Читать книгу Wie ein Stein im tiefen Wasser - Ian Malz - Страница 6

Оглавление

Kapitel II

Versteckt hinter einer Buschgruppe, das Gesicht mit Lehm beschmiert, hockte Wulfila und wartete. Er verhielt sich ganz still. Nur seine Augen wanderten über den freien Platz vor sich und den Weg, der aus dem Wald herausführte, abtastend hin und her. Hörte er nicht ein leichtes Knacken vom Waldrand her? Sofort glitt sein Blick zu der schon fast dunklen Wand aus niedrigen Gehölzen und Buschwerk. Wie ein Frosch vor dem großen Sprung hockte er da. Die Knie reichten ihm links und rechts bis fast an die Ohren. Obwohl er doch recht gelenkig war, begannen seine Oberschenkel zu kribbeln bis hinab zu den Knien. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte seine schmerzenden Glieder gereckt. Aber er konnte diese unbequeme Sitzposition noch nicht verlassen, ohne sich zu verraten. Auf gar keinen Fall durfte er sein Versteck preisgeben. Da! Schon wieder ein Knacken! Jetzt mehr seitlich von ihm. Das, was sein Opfer werden sollte, pirschte sich am Waldesrand entlang, geschützt von Hecken und Büschen, in Richtung der Hütten. Wulfilas Augen konnten nun dem Punkt, von dem das Geräusch kam, nicht mehr folgen. Langsam drehte er den Kopf in die vermeintliche Richtung. Es war nur ein kurzer Moment, in dem er den Blick vom Weg mit den Büschen in seiner Umgebung abwandte. Die immer stärker einsetzende Dunkelheit zwang ihn dazu, für einen Augenblick angestrengter auf eine Silhouette am Waldesrand zu schauen. Ein Busch? Ein Baum? Oder... Das Gebrüll, kurz hinter seinem Rücken, ließ ihn den Kopf zurückschnellen. Zu spät! Das Schwert traf ihn am rechten Arm. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn. Wulfila sprang aus seiner Hockstellung auf und merkte, dass diese Kauerstellung ihm doch die Blutzufuhr in den unteren Gliedmaßen unterbunden hat. Mit der linken Hand massierte er sich den Arm und mit der anderen umfasste er seine Wade und rieb sie. „Na warte“, sagte er seinem Gegenüber, der mit breitem Grinsen vor ihm stand, „das nächste Mal werde ich dich kriegen“. Lachend, wenn auch ein bisschen ärgerlich darüber, dass er auf den Trick seines Freundes hereingefallen war, boxte er Ansgar gegen die Brust. „Hätte ich ein Schwert aus Eisen gehabt und nicht dieses hölzerne, dann hättest du jetzt einen Arm weniger!“ bemerkte Ansgar. Beide setzten sich auf den Findling, den sie als den ihren ansahen und schauten auf das etwas tiefer gelegene Dorf herab, ihr Dorf am Ufer des Flusses, der ihnen Fische und Wasser gab. Aus einigen der verstreut liegenden Hütten stiegen schmale Rauchsäulen empor. Sicherlich würde es bald etwas zu Essen geben. Dort, wo Wulfila mit seinen Eltern, seiner Schwester, der Großmutter und den vielen Tieren lebte, machte der Fluss eine Biegung in die Richtung, aus der die Sonne schien, wenn sie sehr hoch stand. Nachts sah man an dieser Stelle den Mond. Hier war der Fluss besonders flach und man konnte bequem die Schafe und die anderen Tiere über das Wasser zu den Weideflächen auf der anderen Seite bringen. Hier wuschen auch die Frauen die Kleidung. Manchmal sah man sie auch ihre Haare dort waschen. Brachten die Männer des Dorfes Rehe, Kaninchen oder vielleicht auch schon einmal einen Bär von der Jagd mit nach Hause, so wurden die abgezogenen Felle an dieser Stelle gereinigt. Und wenn die Tage sehr heiß waren, spendete das Wasser hier allen im Dorf Abkühlung.

