Читать книгу Telefónica - Ilsa Barea-Kulcsar - Страница 12

VII.

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Anita hatte den Dienst übergeben und hatte nun eigentlich im Zensurzimmer nichts mehr zu tun. Aber sie konnte sich nicht entschließen, es zu verlassen. Sie setzte sich auf die Kante eines der Feldbetten – Drahteinsatz, zerlegene Matratze, schmutzige Decke – und sah dem Kollegen zu, der im fahlen, engen Lichtkreis der Schreibtischlampe mit den Papieren hantierte. Sie konnte mit diesem jungen Spanier nicht reden, das war klar. Er hatte ein stumpfes, uninteressantes, breiiges Gesicht; er sprach weder Englisch noch Französisch geläufig; er war ein ängstlicher kleiner Ministerialbeamter, der den Einlauf des Tages gewissenhaft durchlas, fortwährend Worte in seinem schlechten Wörterbuch nachschlagend. Mit Anita zu sprechen, kam ihm gar nicht in den Sinn. Und sie fand keinerlei Kontakt mit ihm, sie spürte nur seine Gleichgültigkeit der Arbeit gegenüber und seine Furcht vor allem. Dieser da war fremder als sie in der Telefónica. Sie beobachtete, wie sein runder Schädel in den Lichtkreis tauchte, der alle Züge auslöschte, und wieder in den Schatten zurückkehrte, wo man ihn vergaß, so wenig Leben war in ihm.

In Wahrheit dachte er unablässig daran, wann er für sich und seine Schwester einen Platz in einem Lastwagen zugewiesen erhalten würde, um seine Übersiedlung nach Valencia durchzuführen. Das Ministerium hatte alle Beamten dorthin berufen. Hier konnte man nicht mehr arbeiten, nichts klappte mehr, das improvisierte Büro in der Telefónica funktionierte nach ganz anderen Regeln als den ihm bekannten, die Luft war hier anders. Die Wache unten hielt keine Ordonnanz, sondern ein aufgeregter Anarchist, die Weisungen vom Chef in Valencia kamen nicht pünktlich durch und verloren ihre Autorität. Die Zensur hatte neue Mitarbeiter, wie diese merkwürdige Ausländerin – und man wußte nicht recht, wer hinter ihnen stand. Und dann noch die Bomben, die Granaten, die Massen auf der Straße, die neuen Behörden, die Gewißheit, daß eines Tages oder eines Nachts (vielleicht eben jetzt) Franco neuerlich vorstoßen und durchbrechen wird, und daß man zwischen der Wildheit der Moros und der wilden Brutalität der Verteidiger zugrunde geht; wann, wann endlich würde er einen Platz finden, wann würde das Lastauto des Ministeriums mit den Akten und Kopiermaschinen dieses Madrid verlassen? Hier hatte ja nichts mehr einen Sinn.

Anita vergaß, daß sie nicht allein war, sie ließ sich gehen und versuchte nicht, ihre Gedanken in Ordnung zu halten. Alle Journalisten waren der Ansicht gewesen, daß heute nacht nichts geschehen würde, aber morgen – was wird morgen geschehen? Es ist sicher wahr, man spürt es in den Knochen. Brechen Francos Truppen durch? Wird die Telefónica zerstört und werden wir alle dabei draufgehen? Wird die Verwirrung so sein, daß jede Arbeit unmöglich wird? Wird die Stimmung in Madrid umschlagen? Die Fünfte Kolonne? Flieger?

Sie wußte nicht, was sie mit sich selbst anfangen sollte. Gern hätte sie den Dienst für die ganze Nacht übernommen, nur um hier im Arbeitsraum bleiben, auf diesem jämmerlichen Bett schlafen, Teil dieses Hauses sein zu dürfen.

Sie dachte: Der große Ventilator summt wie ein Flugzeugmotor. Wenn hier eine Granate einschlägt, wird es wenigstens sofort gemeldet; es gibt Menschen, die feststellen, wer man ist. Allein sterben muß scheußlich sein. Es ist zwar gleichgültig, aber ich fürchte mich davor. Warum vor dem Sterben und nicht vor dem Verkrüppeltwerden? Es gibt immer viel mehr Verwundete als Tote. Aber das, wovor ich Angst habe, ist doch das Aufhören. Ich. Das ist jetzt nicht so viel. Man sollte wenigstens hier einen Menschen haben, mit dem man Freund ist. Liebe ist Angst vor dem Alleinsein.

