gerade im Begriff waren, sich geeignete Wehranlagen aus Stämmen und Gräben zu schaffen, während der Großteil der Legionen den mühevollen Marsch durch die Wälder noch vor sich hatte.

Nun lagen sie da in ihrem Blut. Vermischt mit dem Blut vieler junger, unerschrockener aber auch zu stürmisch angreifender Krieger aus eigenen Stämmen.

Die Römer waren besiegt und wer noch von ihnen lebte, wurde in die Sümpfe getrieben, in denen sie qualvoll in ihren schweren Rüstungen versanken oder sie wurden gleich an Ort und Stelle Odin geopfert.

Drei Nächte und Tage dauerte dieses Gemetzel. Die gut ausgerüsteten, aber müden Legionäre hatten keinerlei Chance, diesen aus dem Nichts angreifenden Kriegern eine erfolgreiche Gegenwehr zu bieten. Viele von ihnen waren so entkräftet, dass sie sich kampflos ihrem Schicksal ergaben. Sie ließen sich vor den germanischen Kämpfern in den Morast fallen und erwarteten den erlösenden Hieb.

Nun stand Hermandum auf dem Hügel, auf dem sich Varus voller Verzweifelung in sein Schwert stürzte und hielt, schwer atmend, in der Linken eine Lanze, auf der ein eiserner Adler befestigt war, das Heiligtum dieser Römer, das, voller Stolz, den Kohorten, den Legionen voraus von ausgewählten und sich der Verantwortung dieser Ehre bewussten Soldaten getragen wurde.

Das Kampfgeschrei wich nach und nach einem ohrenbetäubenden Jubel, als die Germanen Hermandum dort oben mit dieser Trophäe stehen sahen. Die Krieger klopften mit den Schwertern auf ihre hölzernen Schilde oder aber auf die Rüstungen der toten, besiegten Feinde. Hermandum, unser Kriegsheil! Unser Siegheil! Fürst! Unser Heiling! Wie ein aus der Ferne sich androhender Sturm klangen der Jubel und das Gebrüll der Siegreichen. Donar muss mit ihnen gewesen sein! Wie sonst sollten die kleinen - wenn auch mächtigen - Kriegerstämme dieses Heer so vernichten können! Donar - unser Gott! Hermandum - unser Heiling!

Hat er seinem Namen wohl alle Ehre gemacht? Er hat gekämpft wie ein Wolf. Wie ein Wolf im Rudel seiner Sippe. Wulfila, so hat ihn sein Vater genannt. So nennen ihn alle. Der Vater seines Vaters hatte schon den Namen. Dessen Kraft wurde ihm übertragen - so erzählte man ihm. Nun hockt er da, immer noch schwer atmend, umgeben von Soldaten - von toten, blutenden und zerstümmelten Soldaten. Vereint mit den tapferen Mitgliedern seiner eigenen Sippschaft, die, Seite an Seite und sich gegenseitig schützend, kämpften, hieben, durchbohrten und von denen manch einer, im mutigen Kampf von einer Lanze oder einem Pfeil getroffen tot zusammenbrach oder schwer verletzt liegen blieb. So hat er tagelang und nächtelang gekämpft. Angst hatte er keine gehabt - oder doch? Blinde Wut und die Seite der Überraschung steigerte die Kampfeslust von Stunde zu Stunde und von einer Nacht zum anderen Tag. Sicher, auch wenn dieser Überraschungsangriff den Römern gleich zu Beginn herbe Verluste beibrachte, konnten sich doch viele kampferprobte Soldaten, die schließlich schon auf der ganzen Welt gefochten hatten, wacker und kraftvoll verteidigen. Am ersten Tag sah es fast so aus, als könne sich das Blatt sogar noch einmal wenden. Doch die immer wieder aus den Wäldern angreifenden Horden der verbündeten Stämme - und es wurden von Mal zu Mal mehr - ließen den Römern keine Zeit, sich zu formieren. Formation war in diesem versumpften, unwegsamen Gelände unmöglich. Hätten die römischen Soldaten mit ihren schweren Panzern und ihren Pferden besseren Halt unter den Füßen gefunden, wären Verteidigungs- und Angriffsstellungen möglich geworden, hätten die Katapulte und Speerwurfmaschinen eingesetzt werden können! Wer weiß!? Dagegen die Germanen: Mit bloßem Oberkörper - nur mit dem Schild und Schwert bewaffnet - waren sie auf dem morastigen Boden viel wendiger; konnten die Reiter auf ihren strauchelnden Pferden umlaufen und sie mit der Lanze erstechen oder aber zumindest solch schwere Verletzungen zufügen, dass sie von ihren Pferden stürzten. Auf der Erde liegend hatte dann der Soldat keine Möglichkeit mehr, sich zu wehren.

