Читать книгу Wie ein Stein im tiefen Wasser - Ian Malz - Страница 9

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Kapitel V

Helmgards Rippen schmerzten. Bereits seit geraumer Zeit saß sie aufrecht auf dem Rücken des Schlachtrosses, umklammert vom Arm des hinter ihr sitzenden, fürchterlich nach Schweiß stinkenden, römischen Soldaten. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie bäuchlings und ohnmächtig über dem Pferd gelegen hatte. Ihr Kopf pochte. Besonders tat ihr der Hals an der Stelle weh, an dem ihr der Soldat den Schlag verpasst hatte. Wie lange sie wohl ohnmächtig gewesen war? Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel – aber immer noch hinter ihr und dem stinkenden Römer. Was geschah mit ihr und was würde geschehen? Sie hatte panische Angst. Immer wieder musste sie an ihre Mutter denken. Wie in Trance stammelte sie ihren Namen. „Hilf mir! Ich will zurück!“ Wohl müde vom langen Reiten senkte sich der Kopf des Römers fast ruckartig auf ihre Schulter. Im gleichen Moment machte Helmgard eine abweisende, schüttelnde und angeekelte Bewegung, so dass sein Kopf mit einem Ruck noch tiefer sackte und er, wie von einem Blitz getroffen, sich wieder aufrichtete. Manchmal konnte sie sein Gesicht erkennen. Ein hässliches, vor Schweiß und Dreck triefendes Gesicht. Seinen Helm hatte er immer noch auf, als wolle er sich vor eventuellen Schlägen des Mädchens schützen. Sein Kopf war zu groß für diesen Helm. Am Ohrenschutz und an der Stirn quoll die Gesichtshaut regelrecht hervor. Es musste ihm sicherlich unangenehm sein, diesen fast verrosteten Kopfschutz aufzubehalten. Aber er behielt ihn an.

Helmgards Haare hingen zottelig in langen, gebündelten Strähnen von ihrem bleichen Kopf herunter. Sie fror. Hatte sie doch nur das grob gewebte Hemd an, das sie nur im Haus und zum Schlafen trug. Ihre Beine waren nackt. An einem Fuß trug sie noch eine Sandalette, die ihr Vater aus dem Leder einer Hirschkuh gefertigt hatte. „Vater! Vater hilf mir“, flehte sie innerlich. Sie verspürte im gleichen Moment einen Druck in der Magengegend. Ihr wurde wieder schlecht. „Was macht der Mann mit mir? Wohin bringt er mich? Ich will nicht!!“ Den Kopf gesenkt, wagte sie einen Blick zur Seite. Im Unterbewusstsein hörte sie schon immer das Blöken und Muhen von Tieren – vermischt mit einigen Rufen von Männerstimmen, deren Sprache sie nicht kannte. Eine riesige Herde von Schafen und Rindern lief neben ihnen her, angetrieben von einigen Soldaten. Im Hintergrund sah sie noch viele andere Römer, die gemächlich hinter den Herden auf ihren Pferden hertrotteten. Über ihnen erhob sich eine Staubwolke, durch die die nun schon fast senkrecht stehende Sonne mit bloßen Augen zu erkennen war. Das Land kannte Helmgard nicht. Es war flach und man konnte weit sehen. Sie wand zögerlich ihren Blick nach hinten, am wuchtigen Körper ihres Peinigers vorbei. Ganz dahinten, fast kaum noch auszumachen, sah sie Wälder und Hügel. Aber schon längst nicht mehr so hoch und dicht, wie sie es aus ihrem Dorf und ihrer Umgebung her kannte.

„Wo bin ich?“ fragte sie sich. Als sie ihren Blick langsam wieder nach vorne richtete, sah sie zwischen grünen Flächen und ein paar Baumgruppen etwas glitzern. „Wasser!“ dachte sie bei sich. „Ist dort unser Wasser?“ Nun merkte sie, dass ihr Mund und ihre Lippen wie ausgedörrt waren. Sie hatte Durst. Das glitzernde Wasser kam immer näher. Es wurde größer und größer. So weit das Auge reichte – ob sie nun in die Richtung der Schafe und Rinder schaute oder aber in die andere – Wasser. Aber dahinter konnte sie schon wieder grünen Boden und dunkle Waldränder erkennen. „Rhenus Fluvius“ – merkwürdige Laute drangen plötzlich von hinten an ihr Ohr. Sie blickte zurück und schaute dem feisten Soldaten ins Gesicht. Er schien sich über etwas zu freuen. „Rhenus Fluvius“ stammelte er wieder. Dann schrie er auf und schaute an sich und dem Pferd herunter, denn Helmgard hatte sich urplötzlich übergeben müssen. Gleichzeitig ließ sie ihrem Urin freien Lauf. Des Römers nackte Füße wurden mit gelblichem, warmen Erbrochenem bedeckt. Ihr Urin lief am ohnehin schweißnassen Pferd in breiten Bahnen herunter. Angeekelt stieß der Soldat das Mädchen abrupt vom Pferd herunter. Helmgard fiel unsanft auf den Rücken und schrie auf. Der Soldat sprang hinterher und schüttelte angewidert seine Füße und klopfte wie wild auf seinem mit Lederstreifen bedeckten Rock herum.