Trotz des vermeintlichen Durcheinanders der strohgedeckten Holzhäuser war doch eine gewisse Ordnung erkennbar. Im mittleren Bereich gab es einen Platz. Und selbst im Dunkeln konnte man von hier oben aus einen noch dunkleren Fleck, die Feuerstelle, erkennen. Hier traf sich das Thing zu seinen Gesprächen und Beratungen. Hier wurde die Jagd besprochen und hier wurde der Fürst gewählt, der geeignet schien, die Sippe am mutigsten und edelsten anzuführen. Hier wurde viel Met getrunken. An diesem Abend war der Platz aber leer. Außer ein paar Dorfbewohnern, die, vom Fluss kommend, ihn überquerten, um in ihre Hütten zu gelangen. Ein streunender Hund schnupperte an dem schwarzen Kohlefleck in der Hoffnung, dort noch einen Knochen vom vormals im Feuer gebratenen Wildbret zu finden. Doch im Dorf war Ordnung und Sauberkeit höchstes Gebot. Nach Sitzungen oder Gelagen wurde der Platz immer sogleich von allen Essensresten gereinigt. Ein kurzer Tritt eines vorübergehenden Mannes verscheuchte das Tier von der Feuerstelle. Mit eingezogenem Schwanz und kurz aufjaulend verschwand der Hund zwischen den Hütten.

Wulfila und Ansgar - beide kannten sich schon, so lange sie denken konnten - waren die besten Freunde. Heute war es ein besonders schöner Tag gewesen; so saßen die beiden noch auf ihrem Felsen, bis die Sonne in der Richtung unterging, in der so mancher befreundete Stamm lebte, der seine Freiheit nicht mehr genießen konnte, so wie sie hier es taten. Keinem fremden Herrscher waren sie abhängig. Nur ihrer Sippe gegenüber verantwortlich. Und dies sollte auch so bleiben. Die Bergrücken, hinter denen die Sonne nun langsam verschwand, schickten ihre immer länger werdenden Schatten in Richtung Dorf. Schnell verließ die bis dahin wohltuende Wärme die leichte Senke, und Kühle nahm Besitz von der Luft. Um Wulfila und Ansgar herum wurde es immer ruhiger. Auch die Vogelwelt und das übrige Getier, das sich nahe an die Siedlung herantraute, zog es vor, sich aufgeplustert auf den Zweigen oder zusammengerollt in den Erdlöchern zur Ruhe zu begeben. Andere tierische Jäger wurden aber erst jetzt so richtig wach, warteten sie doch auf die Gelegenheit, unter der schlafenden Tierwelt ihre Beute zu machen.

Die beiden Freunde standen auf und schlenderten, ihre Holzschwerter auf den Schultern gelagert, zum Dorf hinunter. Wenn sie doch endlich auch bald ihre eigenen, richtigen Schwerter bekämen oder einen Speer, dann könnten sie mit den Männern ihrer Sippschaft auf die Jagd gehen! Endlich die Kinderspiele hinter sich lassen und wie Männer kämpfen. Sie malten sich die abenteuerlichsten Gefahren aus, die sie dann bekämpfen müssten. Ja, wenn sie erst einmal ihre eigenen Waffen hätten!

Wulfilas Behausung, eine der größten im ganzen Dorf, lag direkt am Versammlungsplatz. Ansgar musste an der Feuerstelle vorbei auf die andere Seite und verschwand hinter einer Hütte, wo seine Familie ein Holzhaus besaß, das nicht ganz so groß wie das seines besten Freundes war. Wulfila schaute ihm noch eine Weile nach. Ansgar war wohl etwas älter als er und für ihn so etwas wie ein Vorbild. Ansgar kannte doch schon so viele Tricks und Techniken des Kampfes. Und erzählen konnte er so, als ob er bei der verwegensten Schlacht dabei gewesen wäre oder aber den stärksten Bär im Kampf mit den bloßen Händen erlegt hätte. Wulfila hörte ihm immer gespannt zu, obwohl er wusste, dass Ansgar die Geschichten doch nur für ihn frei erfand.

