Читать книгу Wie ein Stein im tiefen Wasser - Ian Malz - Страница 8

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Kapitel IV

Wulfila beobachtete den Druiden, wie er den Schimmeln die Hand zwischen die Ohren legte und wie er dann beide Arme in Richtung Mond erhob, der sich zwischen den dahinfliegenden Wolkenfetzen ab und zu zeigte. Wulfila erklärte seiner Schwester den Sinn dieses Rituals und sie hörte ihm gespannt und interessiert zu. Plötzlich merkte Wulfila, dass mit dem Druiden etwas Sonderbares vorging. Langsam rutschte seine Hand von Helmgards Schulter, ein Ruck ging durch seinen Körper. Wulfila spürte, wie sich seine Muskeln langsam vor Erwartung spannten. In der Magengegend machte sich ein unangenehmes Kribbeln bemerkbar. Helmgard schaute mit krauser Stirn, die ihre Augenbrauen fast über der Nasenwurzel zusammenzog, abwechselnd auf Wulfila und dann in die Richtung, wo sie den Druiden als hellen Punkt in dunkler Nacht sehen konnten. Die Arme des Druiden, immer noch in Richtung Mond gestreckt, begannen, erst langsam dann immer schneller werdend, zu kreisen. Nun sahen beide, dass er seinen Kopf in Richtung Dorf drehte. Wulfila befahl seiner Schwester, sich nicht vom Platz zu bewegen und lief mit großen Sätzen zum Hügel hin, auf dem der Druide stand und nun immer heftiger mit den Armen winkte. Er sah wohl Wulfila, der mit wenigen Schritten den Versammlungsplatz überwunden hatte, auf ihn zukommen. Aus den einst seitlich kreisenden Armbewegungen wurden abwehrende in Richtung Wulfila, als wolle er dem jungen Mann verbieten, auf den Hügel zu kommen. Leicht keuchend, nachdem er den Dorfrand erreichte, befand Wulfila sich am Fuße der Kuppe. Auch die Schimmel schienen aufgeregt zu sein. „Ob sie wohl merkten, dass etwas mit dem Alten nicht stimmt“? dachte Wulfila. Die Augen immer auf den Druiden gerichtet, trabte er den Berg hinauf und blieb dann wie angewurzelt stehen. Sein Halt war so abrupt, dass er das Gleichgewicht verlor und vorwärts auf Hände und Knie fiel. Erst hörte er ein Zischen. Dann sah er ein gleißendes, längliches Licht, das eine grau-weiße Spur hinter sich durch den Nachthimmel zog - direkt auf den alten Mann zu. Donar? Wotan? Was war das? Das Zischen wurde immer lauter und der Lichtkegel, der dem grauen Band vorauseilte wurde immer heller. Für einen kurzen Augenblick wurde der Druide hell erleuchtet und Wulfila konnte dessen Profil sehen, sah den hellen Schein auf den Druiden zurasen.. Ein klatschendes Geräusch; ein Gurgeln, und plötzlich blieb das Licht hinter dem Kopf des weisen Mannes, wie von Geisterhand aufgehalten, stehen. Der Hinterkopf wurde gespenstig beleuchtet. Die Hände des Alten griffen an seinen Hals. Nun erst begriff Wulfila, was er dort gesehen hatte! Keinen Blitz! Kein Zeichen der Götter! Einen Pfeil! Einen Feuerpfeil! Senkrecht, so wie der Druide dem Licht entgegen geschaut hatte, fiel er rücklings um und das Feuer an seinem Hinterkopf erlosch sofort. Ungläubig verlangsamte Wulfila seine Schritte und tastete sich auf Händen und Füßen auf den Alten zu. Wulfilas Bewegungen wurden immer langsamer, den Blick immer noch auf den am Boden Liegenden gerichtet. Nun bemerkte er das leichte Vibrieren unter seinen Händen in dem abendfeuchten Gras. Er hielt wiederum inne und schaute zu seinen gespreizten, ins Gras greifenden Händen hinunter, so, als wolle er durch sie hindurchschauen, um zu sehen, wo dieses Zittern herkam. Er richtete sich zaghaft auf und machte noch ein paar Schritte auf den leblosen Körper zu. Da begann die Kuppe des Hügels zu leben! Wulfila bemerkte, wie dessen eben noch gerade Kante sich auf und ab zu bewegen schien. Dieses Auf und Ab wurde in seinen Bewegungen immer stärker und stärker, bis es die Form von menschlichen Wesen annahm, die auf Pferden saßen. Wulfila merkte, wie der Herzschlag das Blut in seinem Hals pulsieren ließ. Der schnelle Aufstieg zum Hügel hatte Wulfila kurzatmig werden und sein Herz schneller schlagen lassen. Dieser Anblick jedoch schien um seinen Hals eine eiserne Faust zu schlingen. Als hätte er einen Guss Wasser abbekommen, lief es ihm dann plötzlich eiskalt den Rücken hinunter, um dann wieder heiß in ihm aufzusteigen. Wie oft hatte er sich im Spiel mit den Erzfeinden gekämpft und immer glorreich gesiegt. Wie oft hatten er und sein Freund die Konfrontation mit den Römern herbeigesehnt, um ihnen den Garaus zu machen. Nun kamen sie da vor ihm den Hügel hinauf. Wulfila spürte die Angst in sich aufsteigen. Seine Gesichtsmuskeln begannen zu zucken, und Tränen quollen aus seinen Augen. Eine unbeschreibliche Angst! Diese Römer sahen so anders aus, als in den Erzählungen der Sippenmitglieder, die schon einmal diesen Soldaten gegenüberstanden hatten. Mächtigkeit strahlten sie aus. Mächtigkeit und Brutalität! Wulfila zitterte. Es wurden immer mehr und mehr. Der ganze Hügelkamm stand nun schon voll mit Reitern in glänzenden Panzern, die im fahlen Mondlicht das Unheilvolle noch unterstrichen. Ein Unheil kommt auf uns zu! Langsam drehte sich Wulfila um. Erst machte er ein paar zögerliche Schritte in Richtung Dorf. Dann wurden sie immer schneller. Schließlich lief, rannte Wulfila um sein Leben. Angst! Römer! Was nun!? Seine Kehle war wie zugeschnürt. Im Lauf wandte er seinen Blick nach hinten. Aber die Soldaten schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Er musste sein Dorf warnen! Stolpernd und über kleinere Gesteinsbrocken springend, stürzte er auf sein Dorf zu. „Ma..., Mannen!