So kurz vor dem Ziel! Vetera war schon auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Und jetzt noch das!! Voller Zorn zog er aus seiner Satteltasche einen Riemen und band ihn um Helmgards Hals. Immer noch angewidert schwang er sich wieder auf sein Pferd und gab ihm die Sporen. Helmgard, die seitlich stand, strauchelte und fiel hin. Ihre Hände griffen an die Schlinge, die um ihren Hals lag. Sie würgte. „Was macht der mit mir?“ ging es ihr durch den Kopf. Das Pferd trottete indes weiter. Mit Mühe kam Helmgard wieder auf die Beine. Mit schnellen Schritten lief sie sich neben dem Pferd her. Ihr Hals schmerzte. Ihr Bauch schmerzte. Aber nichts gegen den Schmerz, den ihre Seele verursachte. „Ich will zu Mutter, zum Vater, zu meinem Bruder – zur Großmutter. Ich will zurück ins Dorf. An das Wasser, in die Wälder. Modar, bitte, Modar! komm, hilf mir! Was macht dieser fremde Mann mit mir? Wo bin ich? Ich will zu euch! Wo seid ihr? Ich bin so alleine. Modar!!“

Der große Fluss kam immer näher. Helmgards ohnehin schmerzenden Füße stießen immer wieder an kleinere und größere Steine, die, je näher sie dem Wasser kamen, immer größere Flächen des Bodens bedeckten. Dazwischen ein paar grüne Stellen mit halb hohen Gräsern, deren scharfkantigen Blätter kleine Risse in ihre Waden schnitten. Der Boden wurde feuchter und tat ihren geschundenen Füßen gut. Helmgard hörte Rufe hinter sich und der Soldat zügelte sein Pferd. Fast elegant schwang er sein linkes Bein über dessen breiten Hals, um seitwärts vom Gaul zu rutschen. Fast wäre er noch auf das Mädchen neben ihm gesprungen. Helmgard wich erschrocken zur Seite und stand nun, den Soldaten ängstlich anschauend, hinter dem Pferd, das sofort, nachdem sein Herr es gezügelt hatte, den Kopf beugte und das grüne, feuchte Gras zu zupfen begann. Der Soldat räkelte sich, drückte seine beiden Hände in die Hüfte und drückte sein Becken genüsslich nach vorne und nach hinten. Helmgard vernahm ein deutliches Knacken aus dem massigen Körper des Römers. Waren es die geschundenen Knochen oder aber die Befestigungsschnallen der Rüstung, die so knackten und ächzten? Langsam drehte der Soldat seinen Kopf zum Wasser hin.

Einen solch großen Fluss hatte Helmgard noch nie gesehen! Kleine Boote kannte sie von zuhause. Wulfila und waren oft genug zusammen mit dem Vater auf dem kleinen Fluss gefahren, der sich an ihrem Dorf vorbeischlängelte. Einmal waren sie soweit von ihrem Dorf entfernt, dass sie erst in der Dunkelheit - mit größter Kraftanstrengung – das heimische Ufer erreichten. Zu schön war der Tag. Nur die Richtung haltend, ließen sich die drei im Boot treiben. Vater konnte die spannendsten Geschichten erzählen, die er und sein Vater bei der Jagd nach Wildschweinen und Hirschen erlebt hatten. Vor lauter Spannung vergaßen sie die Zeit. Erst als die Büschen und Bäumen am Ufer von der untergehende Sonne immer mehr Schatten auf das dahindümpelnde Boot warfen und es den Insassen immer kühler wurde, merkten sie, dass sie schon weit von ihrem Heimatdorf entfernt waren. Angst hatten sie keine, denn Vater war bei ihnen. Selbst diese Gegend kannte er noch. Wulfila und seine Schwester jedoch waren bis hierin noch nie gekommen. Vater und Wulfila mussten sich mächtig anstrengen, um das kleine Boot mit vereinten Kräften wieder gegen die Strömung zu bringen. An manchen Stellen des Flusses, an denen sie mit ihrem Kahn sehr dicht ans Ufer kamen, waren Vater und Wulfila kurzerhand ans Ufer gesprungen und hatten das Boot an langen Seilen gezogen. Dem Mädchen machte es großen Spaß, den Männern bei der kraftraubenden Arbeit zuzusehen. Mit aufmunternden Rufen versuchte sie sogar noch, das Tempo der Ziehenden zu erhöhen. Wulfila warf ihr, immer wenn er über seine Schulter schaute, einen wütenden Blick zu, dessen Ernsthaftigkeit aber seine leuchtenden, blauen Augen im gleichen Moment wieder Lügen straften.