Durch die niedrige Tür, die sich beinahe in der Mitte des langgezogenen Baus befand, trat Wulfila ins Haus ein. Rechter Hand lagen die Viehstallungen, die von einem Mittelgang geteilt wurden. Davor, mit Pelzen und Decken belegt, lange Bankreihen, auf denen die Familie sich zur Ruhe legte, in der Nacht der wärmste Ort im Haus. Aus dem Wohnraum zur Linken hörte er Gemurmel und das Knistern des Feuers. Ein feiner, in den Augen beißender Qualm drang durch die Öffnung, vermischt mit dem Duft von gebratenem Fleisch. Wulfila trat ein und begab sich zur Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Seine Mutter kniete vor einem Tongefäß, das auf einem am Rande der Glut aus heißen Steinen aufgeschichteten Sockel stand und rührte mit einem Stab darin. Aus Kräutern, Gemüse und Stücken von gebratenem Fleisch kochte sie eine kräftige Suppe. Großmutter drehte das Kaninchen über der offenen Flamme. Seine kleine Schwester, Helmgard, hockte, einen Holznapf in den Händen, erwartungsvoll neben der Mutter, die ihr mit einer Kelle etwas Suppe in das Gefäß füllte. Mutter murmelte ihr das Rezept dieser kräftigen und wohlschmeckenden Speise zu, in der Hoffnung, dass auch ihre Tochter einmal eine gute Köchin werden würde, gerade so wie sie selbst. Zumindest behaupteten dies andere von ihr, hatte sie doch auch bisher die vielen hungrigen Mäuler ihrer Familie stopfen können.

Man wartete noch mit dem Essen. Vater war schon am frühen Morgen mit anderen Mitgliedern des Stammes zur Jagd in die nahen, das Dorf umgebenden Wälder aufgebrochen. Jetzt, wo es schon dunkel war, würden sie sicherlich bald zurückkommen und mit Glück auch noch einen großen Braten mitbringen, der für den bevorstehenden Winter so wertvoll und notwendig sein würde.

Stimmen wurden draußen laut. Wulfila sprang auf und ging zur Türe, gefolgt von seiner Schwester, die rasch ihre kleine Schüssel abstellte. Mutter schaute den beiden nur kurz nach und wandte sich wieder ihrem Kochgefäß zu. Auch Großmutter blickte kurz auf und drehte dann wieder bedächtig ihr Kaninchen über dem Feuer. Die Männer kamen von der Jagd zurück. Die Stimmen, die die Ankömmlinge draußen eben noch so freudig begrüßt hatten, verstummten nach und nach. Wulfilas Schwester kam plötzlich aufgeregt wieder in die Stube gelaufen und rief, dass Vater verletzt sei. Mutter sprang aus ihrer Hockstellung auf und auch die Großmutter erhob sich rasch, wenn auch schwerfällig, um nach draußen zu kommen. Vater lag auf ein paar zusammengebundenen, knochigen Ästen und blutete stark aus einer tiefen Wunde am Oberschenkel. Mutter lief sofort zu ihm hin und kniete sich neben ihn auf den Boden, nachdem die Träger ihn abgesetzt hatten. Mit ein paar Handgriffen riss sie die ohnehin schon zerrissene Hose auf, um die ganze Wunde frei zu legen. Vaters Gesichtsausdruck war starr. Man konnte sich ausmalen, dass er große Schmerzen haben musste. Ein angestochener Keiler wäre mit seinen Hauern auf ihn losgegangen, erzählten die Jäger. Beim Ausweichen sei er mit seinem Schuhwerk an einer Wurzel hängen geblieben und rücklings auf den Boden gefallen. Im Todeskampf musste das Wildschwein eine enorme Wendigkeit entwickelt haben. Auf kürzestem Raum habe sich der Keiler umgedreht und sei wutschnaubend auf den am Boden liegenden eingedrungen. Mit voller Wucht habe er seine riesigen Zähne in den Oberschenkel seines Widersachers gerammt. Vater hätte kurz aufgeschrieen und sich an die blutende Wunde gefasst. Schon wären die übrigen Jäger mit ihren Speeren zur Stelle gewesen, um sie in das quietschende Tier zu stoßen, das sich gerade anschickte, den Vater von der anderen Seite zu attackieren. Tot sei der Keiler daraufhin neben dem Vater zusammen gebrochen.