Ich bin eine dumme Gans, wie mir die literarische Bildung im Nacken sitzt. Zitate. Aber warum nicht? Es gibt noch so was von Storm: »Halte fest, du hast im Leben doch am Ende nur dich selber.« Das ist wahr, aber ich will nicht, daß es wahr sei. Wahr sei – komisch, daß ich in runden, grammatikalisch korrekten Sätzen denke. Aber wenn man sich zuhört, denkt man immer in Sätzen. Oder in stenographischen Siglen. Sicher will ich mich jetzt an etwas festhalten, was klare Form hat. Ich habe Angst vor dem Alleinsein. Deshalb arbeite ich so. Warum bin ich hier? Warum muß ich hier sein? Er läßt mich nicht aus, ich kann nicht weg, auch wenn ich will, ich bilde mir ein, daß ich hierher gehöre. Aber es ist wahrscheinlich ein Unsinn. Wichtigkeit – Pressezensur! Aber – machen, daß die draußen wissen, was hier los ist. Daß man kämpft. Damit es nicht umsonst ist. Das Schreckliche ist, wenn es umsonst ist. Oder nicht? Ich weiß es nicht mehr recht. Man muß tun, was man für recht und richtig hält, man muß leben und sterben, wie man es ganz ehrlich will. Aber was ist ganz ehrlich? Ich mag kein politisches Wort mehr denken. Aber es gibt doch so was wie Freiheit und Würde. Hältst du dir politische Reden, meine Liebe? Weil du allein bist? Ich müßte doch spüren, daß Georg an mich denkt, daß ich einen Menschen habe. Sie versucht, sich ihren Mann vorzustellen und zärtlich an ihn zu denken. Aber es war gewolltes Denken. Sie fand plötzlich, daß er zu jenem anderen Leben außerhalb von Madrid gehörte. Sie sagte sich vor: »Liebling, lieber Junge, sei nicht bös auf mich, ich hab dich doch sehr lieb, denk an mich …« Aber es gab ihr keine Wärme, es war eine allzu bewußte Anstrengung, so, als ob sie die vertraute Anhänglichkeit ihres Mannes wie einen schützenden Mantel über sich hätte breiten wollen. Sie erschrak über ihre eigene kühle Losgelöstheit und sprach plötzlich, ohne es zu wissen, laut aus: »Nein, so nicht, nein.«

Der Zensor blickte erstaunt auf. Die Ausländerin saß dort auf dem Bett, in ihrem dicken, häßlichen Mantel zusammengesunken. Das Gesicht sah er nicht, es war ihm auch lieber so; es hatte mit ihr nichts zu tun und sie sollte endlich nach Hause gehen. Er überlegte sich einen französischen Satz mit nicht zu schwieriger Aussprache und sagte endlich: »Madame, haben Sie Angst, allein ins Hotel zurückzukehren?«

Anita fuhr in die Höhe wie ein Schulmädchen und antwortete: »Ich – ich habe gar keine Angst. Ich ruhe mich nur aus, bevor ich zur Konferenz mit dem Kommandanten Sánchez gehe.« So, da hatte er es. Aber im gleichen Augenblick kam sie sich lächerlich vor und das gab ihr die innere Heiterkeit und Ruhe zurück. Unbefangen blieb sie noch einige Minuten sitzen und überlegte nun wirklich das kommende Gespräch mit dem Spanier. Gut, daß sie das noch vor sich hatte, der Mann war nicht so übel, mit ihm würde man wenigstens auf gleicher Ebene stehen. Nicht so wie die Journalisten, die eigentlich alle zu den anderen, den Gegnern, gehörten, weil sie Angst hatten, ihre Distanz zu den Dingen zu verlieren.

Ja, nun wollte sie sich doch zuerst ein wenig menschlich herrichten. Die Nase pudern, die Hände waschen. Wie lächerlich es ist, in einem fremden Land die Toilette zu finden. Sie fragte den Zensor, aber sie verstand ihn nicht recht. Macht nichts, sie würde eben gleich in den achten Stock gehen.