“ schrie er - wollte er schreien! Seine Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Er blieb stehen und schaute noch einmal in Richtung Kuppe. Wulfila spürte, wie die Kälte seinen Rücken hinauf kroch und seine Nackenhaare aufrichtete. Er wandte sich wieder seinem Dorf zu. „Mannen, Mannen!“ schrie er nun endlich, fast atemlos. Einige Hunde in den Hütten hörten ihn zuerst und antworteten ihm bellend. Als er sich dem Dorf näherte, sah er einige Gestalten aus den Hütten kommen, sah, dass diese Gestalten begannen, hektisch hin und her zu laufen, hörte Frauengeschrei und das Brüllen einiger Männer. Nach und nach kamen immer mehr Dorfbewohner aus ihren Hütten und deuteten aufgeregt in die Richtung, aus der Wulfila angelaufen kam. Ob sie Ihn sahen? Das Unheil, das sich dort oben am Kamm des Hügels abzeichnete, sahen sie auf jeden Fall. Viele Männer liefen zurück in die Hütten, kamen, bewaffnet mit Schwertern und Stangen, wieder heraus, schoben Frauen und verschlafene Kinder vor sich her und befahlen ihnen an, sich schnell in den benachbarten Wald zu retten. Dorthin, wo sie schon vor langer Zeit Zufluchtstätten errichtet hatten. Nun, nachdem Wulfila immer näher zum Dorfe kam, hörte er auch schon die befehlsmäßigen Zurufe der Männer, vermischt mit Kinderweinen und dem aufgeregten Schreien und Rufen der Mütter. Wulfila hatte jetzt fast den Versammlungsplatz erreicht. Sein Blick ging in Richtung seiner Hütte in der Hoffnung, auch dort seine Familie bei den Fluchtvorbereitungen zu sehen. Überall herrschte nun schon hektisches Treiben. Doch vor seinem Haus war es still. Keuchend erreichte er den Eingang und hielt sich mit beiden Armen am Türpfosten fest, so, als wolle er die Hütte umwerfen. Schwer ging sein Atem. Er blickte noch einmal über seine Schulter. Zwischen den Häusern hindurch sah er das Heer der Soldaten, einer Schlammlawine gleich, sich auf das Dorf zuwälzen. Wo war seine Familie? Wulfila betrat die Hütte und fand Mutter, Großmutter und seine Schwester, die beim ersten Anzeichen der drohenden Gefahr zurück gelaufen war, zusammengekauert in der Ecke beim Vater an der Liege. Er schlief tief und fest. Dieser Schlaf sollte ihm Genesung bringen! Und nun? So hilflos! „Ihr müsst in den Wald, euch verstecken“, keuchte Wulfila seine Familie an. „Kommt, wir müssen in den Wald, schnell! Die Römer!“ Mutter schüttelte nur den Kopf und sah Vater an. Helmgard schaute zitternd und fragend zu ihr auf und Großmutter stierte nur auf das Häuflein Asche, dass noch in der Feuerstelle vor sich hin qualmte. Wulfila griff die Mutter an den Armen und versuchte sie hochzuheben. Sie machte sich aber schwer und blieb störrisch am Boden sitzen. „Fatar, Fatar!“ Wulfila rüttelte den kranken Vater, der aber nur ein leises Röcheln hervorbrachte. Erschreckt blickte Wulfila zur Öffnung ihrer Hütte. Hörte er schon Waffengerassel zwischen den Stimmen der aufgeregten Dorfbewohner? „Sie kommen, sie kommen!“ Die Angst in ihm verstärkte sich. Seine Kehle wurde trocken und Tränen quollen aus seinen Augen. Er zitterte am ganzen Körper. „In den Wald, ihr müsst in den Wald!“ Endlich ließ die starre Haltung der Mutter nach und sie erhob sich, von Wulfila gestützt, schwerfällig. Helmgard hing an ihrem Rockzipfel und umschlang, fest an sie angelehnt, ihre Beine. Nur Großmutter stierte immer noch auf den Aschehaufen. Wulfila und seine Mutter versuchten, dem Vater von seinem Krankenbett aufzuhelfen. Das Geschrei der Frauen und Kinder draußen vor der Hütte wurde immer lauter. Die Pferdehufe der nahenden Reiterei unterschieden sich nun schon deutlich von den Angstschreien und dem Getrampel auf dem Versammlungsplatz. Immer lauter wurde das Kampfesgebrüll des anrückenden Fußvolkes. Der Lautstärke nach konnten sie noch nicht das Dorf erreicht haben. Die Reiterei war viel schneller. Vermischt mit dem Gebrüll drang an Wulfilas Ohren das gleichmäßige Dröhnen immer lauter werdender Trommeln, das sich, in rhythmischen Abständen, mit schrillen Tönen aus Blasinstrumenten verband. Aus dem friedlichen Abend wurde eine grauenvolle, tödliche Nacht.