Das Pferd mit der einen Hand am Halfter führend, in der anderen das Lederband, dessen Ende mit der Schlinge um Helmgards Hals lag, bestieg der Römer ein langes, flaches Boot, das an einem Holzsteg festgemacht war. Solche Boote hatte Helmgard noch nie gesehen! Auf Vaters Boot konnten nur er und die Kinder mitfahren. Manchmal passte auch noch Mutter mit darauf. Dann mussten sie alle aber ganz ruhig sitzen, damit es nicht umkippte. So ähnliche Boote gab es hier auch an dem großen Fluss, den der Soldat ´rerus fluffus´ nannte. Aber auf diesem Boot konnten sogar Pferde mitfahren und Karren und ganz viele Männer. Nur Männer! Dachte Helmgard. Frauen wie Mutter oder Großmutter oder Mädchen hatten diese Römer wohl nicht. Zusammen mit dem Pferd brachte sie der Soldat in den vorderen Teil des Bootes. Zwischen Schafen, ein paar Strohballen, Eseln und Soldaten bekam sie ihren Platz zugewiesen. Scheu blickte sie über den flachen Bootsrand zur gegenüberliegenden Seite des breiten Stromes. Das Wanken des Bootes wurde immer heftiger, je mehr Soldaten mit ihren Pferden und Händler mit voll beladenen Eselskarren auf den Kahn kamen. Helmgard fröstelte. Die Sonne stand schon auf der anderen Seite des Wassers. Sie spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sich die Dunkelheit über diesen grauenvollen Tag legte. Wie lange war sie nun schon von ihrem Dorf fort? Wie ging es Mutter und Vater? Wie ging es Großmutter? Was machte Wulfila? Helmgard hätte am liebsten geweint. Wie gut tät es ihr jetzt, wenn sie doch nur weinen könnte! Die Angst, die pure Angst versagte ihr die Tränen. Vom Bootsheck hörte sie eine Männerstimme etwas für sie Unverständliches rufen. Ein Mann, der eine Handkarre hinter sich herzog, durfte nicht mehr mit auf das Floß. Mürrisch, ein paar ebenso unbekannte Laute vor sich hin murmelnd, schob er seinen voll beladenen Wagen wieder zurück, dorthin, wo in einer langen Schlange noch andere Händler, Soldaten, Pferde und Viehherden darauf warteten, mit einem der nächsten Boote über das Wasser gebracht zu werden.