Mutter wies die Männer an, den Vater in die Hütte zu schaffen. Sie legten ihn auf eine mit Fellen gepolsterte Bank in der Nähe des Feuers. Mit einem Stück Stoff begann die Mutter, die Haut um die Wunde herum zu reinigen. Sie rief Wulfila zu, er solle zum Druiden laufen und ihn bitten, hierher zu kommen. Großmutter schaute unverwandt auf die nun immer schwächer blutende Wunde am Bein ihres Sohnes. Sie murmelte unverständliche Worte leise vor sich hin und hielt dabei die Handflächen ihrer Hände leicht nach oben. Sie drehte sich langsam vom Krankenbett weg und ging, die Hände immer noch erhoben, zu der Stelle im Stall, an der sie zu schlafen pflegte. Unter ein paar Fellen und Tüchern holte sie ein kleines Säckchen hervor, kam zurück und kniete sich in der Nähe der Feuerstelle nieder. Mit der flachen Hand, so als wolle sie den Boden streicheln, wischte sie eine Stelle vom losen Sand frei, bis der lehmige, feste Boden zum Vorschein kam. Ihr Gemurmel wurde immer lauter. Fast schien sie zu stöhnen. Ihre Augen stierten auf einen imaginären Punkt, als wolle sie Aug in Aug mit den Göttern sprechen. Sie öffnete das kleine Säckchen und griff mit der Hand hinein. Sie hielt kleine Knochen, verdorrte Ästchen und Steinchen zwischen den Fingern. Für einen Augenblick behielt sie die Utensilien noch in ihrer Hand. Ganz langsam senkte sie den Arm, die Handfläche öffnend nach oben, dann hob sie den Arm wieder an, als wolle sie das Gewicht in ihrer Hand bestimmen. Mit einem plötzlichen Ruck dreht sie die Hand nach unten und warf deren Inhalt auf den zuvor geglätteten Boden. Steine, Knochenreste und Hölzer fielen wild durcheinander, blieben über- und nebeneinander liegen und formten sich dabei zu einem undurchschaubaren Bild. Jetzt erst senkte sich der Blick der Großmutter langsam zum Boden, um den kleinen Haufen vor sich zu betrachten. Mit sanften Augenbewegungen tastete sie das Muster vor sich auf dem Boden ab. Bis auf Mutter und Helmgard, die immer noch bei dem unterdrückt vor sich hinstöhnenden Vater knieten und ihm den Schweiß von der Stirne wischten, stand die übrige Familie um die alte Frau an der Feuerstelle herum und sahen fasziniert ihrem unheimlichen Treiben zu. Wusste doch jeder, dass die Großmutter, wie alle alten Frauen im Dorf, über besondere Kräfte verfügte. Ihr Können und das Wissen des Druiden hatte ihnen schon viel Kummer vom Dorf fern gehalten, aber auch verletzte Krieger gesund gemacht - wenn Odin es denn so wollte. Gespannt sahen alle in das fast versteinerte, von tiefen Furchen des Alters durchpflügte Gesicht. Die Alte begann wieder ihr Gemurmel. Sie schaute abwechselnd auf das Häuflein vor sich auf dem Boden, dann zum Vater und dann dorthin, irgendwo in den Raum, wo sich die Götter befinden mussten. In diese spannungsgeladene Stille hinein kam Wulfila mit dem Druiden zurück. Gemächlich schritt der alte, weise Mann mit dem wallenden, weißen Haar zum Verletzten hin. Sein Blick war auf die tiefe Wunde gerichtet, deren Blutung zum Stillstand gekommen war und sich nun von dunkelrot bis schwarz färbte. Vaters Körper zitterte vor Schmerzen. Solche Schmerzen hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Als kampferprobter Krieger hatte er schon häufig Stiche und Hiebe abbekommen, die ihm am ganzen Körper Narben hinterließen. Doch die meisten Verletzungen wurden ihm mit scharfen Waffen zugebracht. Schnittwunden im Fleisch waren zwar schmerzhaft, aber leichter zu behandeln. Mitunter half einfach nur ein fester Verband um die Wunde. Doch sein Bein wurde regelrecht aufgerissen und die Wundränder waren nicht so glatt wie nach einem Kampf.