Mit Müh und Not brachten sie den Vater bis vor die Türe. Ab und zu öffnete dieser die Augen, um aus verschleiertem und ungläubigem Blick erst sein Weib, dann Wulfila und dann wieder in die Nacht zu schauen, um dann wieder, in den Knien einsackend, den Halt zu verlieren.

Die ersten Reiter preschten schon durch das Dorf und über den Versammlungsplatz hinweg. Im Schutze des Hausschattens versuchten sie, den Vater hinter die Hütte zu bringen. Eng an sie gekauert hing Helmgard an Mutters Seite. „Großmutter!“ dachte Wulfila, „wo ist Großmutter!?“ Unsanft drückte Wulfila den Vater gegen die Hauswand, so dass Mutter ihn alleine halten musste und lief die paar Schritte zurück zum Eingang. Großmutter lag zusammengekauert, so, als wolle sie die Feuerstelle schützen, um das kleine Häuflein Asche herum und summte, ja, gurrte eine für ihn unverständliche Melodie. Wulfila war mit ein paar wenigen Sprüngen bei ihr, um ihr aufzuhelfen. Doch sie schüttelte immer wieder den Kopf und gab unverständliche Geräusche von sich. Während Wulfila mit aller Mühe versuchte, sie vom Boden aufzuheben, hörte er von draußen einen gellenden Schrei. „Mutter!“ ging es ihm durch den Kopf. Fast unsanft ließ er die Alte wieder in den Staub fallen und rannte zur Türöffnung. Neben dem Pfosten stand sein Holzschwert. Instinktiv griff er danach, sich wohl bewusst, dass er damit gegen die schwer bewaffneten Soldaten, die mit ihm bestimmt kein Spiel spielen würden, keinerlei Chance hätte und stürmte hinaus. In der Dunkelheit sah er nur die unheimliche, drohende Gestalt eines Reiters, fast so hoch wie ihr Haus, der sich dann nach etwas hinab beugte. Wulfila konnte den Vater am Boden wie einen Schatten liegen sehen. Mutter kauerte neben ihm und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Eiskalt lief es Wulfila den Rücken herunter, als er sah, wie dieser Soldat, als er sich wieder aufrichtete, an den Haaren seine Schwester zu sich auf Pferd zog, die, den Zug an ihren Haaren zu lindern, sich krampfhaft selber daran festhielt. So hatte Wulfila seine Schwester noch nie schreien hören. Schreie aus Schmerz und Todesangst. Wulfila stand wie versteinert in der Türöffnung und sah den verschwitzten, von einem Helm eingezwängten Kopf eines römischen Soldaten, über dessen Gesicht ein triumphales Grinsen ging, als er sich, seinem Pferd die Sporen gebend, davon zu reiten versuchte. Voller Wut rannte Wulfila hinterher. Seine Schwester lag bäuchlings vor dem Soldaten über dem Pferd und schrie. Für einen kurzen Augenblick glaubte Wulfila, ihrem Blick begegnet zu sein. Angsterfüllte, um Hilfe flehende Augen hatten ihn angeschaut. Genervt vom Geschrei schlug der Soldat mit der flachen Hand ins Genick des Mädchens, dessen Angstgeschrei daraufhin unvermittelt verstummte. Wulfila lief immer noch, sein Holzschwert schwingend, hinter dem enteilenden Legionär her. Hinter der Feuerstelle des Versammlungsplatzes war er nah genug heran gekommen, um wie wild auf das Pferd einzuschlagen. Erschreckt wieherte es auf und begann zu tänzeln. Verwundert blickte sich der Soldat um und sah den wild um sich schlagenden Jungen hinter sich. Ein Schlag mit der flachen Seite des Holzschwertes erwischte ihn am Oberschenkel. Im ersten Moment verspürte der Soldat einen durch und durch gehenden Schmerz und befürchtete schon, dass dieser Angreifer ihm eine größere Wunde zugeführt hätte. Mit seiner freien linken Hand griff er sich an die schmerzende Stelle. Ein Grinsen ging über sein Gesicht, als er merkte, dass er nur einen Schlag von einem Kind mit einem Holzschwert erhalten hatte. Er zügelte sein Pferd, sodass es zum Stillstand kam und schaute dem Knaben in die Augen. Immer noch wild um sich schlagend begann Wulfila eine neue Attacke