Wulfila hat mit vielen Römern gekämpft. Mutige, starke aber auch schwache Soldaten haben mit ihm das Schwert gewetzt. Wulfila war der Sieger aller Kämpfe. Wie viele es waren, kann er nicht mehr nachvollziehen. Seine Arme wurden von Hieb zu Hieb immer schwerer. Auch musste er sich immer wieder auf Baumstümpfen oder aber auf einem der toten Pferde ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen. Aber die Abstände zwischen den Zweikämpfen wurden immer länger und dann kam der Zeitpunkt, wo sie ganz abflauten, bis man nur noch hier und da Schreie von verletzten Kämpfern hörte. Ob es nun die der eigenen oder aber die der geschlagenen Kämpfer waren - wer konnte es wissen? Wulfila sollte mit den Angehörigen seiner Sippe Seite an Seite kämpfen, so wollte es Hermandum. Der Bruder seines Vaters - wie alle Männer dieser Familie ein Hüne mit derbem, kantigem Gesicht, doch freundlich blinzelnden, blassgrauen Augen - führte die Gruppe an. Bei ihm dessen drei Söhne, dem Vater fast wie aus dem Gesicht geschnitten; sie alle kämpften vereint mit den Brüdern, Onkeln und Väter derer Familien. Nicht selten wurde manch gefährliche Situation durch ein anderes Familienmitglied gelöst. Die sonst so geordneten, kampferprobten Römer schlugen in panischer Angst wild um sich und nicht selten griffen sie hinterrücks in Zweikämpfe ein, um ihrem Kameraden zur Seite zu stehen. Genau dies taten die verbündeten Familien auch! Wulfilas Sippe bekam den Auftrag, auf der kleinen Lichtung unweit des Hügels, auf dem Hermandum nun stand, die verdutzten Römer in die Zange zu nehmen. Man wartete, bis ein Großteil des Trosses an ihnen vorüber war und fiel diesem dann in den Rücken, wohl wissend, dass auf der anderen Seite des Waldes neue Kohorten nachrückten, die aufgrund der nun immer lauter werdenden Kampfgeräusche versuchten, seitlich aus den Wäldern hervor zu brechen. Aber dort standen die Chatten und warteten. Ein Rückzug war mit den schweren Wagen, Tieren und dem ganzen Tross auf den schmalen Wald- und Feldwegen nicht möglich! Wenn es denn überhaupt Wege gab! Der verzweifelte Kampf begann! Varus gab den Befehl, dass alle Wagen, mit denen die Vorräte transportiert wurden, zu verbrennen seien, damit sie nicht den Barbaren in die Hände fielen.

Tote gab es auch um Wulfila herum. Nicht nur Römer, auch Sippenmitglieder lagen dort in ihrem Blut. Doch beklagt wurden sie von den Männern nicht! Denn sie hatten es geschafft! Odin würde diese Opfer wohlwollend annehmen. Wenn die kampfesmüden Krieger sich erholt haben würden, würde jeder einzelne Tote zu seiner Familie gebracht, um dann, seiner Stellung in der Sippschaft entsprechend, würdig bestattet zu werden. Und eine würdige Bestattung bekam ein jeder. Trotzdem waren Lücken in die Familien gerissen worden, die - wenn überhaupt - nach einigen Jahren erst wieder geschlossen werden könnten.