Anita schritt rasch durch den dunklen, engen Korridor, vorbei an einer schattenhaften, schnarchenden Ordonnanz, fand die kleine Seitentür und stand plötzlich im lichtlosen Treppenhaus. Sie mußte die Tür noch einmal öffnen, um sich zu orientieren und nicht in ein schwarzes Nichts hineinzugehen; dann tastete sie sich langsam aufwärts, der Mauer nach, die Aktentasche fest unter den Arm gepreßt. Oben klappte eine Tür, Schritte kamen die Wendeltreppe herab, unvermutet stach ein Lichtstrahl wie ein Speer durch das Dunkel. Sie blieb dicht an der Wand stehen und ließ einen Mann an sich vorbei, von dem sie nichts sah als die Taschenlampe, eine Hand, einen Ärmel. Einen Augenblick lang fiel ihr der Lichtstrahl direkt in die Augen – sie fühlte sich hilflos ausgeliefert.

Hier muß man eine Taschenlampe haben. Diese Stiege gefällt mir nicht. Revolver – nein, Unsinn, keine Heldenromantik.

Die Telefónica war leer und still. Die Maschinengeräusche zerstörten diese Stille nicht, sie liefen vielmehr neben ihr her und machten sie noch drückender. Der Ventilator summte, man konnte dem Ton nicht entrinnen. Ein Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, das surrte durch die hohen Schächte. Anita drehte sich um und ging blind tastend die Stufen abwärts, zurück in den fünften Stock. Als sie dort die halbdunkle Halle betrat, war sie erleichtert. Das war ihr Stockwerk und hier waren Menschen: eine alte Frau auf einem kleinen Schemel in der Ecke – schwarzes Kleid, weißes Haar, geduldige Müdigkeit, schläfriges Lachen, wie eine Theatergarderobiere. Wo ist nun wirklich die Toilette? Wie heißt Toilette auf Spanisch, oder meinetwegen Abort?

Als sie zögernd dort stand, kamen einige Telephonistinnen aus dem Korridor, in schwarzen Kitteln, die Telephonhörer noch auf dem Scheitel. Sie schritten plaudernd an Anita vorbei, sie unverhohlen musternd. Schichtwechsel: sie gingen sich waschen. Anita ging ihnen nach. Dabei entdeckte sie, daß die alte Frau tatsächlich so etwas wie eine Toilettenfrau war (blödsinnig kompliziert sind solche wichtigen Kleinigkeiten in einem fremden Land mit fremder Sprache!), und fand sich in einem weißgekachelten Waschraum.

Im Waschraum packte sie langsam, um ihre Nervosität zu überwinden, Handtuch, Kamm und Puderdose aus, unter dem Kreuzfeuer dreister unfreundlicher Augen. Alle Frauen im Raum musterten die Fremde. Die Telephonistinnen hatten die schwarzen Kittel abgelegt und aus den Stahlschränken des Nebensaales ihre Toilettensachen geholt. Eigentlich gingen sie nun alle schlafen, aber sie schminkten sich vorher. Im Spiegel beobachteten sie Anita.

Anita versuchte ehrlich, eine von ihnen nett und sympathisch zu finden, aber es gelang ihr nicht. Sie war sich der Tatsache bewußt, daß sie diesen Spanierinnen wie ein fremdartiges Tier vorkam. Aber das wußte sie doch nicht, wie reizlos sie ihnen erschien. Und sie hatte keine Ahnung von der Besorgnis, mit der sie die Jüngeren betrachteten, um herauszufinden, ob diese Ausländerin nicht am Ende doch unbekannte und gefährliche Waffen besäße; denn die Männer laufen ja manchmal merkwürdigen fremden Dingen nach.

Anita ihrerseits hätte gern den Spanierinnen, deren Augen sie im Spiegel begegnete, erklärt, daß sie bei ihren Männern (bei Männern, denen diese Frauen gefielen) weder Chancen hatte noch Chancen haben wollte. Sie las die Abneigung überdeutlich in diesen Blicken. Das war eine geschlossene Front gegen sie.