Zwei grobschlächtige Männer lösten an der Seite des Schiffes zwei Taue, die um Pflöcke am Ufer geschlungen waren und warfen sie auf die Planken. Mit einem Satz sprangen sie den Seilen nach. Das flache Boot begann, beängstigend zu schaukeln. Einige der Männer machten daraufhin ihrem Ärger durch lauten Protest Luft. Von diesen Unmutsäußerungen erschreckt, fingen ein paar Pferde an zu wiehern und versuchten, zu scheuen. Doch die Fährmänner kannten die Gefahren schon, die von wild gewordenen Gäulen ausgehen konnten, und banden sie mit kurzen Stricken am Schiffsboden an. Helmgard hielt sich krampfhaft an der flach erhöhten Schiffswand fest. Neben ihr hockte ihr Peiniger, den Helm als Sitz nutzend. Nun sah sie zum ersten Mal den Römer ohne Kopfbedeckung. Deutlich waren noch die Ränder des viel zu engen Helmes zu sehen, der sich in seine Stirn und seitlich an den Ohren in seine Haut geprägt hatte. Der Mann hatte ganz dunkle, gelockte kurze Haare. Der Schweiß ließ sie im Schein der untergehenden Sonne glänzen. Er stierte vor sich hin und biss, den Blick auf einen imaginären Punkt am Schiffsboden geheftet, in ein flaches Stück Brot, das er sich aus einem Beutel holte, den er an einem ledernen Gurt befestigt hatte. Helmgard verspürte nun auch Hunger. Noch mehr aber dürstete es ihr. Waren es ihre blauen Augen, die aus dem kleinen, verschmutzten Gesicht auf das Stückchen Brot in der Hand ihres Entführers blickten oder war es nur Mitleid? Der Soldat reichte ihr das Stück. Erst zögerlich - Biss für Biss - dann, auf den Geschmack gekommen, verschlang sie es gierig. Als sie den letzten Bissen heruntergeschlungen hatte, befand sich das Boot mit den vielfältigen Passagieren schon etwa in der Mitte des Flusses. Die beiden Schiffsführer standen am hinteren Ende und stießen kraftvoll lange Stangen ins Wasser. Das Wasser schien nun immer tiefer zu werden. Die Stangen fanden keinen festen Grund mehr, an dem die beiden Ruderer das Boot vorwärts stoßen und die Richtung halten konnten. Dort, wo die Fährmänner die Stangen ins Wasser gleiten ließen, waren Führungen in der Bootswand eingelassen. Dorthinein legten sie nun die Hölzer und nutzten sie als Steuerung. Das Mädchen blickte in Fahrtrichtung über die Bootskante hinweg auf die vor ihnen liegende Uferseite. Nicht weit entfernt vom Ufer konnte sie einen Wald erkennen. Nicht so groß und mächtig wie der Wald, der ihr Dorf umgab. Dazwischen standen Hütten. Auch diese sahen so ganz anders aus. Viel größer als ihre, zuhause. Sie bemerkte, wie sich das Boot mit der Flussströmung langsam an der Landschaft vor ihr dahin schob. Hinter diesen Hütten, deren Dächer gar nicht aus Stroh und Gras waren, sondern so leuchteten, als hätte man sie mit Blut eingeschmiert, tat sich eine Wand auf, die wie ein Wald ohne Äste und Blätter aussah. Auch standen die mächtigen Bäume dicht an dicht, so dass man nicht hindurch sehen, geschweige denn herumlaufen konnte. In Abständen standen auf den Bäumen kleine Häuser. Helmgard hatte so etwas noch nie gesehen. Ein wenig erinnerte sie dies Gebilde an ihr Dorf. Dort hatte man auch Stangen im Boden vergraben, um damit die Schafe und Rinder beim Dorf zu halten, wenn sie am Ende des Tages von den Feldern zurückgeführt wurden. Jetzt begann sie zu begreifen! Dahinter mussten große Tiere sein! Noch viel größer als die in ihrem Dorf! Und viele mussten es sein! Denn dieser Wald aus dichten Bäumen ging am ganzen Fluss entlang bis zu der sanften Biegung, der sich nun das Boot näherte. Fast hatten sie schon das Ufer erreicht. Helmgard sah ganz deutlich eine Stelle am Ufer, wo das Schiff anlegen würde. Aus der Richtung des langen Zaunes führte ein heller Streifen zum Wasser hin, ein Streifen, wie er entstand, wenn man immer wieder das Gras herunter trat. Im Dorf konnte man ganz genau solch einen Streifen sehen, nämlich dort, wo der Druide immer zu den beiden Schimmeln ging. Und dort durfte immer nur er gehen. Genau so ein Pfad kam ihnen vom Zaun entgegen. Nur viel, viel größer. Pferde konnten Wagen darauf ziehen. Mehrere Soldaten gingen nebeneinander darauf entlang. Das Bild, das sich ihr nun auftat, wurde immer größer und beängstigender.

Knirschend rutschte der schwerbeladene Kahn auf das steinige Ufer. Helmgard, der Soldat und das Ross mussten das Boot zuerst verlassen. Die übrigen Mitfahrer drängelten so sehr, dass Helmgard auf dem steinigen Boden den Halt verlor und stürzte. Sie jammerte auf, als sie mit den Knien auf einen faustgroßen Stein aufschlug. Trotz des Schmerzes, der ihren Körper durchzuckte, wunderte sie sich noch über diese glatten und großen, kugelförmigen Steine. Bei ihrem Dorf, wo der Fluss die Biegung zur untergehenden Sonne machte und Vater und die anderen Männer des Dorfes das Vieh über den Fluss zur Weide brachten, dort gab es auch runde. glatte Steine, manche so flach, das sie übers Wasser sprangen, wenn man sie nur flach genug warf - Wulfila konnte es am besten - doch diese Steine hier waren so groß, dass sie sie gerade einmal mit zwei Händen hätte umfassen können. Wulfila! Plötzlich durchfuhr es das Mädchen. Noch immer auf den Steinen kniend, fasste sie sich an die Brust. „Da ist es!“ Diese Erkenntnis glomm in ihren Augen auf. Unter ihrem grob geschneiderten und an einigen Stellen zerrissenen Gewand ertastete sie etwas Hartes, Rundes. „Ich habe es immer noch“, dachte sie bei sich. Mit der ganzen Hand ergriff sie dieses Etwas unter ihrem Gewand und rieb es mit allen Fingern. „Lass es dort, wo es ist“, befahl sie sich selbst! Keiner durfte es sehen, keiner durfte es ihr wegnehmen! Das, was sie unter ihrem Gewand auf der Brust trug, war die letzte Verbindung zu ihrer Familie, zu Wulfila!