Schwer geht Wulfilas Atem. Nun kauert er neben seinem letzten Gegner. Es muss wohl ein gleichaltriger oder ein wenig älterer Römer gewesen sein. Aber diese Gedanken kommen ihm erst viel, viel später, als er dem Römer den Helm vom Kopf zieht, um seinem Schwert freie Bahn zum Hals des Besiegten zu geben. Dunkle, kurz geschnittene, wenn auch blutdurchtränkte Haare kommen zum Vorschein. Das Gesicht - sicherlich einmal schön und markant - ist mit Hieb und Stichwunden übersät. Die größte Wunde aber hat der Soldat, der wohl schon eine höhere Position in der Hierarchie der Legion inne gehabt haben muss, am Hals. Wulfila hat sie ihm zugefügt. Verbissen haben beide gekämpft, bis der junge Römer rücklings über eine Wurzel stolpert und strauchelt. Wulfilas Schwert folgt der fallenden Bewegung seines Gegenübers. Eigentlich sollte der Hieb den Kopf treffen. Doch die Kraft versagt ihm und es wird nur ein Schnitt. Ein todbringender Schnitt durch die Halsschlagader. Mit schreckengeweiteten Augen lässt der Soldat daraufhin sein Schwert fallen und greift sich an den Hals. Im Rhythmus des Herzschlages pulsierend dringt das Blut durch die zusammengepressten Finger. Der junge Römer schaut mit glasigen Augen in den immer dunkler werdenden, von Wolkenfetzen durchfurchten Himmel. Langsam gleitet sein Blick zu Wulfila, der immer noch mit ausholender Gebärde sein Schwert kreisen lässt. An Wulfila vorbei starrt er nun in die Wolkenfedern, als sähe er dort Gestalten ihm zuwinken. Ein leichtes Zucken geht über sein Gesicht, so, als habe er eine Frage nicht verstanden oder aber so, als wolle er lächeln. Seine Lippen beginnen sich zu bewegen. Wulfila kann diese Worte nicht verstehen. Obwohl er weiß, dass diese Römer, die sein Land unterdrücken, sich mit ganz anderen Lauten verständigen als er und seine Familien, beugt Wulfila sich langsam, auf sein Schwert gestützt, zu dem im Todeskampf liegenden Soldaten herunter. Plötzlich ergreift der Römer Wulfilas Arm. Wulfila wundert sich noch über die Kraft dieses jungen Mannes und will schon wieder aufspringen, um mit einem Hieb diesem Treiben ein Ende zu machen, da spürt er, wie dieser erst so feste Griff sich lockert und fast streichelnd vom Oberarm bis zum Handgelenk herabrutscht. Sind dies Tränen in den Augen des Römers, die das Dunkelrot des Blutes in seinem Gesicht nun zu hellen Bahnen werden lassen? Die Hand des Soldaten rutscht von Wulfilas Handrücken herab und schlägt mit einem klatschenden Geräusch auf die gepanzerte Brust. Die Augen der beiden Kontrahenten treffen sich wieder. Als ob er seinem Bezwinger etwas mitteilen will, klopft der Römer nun ungelenk auf seinen Brustpanzer, da ihn seine Kräfte immer mehr zu verlassen scheinen. Mit dem Zeigefinger deutet er immer wieder, erst heftig, dann langsamer werdend, auf den Brustpanzer, die Augen immer auf Wulfila gerichtet in der Hoffnung, aus dessen Augen eine Bestätigung zu erhalten, dass dieser die Geste verstanden habe. Doch Wulfila sieht nur, immer noch kurzatmig, in diese dunklen, weinenden Augen. Was für ein Kämpfer! denkt Wulfila. Ein Kämpfer, der weint! Wie konnten die Römer mit solchen Weichlingen nur so stark werden?! Fast zufällig gleitet sein Blick über den blut- und dreckverschmierten Panzer hin zu dem immer noch auf die rechte Brust deutenden Finger. Dies waren eigentlich schon keine Bewegungen mehr. Der Finger klebte fast schon auf dem Eisen und bog sich nur noch, bis er abrutschte und die Hand seitlich in den Morast glitt. Wulfila blickt zurück in die leeren Augen, die durch ihn hindurchzublicken scheinen. Er steht mühsam auf. Die Wunden am Arm und an den Beinen und die vielen kleinen Schnitte auf der Brust und dem Rücken haben ihn doch wohl zu sehr geschwächt. Jetzt, wo ihn die Kampfeslust und -wut nicht mehr so sehr stärkt, merkt er doch, wie unendlich müde er ist. Mit hängenden Armen steht er dort, in der einen Hand den Helm des Besiegten und in der anderen sein Schwert - den Schild hatte er schon in den Kämpfen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, einfach weggeworfen. Der Schild hatte dabei noch einen letzten Zweck erfüllt - einem auf dem Boden kriechenden römischen Soldaten, den Wulfila zuvor vom Pferd gerissen hatte, schlug er mit der Schildkante das Genick ein und ließ den Schild dann, wie ein Leichentuch, auf ihm liegen, um sich anderen Gegnern zuzuwenden.