Vergebens suchte sie eine kleine Genossin unter all den harten Gesichtern. Sie hatte bei keiner ein wärmeres menschliches Gefühl. Sie schienen ihr so gleichartig. Fast alle hatten regelmäßige, einige hübsche Züge. Alle hatten die gleiche Haarpracht: viele kleine unnatürlich steife Locken im Nacken, glatter Scheitel, die Ohren frei, sehr gute Kopfform. Alle hatten schöne, große Kuhaugen. Alle waren dunkelbraun, und ihre Haare klebten aneinander wie geleimt. Zwei ältliche Frauen hatten saure, böse Gesichter, aber der gleiche harte Zug zeigte sich schon bei den jungen. Ein ganz junges Mädchen war sehr hübsch, aber sie hatte sich einen lächerlichen Herzmund geschminkt, und man vergaß ihr Gesicht, sobald man es nicht mehr sah.

Ich bin doch um Gottes willen nicht ungerecht, weil Frauen hübscher sind als ich? dachte Anita. So bin ich doch eigentlich nicht. Aber die da gefallen mir ganz einfach nicht, sie sind ganz ohne Nuancen und haben grobe Stimmen und steife Körper mit angelernten Reizbewegungen. Anita überließ sich einer primitiven Abneigung, vermischt mit Enttäuschung über die ungewohnte Antipathie, die sie selbst hier erregte.

Dann kam eine herein, die etwas anders war: sie bewegte sich sehr gut, wenn auch pfauenhaft bewußt, hatte ein blasses, übermäßig geschminktes Gesicht mit groben, unruhigen Zügen, flackernden und fordernden Augen, einem unzufriedenen, vollippigen Mund. Nicht uninteressant, nicht unintelligent, aber ein Luder, schätzte Anita.

Paquita streifte die Fremde mit einem langsamen Blick, schaute noch einmal rasch in die ruhigen grauen Augen (nicht so ganz außer Konkurrenz, wie man zuerst glauben möchte, dachte sie) und begann dann das Ritual des Schminkens und Brauenzupfens. Die Haare mit dem nassen Kamm in die exakten Locken und Ringel zu legen, dauerte einige Minuten. Sie wußte zwar im Grunde genau, daß sie heute in ihrem täglichen Gefecht mit Agustín verloren hatte, aber sie konnte ihm doch zufällig auf dem Korridor begegnen. Oder bei einem Alarm. Immer mußte sie auf der Hut sein, das machte sie müde und ärgerlich.

Diese Ausländerin, war das die Neue in der Zensur? Dann würde sie sicher mit Agustín zu tun haben. Aber sie war zuwenig Frau für ihn – wahrscheinlich. Sie hatte blasse Lippen, sie trug die Haare achtlos nach hinten gekämmt wie die dummen, kleinen Mädchen in den revolutionären Jugendorganisationen, die so etwas kommunistisch finden, und wie die alten Jungfern mit geistigen Interessen. Da fuhr nun die Ausländerin zweimal mit dem trockenen Kamm durch ihre dicken, knisternden Haare (wie trocken sie sein mußten – ungeschickt war doch diese Frau!), puderte sich die Nase, putzte sich die Nägel (keine Maniküre) – und das war alles. Soldatenmantel und Aktentasche – aber gescheit und energisch sieht sie aus –, na, sie wird schon wieder gehen, sie wird sich hier lächerlich machen, dachte Paquita, und schritt mit einem schrägen Blick an Anita vorbei in den Schlafsaal der Mädchen vom Nachtdienst. Dort sagte sie:

»Habt ihr gesehen, wie die Ausländerin geht? Als ob sie keine Hüften hätte. Und dabei ist sie dick und plump, und alt. Na …«

Als Anita im achten Stock den Vorraum der Kommandantur betrat – sie war mit dem Lift hinaufgefahren, um die Treppen zu vermeiden –, sagte ihr die Ordonnanz etwas Unverständliches, in dem sie nur das Wort Comandante auffing. Sie versuchte, ihr Anliegen auf Spanisch zu erklären: »Ja, der Comandante sagt, ich kommen, jetzt.«

»No, no, no«, antwortete Pepe und begann von neuem eine lange Rede, diesmal langsamer und mit vielen dramatischen Gesten. Anita begann zu verstehen, daß eine Frau – »Doña Pepa« – beim Comandante sei und sie hier warten solle. Ihr fiel das »Doña« und die Grimasse des Alten umso mehr auf, als er sie, Anita, dazwischen freundlich angrinste und mit »Camarada« ansprach. Sie setzte sich also und lächelte den alten Pepe so herzlich und unbefangen an, daß er in sich beschloß: die ist sympathisch und eine gute Frau. Wie kann ich sie unterhalten, während dieses Frauenzimmer, die Pepita, beim Agustín ist und ihm die Hölle heiß macht?