gegen den Römer. Dieser grinste ihn nur an. Wulfila holte zu einem weiteren Schlag aus. Als sich sein Arm senkte, um dem Soldaten noch einen Schlag auf das Bein geben, hob der Reiter nur seinen Fuß an und trat dem Jungen mit der Sandale in das Gesicht. Durch Wulfila fuhr ein solch starker Schmerz, dass er unfähig war, seinen zum Schlag erhobenen Arm zu senken. Für einen Augenblick stand er regungslos in dieser Position um dann, wie vom Hammer geschlagen, auf den Boden zu fallen. Bevor ihm die Sinne schwanden, sah er noch in das verschwitzte, grinsende Gesicht des Soldaten. Das Letzte aber, was er noch sah, waren die herabhängenden goldgelben Haare seiner Schwester, die bäuchlings, mit schlaffen, baumelnden Armen über dem Rücken des Pferdes lag. Dann wurde es dunkel um Wulfila.

Verschwommen sah er das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn gebeugt hatte. In ihrem tränennassen Gesicht spiegelte sich flackerndes Licht. Hatte er denn so lange geschlafen? Warum schmerzte ihn sein Gesicht so sehr? Er lag doch nicht in der Hütte! Langsam konnte er die Konturen seiner Mutter immer besser erkennen. An ihrem Kopf vorbei sah er in den Sternenhimmel. Der Blick wurde aber durch Rauchschwaden immer wieder getrübt. Wulfila vernahm Brandgeruch. So roch es, wenn die Stammesältesten am Versammlungsplatz um das knisternde Feuer saßen. Doch dieses Knistern war lauter. Nach und nach ließ das Dröhnen in Wulfilas Kopf nach und er vernahm Schreie von Frauen und Kindern. „Was ist geschehen?“ ging es ihm durch den Kopf. „Römer!“ Unvermittelt sprang Wulfila auf, so dass die Mutter fast rücklings zu Boden fiel. Römer waren im Dorf – hatten das Dorf überfallen. Ihm wurde schwindelig - und plötzlich speiübel. Wulfila sackte auf die Knie nieder, stützte seinen gesenkten Kopf auf seine Hände auf und übergab sich. Er bemerkte, dass er in seinen Zähnen eine Lücke hatte und plötzlich spürte er auch den Schmerz am Mund und auf der Nase. Mit der einen Hand tastete er behutsam sein Gesicht ab. Auf seinem Handrücken bildete sich ein roter Streifen, als er sich über die Nase fuhr. Neben ihm stand seine Mutter, legte ihre Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn leicht. Immer noch auf den Knien hockend blickte er zu ihr auf und sah in ihr schmerzvolles Gesicht. Tränen liefen ihr immer noch die Wangen herunter. Langsam erhob sich Wulfila und blickte an der Mutter vorbei in die Richtung, in der die Hütte seiner Familie stand. Er sah aber nur noch ein paar aufrechtstehende Eichenbalken, die, am oberen Ende noch leicht glühend, kleine Rauchschwaden in den dunklen Nachthimmel sandten. „Großmutter!“ schoss es ihm durch den Kopf. Er rannte los. Mutter wollte ihn noch zurückhalten, aber mit ein paar Sprüngen stand Wulfila dort, wo vormals der Eingang zu seinem Zuhause war. Nun konnte er über die verkohlten Balken hinweg in den Wohnraum schauen. Großmutter lag noch so, wie er sie zuletzt in Erinnerung hatte, um die Feuerstelle herum. Nur, dass jetzt das ganze Haus eine riesige Feuerstelle war. Unter seinen Füßen wurde es warm, als er ganz behutsam ein paar Schritte zu der am Boden kauernden Gestalt wagte. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Wulfila konnte die Hände der alten Frau erkennen, krallenartig in den Boden gedrückt. Auch Beine, den Körper und den Kopf konnte er noch ausmachen. Er begann zu zittern. Mit wutverzerrtem Gesicht drehte er sich langsam um und sah den Kopf seiner Mutter über die Balkenreste blicken. Ein ohrenbetäubender Schrei entfuhr ihm, überdeckte das Geräusch der knisternden Häuser, rufenden Müttern und schreienden Kinder. Wulfila schrie seine Trauer aus sich heraus; vermischt mit Wut und Zorn über diese Unheil bringenden Römer.