Helmgard verspürte einen Schmerz am Hals. Mit Wucht riss der Römer das Mädchen an dem immer noch um ihren Hals befestigten Lederriemen wieder auf die Beine. Helmgard musste würgen, so sehr schnürte sich das Leder in ihre zarte Haut. Mit beiden Händen versuchte sie, den Zug um ihren Hals zu lockern, was ihr auch gelang. Der Soldat zog sie aber unsanft weiter, so dass sie fast wieder den Halt verlor. Das Pferd an der einen und das Mädchen an der anderen Hand marschierte er den leicht ansteigende Weg vom Ufer hinauf zu den Staketen, die dem Mädchen immer noch wie ein Wald ohne Äste und Blätter vorkam. „Was mag wohl in dem Wald sein?“ dachte sich Helmgard. Sie sah so viele Menschen und Tiere dorthinein gehen - und auch viele wieder hinaus. Sie überquerten einen Wall aus mit Gras bewachsener Erde, Büschen und Steinen, die man am Flussufer zuhauf fand. Durch einen Einschnitt führte der Weg über eine Ebene, die die Ausmaße des Versammlungsplatzes in ihrem Dorf hatte. Helmgard schaute aus den Augenwinkeln seitlich and dem Soldaten und dem Pferd vorbei und sah, dass die Erhebung, die sie durchschritten hatten, von der anderen Seite genauso bewachsen war, wie von der Flussseite her. Als sie ihren Blick wieder nach vorne richtete, erschrak sie fast vor der Mächtigkeit der hölzernen Stämme, denen sie nun schon ganz nah waren. Vom Fluss her hatte der aufgeschüttete und zugewucherte Wall einen Teil des Blickfeldes verstellt. So hoch mussten die beiden Steine sein, bei denen sich die Stammesfürsten zum großen Thing trafen und von denen Vater oft erzählt hatte.

Der Weg, der sie vom Fluss aus geradewegs zu dieser Wand aus Stämmen führte, wurde etwas schmaler. Vor ihnen tat sich eine große Öffnung auf, die im oberen Teil mit einem Steg verbunden war. Darauf sah Helmgard Soldaten hin und her gehen, die das Treiben unter sich genau beobachteten. Der Weg der beiden Soldanten war so bemessen, dass sie sich in der Mitte über der Öffnung trafen und ein paar Worte wechselten, um dann, aneinander vorbeigehend, sich jeweils der anderen Seite zuzuwenden. Dort befand sich, wie Helmgard feststellte, jeweils eine dieser kleinen Hütten, die ihr schon vom Fluss aus aufgefallen waren. Anders als in ihrem Dorf hatten diese Hütten aber nur ein Dach, keine Wände. Hier waren nicht Äste und Zweige aus den Wäldern und Schilfgräser vom Fluss so kunstvoll miteinander und den übrigen Hölzern der Hütte verbunden, dass sie so manchem Sturm standhielten und wenn der Regen in weißen Blättern sich darauf niederlegte, die Bewohner vor Kälte und Nässe schützten. Diese Dächer auf den Hütten ohne Wände bestanden aus roten, in gleichen Abständen verlegten Steinen, die aber noch dünner waren, als die, die man über das Wasser springen lassen konnte. Helmgard hatte zuvor noch nie solche Steine gesehen! Nun fiel ihr auch auf, dass der eine Soldat, als er dem anderen über der großen Öffnung begegnete, seinen Blick aus den offenen Wänden in alle Richtungen schweifen ließ. Wie unsere Jungen aus der Sippe, dachte sie bei sich, nur kletterten die flink, wie die kleinen Baumtiere, in die höchsten Wipfel am Rande des Dorfes, um nach Feinden oder anderen Bedrohern Ausschau zu halten.