Ihm fiel das Granatloch im achten Stock ein; vielleicht hatte sie so was noch nicht gesehen. Er stand auf, sprach ein paar Worte sehr laut, wie zu einer Schwerhörigen, winkte, lachte, nahm schließlich Anita bei der Hand. Sie lachte auch, verstand das Wort »Obús«, Granate, vom Französischen her und überließ sich der Führung dieses ersten freundlichen Spaniers, den ihr der heutige Tag gebracht hatte. Sie vergaß dabei ihre Verstimmung darüber, daß sie nicht gleich mit Sánchez sprechen konnte und daß in seinem Zimmer wieder eine dieser Spanierinnen ihr ein böses Gesicht zeigen würde. Eine Frau bei diesem strengen Mann – schade.

Pepe führte Anita in ein dunkles Zimmer, mit zerbrochenen Scheiben, feucht und kalt. Wieder nahm er ihre Hand, legte sie auf die Stelle, wo der Fensterrahmen und die Ziegelmauer zerrissen waren, knipste für einen Augenblick lang mit größter Vorsicht, dicht über dem Boden, seine Taschenlampe an, um ihr die Ziegelbrocken und Sprengstücke zu zeigen. »Heute abend«, sagte er. Sie verstand ihn, sie hatte ja die Meldung gelesen, hob ein Stück Stahl auf und fuhr mit dem Finger über die Zacken.

»Nicht Menschen«, sagte sie im Ton der Feststellung »keine Toten, gut.« Pepe war sehr zufrieden. Die Frau da zeigte ein vernünftiges, sachliches Interesse, ohne Übertreibung. Nachdem sie mit sorgfältiger Aussprache »Gracias«, Danke, gesagt hatte, gingen sie als gute Freunde in den Vorraum zurück und führten dort eine lebhafte Unterhaltung. Pepe begann ihr zu erklären, daß die Frau da drinnen »nicht gut« sei, der Comandante »sehr gut«. Anita wollte wissen, was er selbst sei, aber sie bekam seinen Zivilberuf nicht heraus. Arbeiter, und zwar qualifizierter Arbeiter, das war klar. UGT, nach dem Abzeichen. Alter Gewerkschafter, genauso wie die braven Freunde in der Heimat. Er war ihr nicht fremd. Sie war ihm dafür so dankbar, daß sie sich darauf konzentrierte, in den abgebrochenen, lächerlich falschen spanischen Sätzen, die sie sagte, und in ihren Gesten etwas von ihrer Persönlichkeit auf ihn wirken zu lassen. Sie wußte nicht, wie stark diese Wirkung wurde und wie bedingungslos der alte spanische Arbeiter sie akzeptierte.

Agustín riß die Tür auf und rief: »Pepe, ein Glas Wein!« Sein Haar war in Unordnung, er hatte ein flackerndes Gesicht. Anita hatte das unangenehme Gefühl, es hätte sich da drinnen eine Liebesszene von der Art abgespielt, die die Beteiligten häßlich macht. Das tat ihr leid, sie hätte den Mann lieber nicht so gesehen. Um unbemerkt weggehen zu können, verhielt sie sich ganz still und rechnete mit dem Halbdunkel und der Zerstreutheit des Kommandanten.