Am Gürtel des Druiden hing ein kleiner Beutel aus braunem Leder. Zur Mutter hingewandt verlangte er nach heißem Wasser. Seine Hand holte aus dem Säckchen getrocknete Gräser und kleine, rote Früchte heraus. Mit beiden Händen zerrieb er die Kräuter, teilte sie danach auf beide Handflächen auf und hielt sie dicht aneinander, so, als wolle er aus einem Bach oder einer sprudelnden Quelle Wasser auffangen. Dann hob er ganz langsam die Hände zur Decke hinauf und murmelte, mit einer fast singenden Stimme, Verse gen Himmel, die keiner der Umstehenden verstand. Auf und nieder führte er diese Bewegung mit dem Pulver in den Händen und spukte mehrmals, als wolle er einem Widersacher ins Gesicht treffen, auf die zerkrümelte Masse. Mutter stand mit dem Gefäß mit heißem Wasser neben ihm. Der Druide drehte sich zu ihr hin, hielt die Hände über den aus dem Krug aufsteigenden Wasserdampf und ließ die grünbraune Masse hineinrinnen. Mit erstaunten Minen beobachteten die Umstehenden diesen Zauber und sahen plötzlich, wie das schon fast zur Ruhe gekommene Wasser wieder leicht zu brodeln begann. Nur die Großmutter schien nichts zu bemerken - Sie stierte immer noch auf das Häuflein aus Knochen, Ästen und Steinen vor sich auf dem Boden. Ein süßlich, beißender Geruch durchströmte die Hütte. Der Druide hielt immer noch die entleerten Handflächen über den Krug mit der Tinktur, die das Wasser in Bewegung gesetzt hatte und langsam die Flüssigkeit in ein dunkles Gebräu verfärbte. Ein lang anhaltendes Summen kam aus des Druiden leicht geöffnetem Mund hervor. Immer lauter und lauter summte er, wobei er die Tonhöhe immer schneller variierte. Die Augen des Medizinmannes waren merkwürdig nach oben gerollt, so dass man fast nur noch das Weiße der Augäpfel sehen konnte. Für die Kinder, die dieses Ritual zum ersten Male miterlebten, war es ein unheimlicher Anblick, und sie wichen ängstlich hinter die schützenden Körper des Vaters und der Mutter zurück. Plötzlich stimmte die Großmutter in diesen merkwürdigen Gesang mit ein. Sie deutete auf einen Knochen vor sich, der mit seinem dickeren Ende ein Steinchen berührte. Langsam löste der Druide seine vom Wasserdampf befeuchteten Hände vom Krug, drehte sich zur Großmutter und schaute in ihr faltiges Gesicht. Fast würdevoll wandte sie ihren Blick dem Druiden zu und schaute ihm in die Augen. Nach einer Weile des Anstarrens seufzte sie und nickte ihm mit einer langsamen Kopfbewegung zu. Er deutete daraufhin der Mutter an, sie möge ein Tuch bereithalten. Wie in ein Sieb goss er nun die Flüssigkeit aus dem Krug. Zurück blieb eine undefinierbare, aber doch wohlriechende Masse. Der Druide schlang die Enden des Tuches übereinander und verknotete sie. Den so entstandenen Beutel knetete und presste er, wobei immer noch heiße Flüssigkeit durch das Tuch tropfte. Gemächlichen Schrittes begab er sich nun zu der Liege mit dem Verletzten. Er wies einige Männer an, dem Verletzten die Arme und Beine festzuhalten. Unvermittelt drückte er den immer noch dampfenden Sack in die Wunde. Ein gellender Schrei drang aus der Hütte über das ganze Dorf hinweg, so heftig, dass einige Hunde vor Schreck anfingen zu bellen. Selbst die Schafe im angrenzenden Stall blökten und versuchten, wie in Panik über das Gatter zu springen. Vater wurde ohnmächtig und lag nun mit entspannter Miene auf seinem Lager. Mutter tupfte ihm nochmals den Schweiß von der Stirn und wischte ihm mit dem Tuch über sein Gesicht. Der Schwester befahl sie, ein Fell zu holen, mit dem sie den Vater zudeckte. Dem Druiden wurde für seine Hilfe Ziegenmilch angeboten, die er fast mit einem Zug aus dem Beutel leerte. Die Schwester ging langsam zur Großmutter hinüber und hockte sich neben sie auf den Boden. All die magischen Knochen, Äste und Steine wurden wieder in den kleinen Sack gefüllt und zurück an ihren Platz unter dem Schlaflager gelegt. Die Großmutter hatte schon oft mit ihren Weissagungen Kranken geholfen oder aber Vorahnungen gehabt, die das Leben des Stammes immer wieder vor schlimmen Gefahren bewahrte. Großmutters Blick ging noch einmal zu ihrem verletzten Sohn, dessen Gesicht nun ganz entspannt war und dessen Miene sich im flackernden Schein des Feuers laufend zu ändern schien. Erst am nächsten Tag würde man sehen, ob die Tinktur und das Können des Druiden geholfen hätten.