Der Strom aus Soldaten, Tieren und Karren, aber auch Männer, Frauen und Kindern wurde, je näher sie zum Tor kamen, immer dichter. Der Soldat zog Helmgard am ledernen Band dicht an sich heran, als wolle er seine Beute vor den vielen Menschen schützen. Sie blickte ängstlich zu ihm hinauf. Sie stieß sich an einem aus dem Boden herausragenden Stein den Fuß. Wieder schrie sie vor Schmerz kurz auf und sackte auf die Knie. Ein Ruck an ihrem Hals lies sie sich jedoch schnell wieder erheben. Der Soldat murmelte ein paar Worte und beschleunigte seinen Schritt. Eilig folgte sie dem Lederband, mit dem der Soldat dem Mädchen das Tempo und den Weg anzeigte. Helmgard humpelte. Nun hatten sie die Mauer aus Baumstämmen hinter sich gelassen und erreichten ein Dorf. Auch hier bestanden die Dächer aus roten Steinen. Manche Dächer leuchteten wie die Sonne, wenn sie abends hinter der Flussbiegung eine andere Farbe annahm. Manche Dächer sahen dagegen so aus, als habe man Sand darauf verstreut. Auch hatten alle diese Hütten Wände und es war auch kein Soldat zu sehen, der sie beobachtet hätte. Die Wände schienen nicht aus Baumstämmen und Flusslehm zu bestehen, wie zuhause. Helmgard hatte den Eindruck, als seien sie nur aus Lehm. Trotz ihrer Angst, ihrer Verwirrung und ihrer schmerzenden Füße blickte sie sich staunend um in dieser erstaunlichen, für sie vollkommen neuen Welt. Dicht an dicht standen die Hütten beieinander. Vor manchen saßen Frauen in bunten Gewändern und putzten Gemüse. Aus anderen Hütten kamen laut juchzend Kinder herausgelaufen, um in Richtung des großen Tores zu verschwinden. Schnell schien es sich herumgesprochen zu haben, dass wieder Soldaten und Händler aus dem dunklen Land der Germanen eingetroffen waren. Oft genug brachten sie Beute und Waren mit, die dann auf dem großen Platz in der Mitte der Stadt feilgeboten wurden. Auf dem holprigen Weg vom Fluss zum Wall hinauf fielen mitunter Früchte oder Gemüse von den Karren, die in aller Eile von den Kindern aufgesammelt wurden. Die Händler versuchten mitunter, die kleinen Diebe mit dem Stock zu vertreiben. Die nutzten aber die Gelegenheit und stahlen dort, wo der Händler nicht hinguckte, den einen oder andere größeren Brocken. Manch ein Soldat, der die Kinder beim Stehlen beobachtete, drohte ihnen mit der Faust oder dem Speer und verscheuchte sie so - zumindest für einen Augenblick. Andere, die dieses Spiel mit ansahen, mussten lachen oder kümmerten sich einfach nicht darum. Hatten die Händler doch sowieso genug Geld und verkauften ihre Waren auch noch überteuert! Geschah ihnen ganz recht, diesen Halsabschneidern.