Aber sie hatte alles falsch verstanden. Agustín war verzweifelt angewidert und wollte eben seine Frau daran hindern, in einen neuen Gefühlsausbruch und in ein neuerliches, eindeutiges Sich-ihm-Anbieten hineinzugeraten. Er versuchte die Ausrede, die Tür aufzumachen und Pepe als Dritten, als mäßigenden Zeugen auszunützen. Wein hatte er im eigenen Schrank. Als er Anita in der Ecke sitzen sah, empfand er ein Gefühl der Erlösung. Das war nun keine Ausrede, das war eine wirklich sachliche Notwendigkeit. Er mußte mit dieser Deutschen sprechen, er hatte sie hierherbestellt. Sie war so ruhig und klar, daß sogar Pepita ihre Szene würde abbrechen müssen. Agustín ging also mit ausgestreckter Hand auf Anita zu:

»Ja natürlich, Genossin, warum sind Sie nicht schon längst hereingekommen? Pepe, du Esel, warum hast du die Genossin draußen warten lassen?«

Anita stand auf, sie hatte alle Freude an diesem Gespräch verloren: »Ich wollte ohnehin gerade gehen, Sie haben Besuch.«

»Nein, nein, das ist nur meine Frau, und ich habe schon auf Sie gewartet.« Er hatte in der letzten Stunde sicher nicht an die Fremde gedacht, aber nun schien es ihm, als ob er tatsächlich auf sie wie auf ein Stück gesunden, normalen Arbeitslebens gewartet hätte. Das quälende Ringelspiel mit seiner Frau – Geld, Schlafengehen, Eifersucht, Geld, Eifersucht, Schlafengehen, Dummheit, Geld – war zu Ende. Er bemerkte die Zurückhaltung Anitas nicht, er war so eifrig, daß sie ihm folgen mußte.

Nun stand sie im Zimmer und sah das undeutliche Licht auf eine kleine, magere, dunkle Frau fallen, die eine ganz gerade Nase und einen ganz schmalen Mund und ganz abfallende Mundwinkel hatte. Sie gehörte offenbar zu denen aus dem fünften Stock, aber sie sah dümmer und weit weniger hübsch aus als der böse Pfau da unten. Das war die Frau dieses Mannes? Schade, sehr, sehr schade. Anita wandte sich mit einem so aufrichtig betrübten fragenden Blick Agustín zu, daß dieser ihr am liebsten laut gesagt hätte: Ja, leider ist das wirklich meine Frau.

Pepita fragte mit ihrer unbeherrschten Stimme, die zugleich scharf und rauh war: »Ja so, du hast also Damenbesuch?«

Agustín antwortete ihr nicht, er stellte die beiden einander auf Französisch vor (Pepita verstand nur die Handbewegung) und sagte dann schroff zu seiner Frau: »Sie ist die neue Zensorin; ich habe ernst mit ihr zu reden, stör mich nicht. Und benimm dich.«

»Damit du mit ihr allein bleiben kannst, soll ich fortgehen, das meinst du wohl mit deinem ›Nicht-Stören‹? Daß ich dumm wäre. Und, Agustín, diese Frau ist dir gefährlich.« Pepa hatte gesehen, mit welcher Freundschaftlichkeit ihr Mann die Fremde hereinbegleitet hatte; sie hörte einen ihr unbekannten Ton in seiner Stimme – so etwas konnte nur eine Bedeutung haben.

Er antwortete wiederum nicht, sondern sah Pepita nur mit ausdruckslos harten Augen an. Die Deutsche, die Genossin Anita, verstand vielleicht mehr Spanisch, als sie zeigte.

Aber schon sagte Anita sehr betont: »Wir werden morgen sprechen, Comandante, heute haben Sie wirklich keine Zeit. Ich bin überhaupt müde.« Sie wollte den traurigen, bösen Augenausdruck des Mannes und die gierige, verbissene Eifersucht der Frau nicht mehr sehen. Sie wollte an die Arbeit, an den Kampf denken, das war sauberer.

Aber Agustín schien es, als müßte er noch heute mit Anita reden, sonst ginge etwas Wichtiges verloren. »Nein, wir wissen nicht, ob morgen Zeit dazu bleibt. Weißt du« – er merkte den Wechsel der Anrede gar nicht –, »morgen werden große Luftangriffe und Vorstöße an allen Fronten erwartet. Es wird ein schlimmer Tag. Du wirst vielleicht den ganzen Tag und die ganze Nacht Zensurdienst machen müssen, denn du scheinst die einzige zu sein, die wirklich Englisch kann. Aber es wird schwer für dich sein, keine Dummheiten zu machen. Du bist viel zu freundlich mit den Journalisten und du glaubst den Leuten alles, was sie sagen, das sieht man. Ich möchte jetzt, daß du mir deine ersten Eindrücke über die Presseleute sofort und exakt beschreibst, und daß du mir außerdem die Prinzipien erklärst, nach denen du zensurierst.«