Der Hunger machte sich bei allen nun doch bemerkbar. Mutter zerkleinerte den Hasen und verteilte die Stücke. Wulfila und die kleine Schwester knabberten an den Vorderläufen, während Mutter und Großmutter sich von den weicheren Teilen der Brust und Lenden nahmen. So recht genüsslich konnten sie jedoch nicht das sonst so begehrte Fleisch verzehren. Ihre Blicke wanderten immer wieder hinüber zum Vater. Ein leichtes Beben ging durch dessen Körper und seine Arme zuckten, als wolle er sich vor etwas schützen. Sein Mund bewegte sich, und über seine Lippen kamen unverständliche Worte. Er träumte. Mutter, die ihm am Nächsten saß, beugte sich zu ihm hinüber und tupfte immer wieder Schweiß von der breiten Stirn. Seine langen grauen Haare klebten ihm auf der Haut und umfielen wirr sein Lager.

Wulfila erhob sich und ging zum Stall hinüber, um nach den Tieren zu schauen. Vorher ergriff er aus der Feuerstelle noch ein brennendes Holzscheit, um es als Fackel zu benutzen. Von Gatter zu Gatter ging er und stellte fest, dass sich die Tiere alle wieder beruhigt hatten. Einige Schafe glotzten ihn aus braunen Augen an, andere lagen im Heu, mit dem Rücken zu ihm und schienen zu schlafen. Plötzlich wurde seine Hand von hinten sanft gegriffen. Wulfila fuhr herum und erblickte seine kleine Schwester, in deren traurigen Augen ihre ganze Sorge um den Zustand des Vaters stand. Ihre langen Haare, sie hatten die Farbe von Getreide kurz vor der Ernte, fielen ihr hinab bis zu den Schulterblätter und waren vom Scheitel bis zu den Spitzen leicht gewellt. Sie wird bestimmt einmal eine Schönheit, dachte Wulfila bei sich, strich ihr mit der Hand über den Kopf und ließ sie schließlich auf ihrer Schulter liegen. Sofort neigte sie ihren Kopf an seine Hüfte. Ein leichtes, befreiendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie zu Wulfila hinaufschaute. Arm in Arm machten beide ihre Runde durch den Stall.

Bläulich-weiß schien ihnen der Mond entgegen, als sie zurück zur Eingangstür kamen und herausschauten. Schattengleich sah man ein paar Dorfbewohner über den Versammlungsplatz huschend ihren Hütten zustreben, um darin zu verschwinden. Der Himmel war fast schwarz. Als solle man die Sterne zählen, so standen sie dort oben. Und vor allem: Der Mond! Er war noch nicht kreisrund, eine Seite noch abgeflacht. Zwei Nächte noch und er würde seine volle Größe haben. Dann würden alle Sippenfürsten wissen, dass die Nacht der großen Versammlung gekommen ist. „In zwei Tagen werden sie alle hier in unserem Dorf sein“, dachte Wulfila.