Der Soldat bog um eine Ecke. Helmgard wurde von dem Pferd unsanft gegen die Hauswand gestoßen, so dass sie sich den Arm aufscheuerte. Nun schmerzten nicht nur ihre Füße, jetzt tat ihr auch noch ihr Arm weh, den sie mit leicht verzerrtem Gesicht mit der linken Hand rieb und drückte. Weinen konnte und wollte sie nicht mehr. Jegliche Gefühlsregung war ihr seit der Nacht vergangen, in der sie von diesem Mann verschleppt wurde, verschleppt aus ihrem Dorf, fort von Mutter, Vater und Bruder. „Großmutter“, dachte sie, „Großmutter würde mir jetzt auf die schmerzende Stelle am Arm Kräuter legen. Die würden kühlen und den Schmerz lindern“. Wie oft hatte Großmutter ihr von dieser grünen Paste, die sie mit ihrem Speichel noch geschmeidiger machte, auf eine Wunde gestrichen. „Großmutter, wo bist du?“ Mit gesenktem Kopf trottete Helmgard hinter dem Römer her, mit der Linken immer noch ihre schmerzenden Wunde reibend. Immer häufiger blieb der Soldat stehen und sprach in seiner für sie unverständlichen Sprache mit anderen Männern, die vor den Häusern standen und mit Frauen, die mit Körben über dem Arm wohl vom Feld oder vom Markt kamen. Hier musste er wohl bekannt sein, dachte Helmgard. Nach einer weiteren Biegung und kamen unvermittelt zwei Jungen angerannt und begrüßten den Soldaten überschwänglich. „Ob dies seine Söhne sind?“ ging es ihr durch den Kopf. Der Soldat tätschelte den beiden Jungen liebevoll den Kopf. „Zu mir war er so böse, hat mich einfach mitgenommen und mich so gequält! Vater soll mich auch wieder in die Arme nehmen! Vater!“ Erst jetzt bemerkten die beiden Knaben, dass hinter dem Pferd noch jemand stand. Helmgard zitterte am ganzen Leib und hielt den Kopf gesenkt. Der jüngere von Beiden, er war einen Kopf kleiner als sie, kam langsam um das Pferd herum und näherte sich vorsichtig dem Mädchen. Wer das sei, fragte er und zeigte auf das Mädchen. Die habe er von einem Barbarenstamm mitgebracht, antwortete sein Vater, der Soldat. Ihre Haare und vielleicht auch das ganze Mädchen brächten gutes Geld. Der Junge war gerade noch einen Schritt von Helmgard entfernt und hob nun seine Hand zu deren von Schmutz und Schweiß zottelig und strähnig vom Kopf hängenden Haaren. „Was ist denn so besonderes daran?“ fragte er den Soldaten. „Warte, bis deine Mutter sie gewaschen und gebürstet hat, dann wirst du es sehen! Sie sehen aus wie das reife Korn auf den Feldern, und wenn die Sonnenstrahlen sich darin fangen, dann leuchten sie wie geflochtenes Gold. Die feinen Damen in Rom tragen auf dem Kopf Hüte, die über und über mit diesen Haaren geschmückt sind, als seien sie ihre eigenen. Du wirst sehen, das Mädchen wird viele Sesterzen einbringen. Doch wo ist mein Weib?“ Helmgard verstand kein Wort von dem, was der Mann mit den Jungen gesprochen hatte, doch sie spürte, dass es um sie ging. Als sie den Kopf langsam hob, bemerkte sie, wie der größere der beiden Jungen, der in der Zwischenzeit ins Haus gelaufen war, mit einer Frau an der Hand wieder zum Vorschein kam. Auf deren Gesicht lag ein Lächeln. Sie lächelte aber nicht den Ankömmling an, sondern geradewegs die gegenüberliegende Wand. Unvermittelt schaute Helmgard in die vermeintliche Richtung. Doch da war nur eine Wand. Die Frau war etwa so groß wie Helmgards Mutter und trug ein langes Gewand, von dem sogar die Arme bedeckt wurden. Solche Gewänder hatte Helmgard noch nie gesehen. Bei denen ihrer Mutter blieben deren Arme immer unbekleidet. Nun lächelte die Frau sogar die Ohren des vor ihr stehenden Pferdes an! Das alles fand Helmgard doch sehr verwunderlich. Während die Frau mit ihrer einen Hand die Wand vor sich abtastete, hielt der Junge sie immer noch an der anderen Hand und führte sie dabei auf den Römer zu. Nun löste sie sich aus der führenden Hand des Jungen und hob beide Arme, um ihren Gegenüber zu umarmen. Der Soldat ergriff beide Unterarme der Frau und legte sie links und rechts um seinen Hals. Dann ließ auch er seine Hände ihre Arme hinaufgleiten, bis sie ihren Hals erreichten. Nun lagen sich beide in den Armen. „Vater hat nie die Hände um Mutters Hals gelegt“, dachte Helmgard. „Mutter hat auch nie die Hütte oder die Ohren eines Pferdes angelächelt. Mutter hat selten gelächelt. Aber über meinen Kopf hat sie mir auch schon einmal gestrichen. Mutter!