Langsam schritt er wieder zum Eingang hinaus und bemerkte aber, als sein Blick noch einmal durch die Trümmerreste schweifte, das dort, wo sich die Gatter für die Tiere befanden, kein totes Schaf, kein verbranntes Kalb lag. Hatte Vater die Tiere noch gerettet? Nein, Vater war doch...! Er sprang über einen querliegenden Stamm aus dem verkohlten Haus heraus und wandte sich zur Mutter, die immer noch auf das Häuflein Asche an der Feuerstelle stierte. „Wo ist Vater?“ wollte er wissen. Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung Waldesrand. Wulfila folgte ihrem Blick und sah in einiger Entfernung Sippenmitglieder, die zwischen einer Vielzahl von auf der Erde Liegenden umherirrten. „Helmgard!“ schluchzte die Mutter. „Helmgard!“ Immer wieder rief sie den Namen ihrer Tochter und schaute dorthin, wo sich der Fluss in Richtung Feindesland entlang schlängelte. „Helmgard!“ Erst jetzt langsam dämmerte es Wulfila! Er sah noch die Sandale auf sich zusausen. Beim Hinstürzen hatte er noch das grinsende Gesicht des Römers auf dem Ross gesehen und vor ihm, kopfüber nach unten baumelnd, Helmgard, seine Schwester! Als wolle er dem Reiter nachstürzen, rannte er los in Richtung Fluss. Er hörte noch die Mutter rufen. Aber er musste doch seine Schwester zurückholen! Seine kleine Schwester! Wulfila lief und lief, bis er an die Stelle des Flusses kam, an der man ihn im flachen Wasser überqueren konnte. Hier brachten sie ihre Viehherde über das Wasser auf die andere Seite zur Weide. Er lief noch die kleine Anhöhe hinauf. Dort blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit noch seine Schwester auf dem Pferd des Römers auszumachen. Nichts! Nur Schwärze und das leise, friedliche Geplätscher des Flusses.

Als er sich umdrehte, sah er das ganze Ausmaß des Unheils, das die Soldaten über seine Sippe gebracht hatten Kein Haus hatte mehr ein schützendes Dach. Gespenstig flackerte das Licht des Feuers durch das Tal. Zwischendurch sah man Menschen von Haus zu Haus laufen. Hundegebell konnte er hören und schreiende Weiber. Wulfila setzte sich in das nachtfeuchte Gras und stierte zu seinem Dorf hinüber. Ein kühler Luftzug, der vom Wasser her kam, ließ ihn erzittern. Wut stieg in ihm auf. Ich werde die Römer bekämpfen und besiegen, schwor er sich und hob beide Hände langsam in den dunklen Himmel. „Großmutter, Helmgard!“ Er schrie. „Ich werde euch rächen!“ Er schlug die Hände vor sein Gesicht und legte es auf die angewinkelten Knie. Ein Schütteln ging durch seinen Körper. Erst in kurzen Abständen, dann immer häufiger. Wulfila weinte.

Wie ein Stein im tiefen Wasser

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