Im fast schon gespenstigen Schein des Mondes und der Sterne erblickten beide den hellen Fleck, der sich am Waldesrand zum Hügel hinaufbewegte. Der Druide! Er war nur Erfüllungsgehilfe bei seinen Taten. Odin war es, der dem Druiden die Kraft verlieh und dem er nun den schuldigen Dank zu entbieten hatte. Sein gemächlicher Schritt führte den Druiden zur Weide hinauf, dorthin, wo die beiden Schimmel, standen und leise schnaubend den alten Mann begrüßten, als ob sie ihn schon erwartet hätten. Ehrfurchtsvoll blieb er vor den edlen Tieren stehen und reckte seine Arme zum Mond empor. Langsam ließ er sie dann wieder sinken und strich dem einen Pferd über die Blesse. Das zweite schüttelte seinen mächtigen Kopf und schnaubte. Als ob es eifersüchtig wäre, bewegte sich das Pferd auf den Alten zu und streckte ihm seinen Kopf hin, um ebenfalls gestreichelt zu werden. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Druiden, der nun begonnen hatte, beide Pferde gleichermaßen zu liebkosen. Sein Blick wanderte über den Rücken der Pferde hinunter in das durch das Mondlicht leicht erhellte Tal auf der anderen Seite, dorthin, wo der kleine Fluss herkam, der, nachdem er seinen Weg um den Hügel gefunden hatte, in einer Krümmung an ihrem Dorf vorbeifloss.

Das gütige, dankbar lächelnde Gesicht des Druiden nahm plötzlich einen ernsten Ausdruck an. Seine Augen waren nicht mehr die Besten. Sah er auf der anderen Seite des Flusses Gestalten? Bewegte sich dort etwas? Die Schimmel schienen die aufkommende Unruhe des alten Mannes zu spüren. Noch immer lagen dessen Hände zwischen den Ohren der Pferde. Ruckartig bewegten sich diese Ohren nun nach hinten und nach vorne, als hätten sie etwas wahrgenommen. Der alte Mann blinzelte zum Fluss hinunter. Waren es Tiere, die dort am Ufer ihren Durst stillten? Nein, die würden sich viel langsamer bewegen! Diese Punkte dort bewegten sich jedoch schnell und zielgerichtet. Des Druiden Blick folgte den Schatten, die sich vom Fluss in Richtung Anhöhe bewegten, dorthin, wo tagsüber die Herden der Schafe hingetrieben wurden, und blieb nun unterhalb der gegenüberliegenden Höhe haften. Dort waren die rätselhaften Schatten plötzlich verschwunden, weil der Mond weiter gewandert war und bald die Stelle des Flusses erreicht haben würde, an der auch die Sonne stand, wenn es sehr heiß am Tage war. Die Hand des Druiden rutschte allmählich von den Köpfen der Pferde, über die Blessen bis hinunter zu den Nüstern, die in gleichmäßigen Abständen leichten Dampf ausstießen. Ohne sich zu rühren, starrte der Druide immer nur auf diese eine dunkle Stelle auf der anderen Seite des Flusses, an der die Schatten verschwunden waren. Dort meinte er, eine Bewegung wahrnehmen zu können. Hätte er nur einmal mit den Lidern gezwinkert, er hätte sofort aus den Augen verloren. Als er noch mit in die Kämpfe zog, wie oft schon hatte er da als Späher durch seine Beobachtungsgabe Schlimmes verhüten können. Doch jetzt begannen seine Augen vor Anstrengung zu tränen. Hörte er nun auch Geräusche? Er fühlte ein Beben in sich, das aber nicht von der nächtlichen Kälte herrührte. Das Beben kam vom Boden her. Er spürte es zuerst in den Füßen. Sein Blick wanderte nun von der gegenüberliegenden Uferseite zurück auf die diesseitige, auf deren Anhöhe er stand. Des Druiden Augenlider begannen nun, nervös zu zucken. Nun wusste er, was das Beben unter seinen Füßen auslöste. Pferde! Es waren Pferde mit Reitern darauf! Mit einem Schlag wurde dem Druiden klar, was er dort sah! Wie zur Bestätigung schaute er noch einmal zum gegenüberliegenden Ufer. Auch dort standen sie! In Reih und Glied! Auf beiden Seiten des Flusses. Silbrigmatt glänzten ihre Rüstungen im fahlen Mondlicht. Römer!

Wie ein Stein im tiefen Wasser

Подняться наверх