“ Helmgard spürte den Druck in ihren Augen, sie wollte weinen, aber es ging nicht. Die Frau in den Armen des Peinigers sprach zu ihm und auch er sagte etwas zu ihr. Der kleinere Junge stand immer noch bei Helmgard und stierte ihre fettigen Haare an. Der Mann löste sich aus der Umarmung seiner Frau und drehte sie so von sich, dass sie seitlich neben dem Pferd stand. Ihre Hand glitt an dessen Hals hinauf, bis sie die Mähne ertasten konnte. Sie lächelte immer noch, als sie die Ohren fühlte und zwischen ihnen die Blesse des Pferdes tätschelte. Aus den Nüstern schnaubte es freudig, so als hätte es auf diese Begrüßung nur gewartet. Merkwürdig, dachte Helmgard, nun steht sie neben mir und schaut mich gar nicht an. Plötzlich drehte sich die Frau so unvermittelt zu ihrem Mann um, dass Helmgard erschrak. „Nun hat sie mich doch gesehen!“ Sie wandte sich an ihren Mann und der führte sie auf Helmgard zu. Zuerst schaute sie wieder auf die Wand. Doch als beide kurz vor dem Mädchen standen, hob der Mann die Hand der Frau und legte sie dem Mädchen auf den Kopf. Wieder fragte die Frau etwas in der fremden Sprache und Helmgard spürte, dass es um sie ging. Der Römer gab nur einen kurzen Laut von sich und schaute auf die Hand der Frau, die nun langsam vom Kopf des Mädchens hinunterglitt. Als sie das Ohr des Mädchens erreichte, griff die Frau auch mit ihrer anderen Hand zu und hielt Helmgards Kopf in Händen. Helmgard zitterte noch mehr. „Was will die Frau von mir?“ ging es ihr durch den Kopf. „Sie sieht immer nur über mich hinweg und schaut mich gar nicht an!“ Die Hände ertasteten ihre Wangen. Es tat gar nicht weh! „So hat mich Mutter auch oft berührt, wenn ich weinte oder ich mir wehgetan habe. Dann wurde es mir bald besser und es tat gut.“ Die Hände der Frau waren sanft zu ihr. Trotzdem zitterte sie vor Angst. Mit den Fingerspitzen suchte die Hand der Frau den Weg zu Helmgards Augen, die diese erschrocken zukniff. Von dort aus tasteten sich die beiden Daumen der Frau über Helmgards Nasenrücken hinab bis zur Nasenspitze. Die übrigen Finger glitten dazu über die Wangen bis zum Unterkiefer. Dort legten sich beide Hände um den Hals des Mädchens, um auch daran herab zu gleiten. Plötzlich stockte die tastende Bewegung, als sie das lederne Band um den Hals des Mädchens gewahr wurde. Zu ihrem Mann gewandt sagte die Frau etwas, und es hörte sich wie ein zorniger Befehl an, woraufhin der Soldat ein Messer aus dem Gürtel zog und einen Schritt auf das Mädchen zuging. Vor Schreck wich Helmgard einen Schritt zurück, so dass die Arme der Frau unvermittelt hinunterfielen. Mit dem Zeigefinger der linken Hand griff der Mann Helmgard zwischen Hals und Lederband, führte das Messer vorsichtig dazwischen und durchschnitt die Fesselung mit einem kurzen Ruck. Sofort griff sich Helmgard mit beiden Händen an den Hals und massierte sich die geschundene Stelle. Die Frau fasste das Mädchen nicht mehr an. Sie sagte nur etwas zu ihrem Mann, der sie daraufhin am Arm ergriff und zum Haus führte. Helmgard schaute den beiden nach. Nun kamen die beiden Jungen wieder näher und verfolgten noch einmal den Weg, den die Frau mit den fühlenden Händen vorgegeben hatte, mit ihren Augen. Erst über die fettigen Haare, dann die Ohren, die Nase, der Mund, den Hals. Jeden Blick der Beiden folgte Helmgard argwöhnisch. „Was wollen die von mir? Ich will zu Modar und Fatar!“ Nun verspürte sie, wie die Angst wieder in ihr aufstieg. Zuerst spürte sie den Druck im Bauch, der dann langsam, aber immer heftiger werden, ihren Hals erreicht. Der Hals begann zu pochen, ihr Kopf begann zu schmerzen. Flehentlich schaute sie von einem Jungen zum anderen, dann auf das Pferd, dann wieder auf die Jungen. Ihr Blick glitt hinauf zu den Sternen. Sterne! dachte sie und merkte, dass es rings um sie dunkel geworden war. Panische Angst stieg plötzlich in ihr auf. Sie wollte weglaufen, aber wohin? „Bitte helft mir doch“, mochte sie den Jungen zurufen. Doch sie konnte ihre Sprache nicht. Hätten sie ihr denn geholfen? Sicher nicht! Fast wahnsinnig vor Angst schüttelte sie ihren Kopf. Erst langsam dann immer schneller. Sie stieß schmerzvolle Klagelaute aus, die bei jeder Kopfbewegung immer lauter und drohender wurden. Die beiden Jungen machten beängstigt einen Schritt zurück. Nun begann sie mit den Füßen zu stampfen und griff sich in die Haare. Rücklings stieß sie an die Hauswand und rutschte daran herunter, immer lauter schreiend. Plötzlich konnte Helmgard wieder weinen. Es war für sie wie eine Befreiung. Sie schluchzte laut los, den Kopf zwischen die Knie versenkt und die Hände, wie zum Schutz vor herabfallendem Geröll, über dem Kopf verschränkt.

Wie ein Stein im tiefen Wasser

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