Wulfila dreht sich nun noch einmal zu seiner allerletzten Tat um. Irgendetwas bewegt ihn dazu, noch einmal zu dem Erschlagenen zurückzugehen. Er lässt sich seitlich von dem Toten in den aufgeweichten Boden niedersinken. Wulfila schneidet die ledernen Befestigungsschnüre des Panzers durch, hebt ihn ab und wirft ihn zur Seite. Um den Hals trägt der Römer eine goldene Kette, die nur am Halsausschnitt seines Unterhemdes hervorschaut. Hat der Römer darauf hinweisen wollen? Wollte er dem siegreichen Germanen noch ein Geschenk machen? Als Dank für seine Niederlage? Mit zwei Fingern nestelt Wulfila die Kette unter dem Hemd hervor. In seiner offenen Hand liegt ein goldenes Amulett mit Zeichen darauf, die er nicht deuten kann. Der Rand verläuft, als sei es die Verlängerung der wuchtigen Kette, um diese handtellergroße Platte wie ein geflochtenes Band herum. Wulfila hat schon viele Schmuckstücke gesehen. Seine Großmutter bekam in ihr Grab Schmuck und Werkzeuge, die ihr jenseits dieser Zeit nützlich sein sollten. Auch Helmgard, seine kleine Schwester, die schon so viele Winter von der Familie fort war, hatte so ein Amulett, dass ihr Wulfila aus einem flachen Stein gefertigt hat, den sie am Bachlauf gefunden haben. Aber der war viel, viel kleiner! Plötzlich gehen Wulfila Fragen durch den Kopf: Wie viele Winter ist Helmgard eigentlich schon fort? Lebt sie noch? Wo ist sie nur? Wulfila blickt sinnend über das Schlachtfeld in alle Himmelsrichtungen, als hoffe er, irgendwo dort hinten seine geliebte, kleine Schwester zu sehen. Vermeintlich schwer wiegt das edle Metall in Wulfilas von Dreck und von Blut verkrusteten Hand. Wulfila dreht das Goldstück auf die andere Seite. Dort ist das Profil einer Frau abgebildet. Als wolle er das Bildnis wiegen, hebt und senkt er die Hand. Regentropfen fallen in seine Handfläche, das mit Blut behaftete Stück scheint sich selbst reinigen zu wollen. Mit dem Daumen hilft er dem Regen dabei, die goldene Fläche zu säubern. Über seinen Besiegten hinweg blickt Wulfila in eine unendliche Ferne. Wie kam es nur, dass dieses Schmuckstück am Hals seines Feindes, seines von ihm getöteten Feindes, solche Erinnerungen in ihm wach werden ließ?

Mit einem leisen Seufzer erhebt sich Wulfila er aus seiner knienden Haltung und will gerade das Amulett mit einem Ruck vom Hals des Toten reißen, da, als hätte Wotan mit seinem Hammer zugeschlagen, lässt Wulfila die Kette auf die Brust des Getöteten zurückfallen und steht im gleichen Moment, wie vom Blitz getroffen, starr neben der Leiche. Ungläubig stiert auf den Toten. Ohne es zu bemerken, hatte Wulfila beim Herausziehen der goldenen Kette noch etwas unter dem Hemd des Römers zum Vorschein gebracht.

Wie ein Stein im tiefen Wasser

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