Während er sprach, dachte er an die Möglichkeit, daß diese Frau eine Spionin sei, aber er rief sich das eben nur als eine theoretische Möglichkeit ins Gedächtnis, ohne irgendein Gefühl der Wirklichkeit. Hinter dem, was er sagte, und hinter dem anderen, was er dachte, lief durch sein Bewußtsein ein Erstaunen über seinen Wunsch, diesem fremden Menschen vertrauen zu können, und eine frohe Erwartung.

Dieses Erstaunen und dieser Wunsch beherrschten ihn während des ganzen, zwei Stunden dauernden, angestrengten Gesprächs. Beide, Anita und er, hatten den Müdigkeitspunkt überwunden und waren überwach geworden. Beide waren bemüht, ihre Lieblingsvorstellungen über Presse, Propaganda, Agitation und Spionage auseinanderzusetzen. Sie merkten nicht, wie oft sie den gleichen Ausdruck für ganz verschiedene Begriffsreihen verwendeten, sondern waren im Gegenteil immer wieder erstaunt, wie oft sie das gleiche sagten. Wenn das geschah, unterbrach sich der von ihnen, der gerade am Reden war, und warf dem anderen einen herzlichen Blick zu. Mehrmals stritten sie endlos über einen Punkt, der sich zum Schluß als gegenseitiges Mißverständnis herausstellte. Und immer wieder dachte der eine über den anderen: Wie kommt das, da haben wir die gleiche Angst, die gleiche Frage, die gleiche Begeisterung empfunden?

Es lief irgendein schwer zu fassendes Grundgefühl bei den beiden gleich, nicht etwa das Denken. Aber da jeder von ihnen seine eigene Einsamkeit und Andersartigkeit so tief und schmerzlich empfunden hatte, genügte diese Gemeinsamkeit, um den Anfang einer Gemeinschaft herzustellen. Der nächste Tag würde sehr hart sein: es schien ihnen gut, ihn wenigstens auf diesem einen, engen Gebiet vorzubereiten. Es tat ihnen gut, einmal ohne Hintergedanken reden zu können.

Pepita saß stumm und verbissen daneben. Sie horchte auf den Tonfall, sie beobachtete die Blicke, sie verstand nichts als das eine, daß da irgendetwas ihr Neues, Feindseliges am Werk war. Nicht einmal ihre stets wache Eifersucht konnte einen verräterischen Klang erhaschen – um so schlimmer, um so gefährlicher. Sie fühlte sich hilflos. Hier stand sie draußen, nicht die Ausländerin.

Als sich Anita erhob und Agustín ihr ohne besondere Höflichkeit in den plumpen Mantel half, folgte Pepita stumm. Agustín nahm dies mit einem achtlosen, aber freundlichen Kopfnicken zur Kenntnis. Er rief Pepe, der Anita über die Straße begleiten sollte, aus dem Schlummer und sagte zu seiner Frau: »Geh schlafen, und geht morgen nicht aus dem Keller, du und die Kinder.«

Pepa fand sich ohne eine Möglichkeit der Erwiderung im Lift, zusammen mit der Ordonnanz – sie haßte Pepe – und dieser Ausländerin, die sie zu fürchten begann.

Sie sprach kein Wort, auch nicht beim Auseinandergehen, und lief rasch die Kellerstiege hinab. Dort unten war wenigstens Licht. Aber in diesem Hause durfte sie nicht lange bleiben, sie hätte nicht kommen sollen. Agustín mußte weg, weg, weg …

Anita grüßte die Wachen, sie grüßte den Einarm, sie hätte am liebsten die Telefónica gegrüßt. Denn sie spürte, daß sie morgen bei der Rückkehr in die Arbeit keine Fremde mehr sein würde. Sie wußte, daß sie morgen, gerade in harter Arbeit und großer Gefahr, das Leben und die Kraft in sich dreifach stark fühlen würde.

Vom anderen Straßenufer aus sah sie die große, glatte Wand und den schmalen Turm der Telefónica geisterhaft blaß aus dem Dunkel tauchen.

Telefónica

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