Читать книгу Telefónica - Ilsa Barea-Kulcsar - Страница 6
Erster Teil I.
Оглавление»Ist es wahr, daß man nicht mehr getroffen werden kann, wenn man die Granate pfeifen hört?« fragte Johnson.
Er ging mit Simms und Warner durch die Calle de Alcalá mit dem Gefühl, ein unerforschtes Dschungel zu durchqueren. Es war der 16. Dezember 1936. Er war in Madrid und man erwartete in seiner Redaktion von ihm, eine Serie von Berichten über die Verteidigung und bevorstehende Eroberung der Stadt zu erhalten. Vor fünf Tagen war er noch in London gewesen; das schien ihm phantastisch.
»Ja, es ist wahr«, antwortete ihm der kleine Warner, der sich selbst mit Vorliebe an dieses Stück Beruhigung klammerte. »Ich hoffe es wenigstens.« Das Mausgesicht mit den lebhaften Augen war erfüllt von innerer Spannung, alle Muskeln spielten unter der Haut: Warner war schon drei Monate als Kriegsberichterstatter in Madrid.
Von irgendwoher kam ein dumpfer Krach.
»Das ist Richtung Plaza de Callao«, sagte Simms, der seit fünf Jahren in Madrid lebte und jede Gasse kannte und liebte. »Klingt wie großes Kaliber … Nein, das mit dem Pfeifen ist eine Legende. Man kann sich auf nichts verlassen. Man weiß nie, ob es einen erwischt oder nicht.«
Sie gingen schweigend weiter.
»War das jetzt eine Granate?« fragte Johnson. Sein feines Intellektuellengesicht unter dem strohblonden Haar drückte nur Neugier aus, aber innerlich fragte er sich völlig ratlos: »In was für eine Welt bin ich geraten?«
Warner hatte es für eine Granate gehalten, aber er zog es vor, zu sagen: »Nein. Übrigens, wenn Sie eine Explosion in der Nähe hören, werfen Sie sich auf den Boden, Johnson.«
»Das haben mir jetzt schon alle Leute gesagt. Ich glaube, ich werde auf diese Art meinen Anzug ruinieren«, sagte Johnson. Was für eine Pose, das zu sagen, dachte er, und fügte laut hinzu: »Na, es ist mein erster Tag in Madrid.«
Sie bogen in die Gran Vía ein.
»Dort ist die Telefónica«, sagte der kleine Warner. »Sie wissen, die Telephonzentrale. Gehört den Amerikanern, jetzt ist sie von der Republik angefordert und unter die Kontrolle der Militärbehörden gestellt worden. Schauen Sie das Haus gut an, Johnson, dort werden Sie von jetzt an den Hauptteil Ihrer Zeit verbringen. Die Presse und die Zensur sind dort zu Hause. Es ist das höchste Haus von Madrid und die beste Zielscheibe für die Nationalisten.«
Johnson betrachtete den großen weißen Block mit den konventionellen Türmchen auf dem Sims des Daches.
»Warum arbeitet die Presse dort, wenn das Haus so gefährdet ist?« fragte er und dachte an seine Freundin Anita, die seit heute in diesem Gebäude zu sitzen hatte, als Zensor – unangenehmer Beruf! –, als Zielscheibe.
»Wir können nur von dort aus mit dem Ausland telephonieren«, erklärte Simms, der, schweigsam wie immer, mit langen, ruhigen Schritten an Johnsons Seite ging. »Deshalb hat man uns ein Arbeitszimmer eingerichtet. Das ist immerhin noch sicherer, als mit jeder einzelnen Nachricht durch diese Straße zu gehen. Es ist kein angenehmer Weg.«
»Die Telefónica ist außerdem der Beobachtungsposten für den Generalstab«, sagte Warner, der immer das Bestreben hatte, sich als gut informiert zu zeigen, gerade weil ihn die Kollegen wegen seiner Jugend nicht recht für voll nahmen. »Wenn man aufpaßt, was im Hause vorgeht, kann man allerlei erraten. Nur ist die Zensur dumm und die Anarchisten verrückt vor Spitzelfurcht.«
Ein feines, langgezogenes Pfeifen: die drei spannten alle Nerven an, um auf die Explosion vorbereitet zu sein.
Es kam keine Explosion. Nur ein dumpfer Schlag. Eine leichte Staubwolke stob aus einem der gegenüberliegenden Dächer.
»Blindgänger«, konstatierte Simms. »Sonst wäre es für uns nicht vorteilhaft gewesen. Die Granatsplitter fliegen weit.«
Der kleine Warner war etwas rot im Gesicht. »Ich bin immer froh, wenn ich diesen Weg hinter mir habe«, sagte er.
Johnson schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Er sah die Vorübergehenden an – Soldaten. In zusammengestoppelten Uniformen, Mädchen auf hohen Stöckeln, mit komplizierten Lockenfrisuren und grell geschminkten Lippen – und fragte: »Gewöhnt man sich daran?«
»So schlimm ist es erst seit acht Tagen, seit dem 7. November. Ich weiß es noch nicht«, antwortete Simms, dessen hageres Gesicht mit den unerwartet dunklen Augen gleichmütig geblieben war.
»Habt ihr Angst?« bohrte Johnson. Er wollte diese merkwürdige Luft verstehen.
»Jeder hat Angst!« rief Warner. »Sie werden schon merken, was Madrid ist – wenn Franco Ihnen Zeit dazu läßt. Am ersten Tag ist jeder nur verblüfft, später kommt der Ernst.«
»Gehen wir lieber rasch«, sagte Simms.
Die Explosion kam unerwartet, von keinem Pfeifen angekündigt. Zuerst etwas wie ein Schlag, dann der Krach selbst und der Luftdruck und das Klirren von Glas und das Fallen von Steinsplittern. Jeder fühlte den Schlag am eigenen Körper, fühlte das Herz im Leibe beben und fühlte das Gehirn stocken, auf das Unbekannte wartend.
Warner warf sich zu Boden, Simms drückte sich in eine Ladentür. Johnson fand sich allein, mit klopfendem Puls und einem saugenden Gefühl in der Magengrube, allein mitten auf einem plötzlich leeren Gehsteig. Dreißig Meter weiter weg rollte eine träge schwarze Wolke auf der Straße, breitete sich aus und verdünnte sich zu grauem Rauch.
»Das also war eine Granate«, sagte er sich laut vor. Durch den grauen Rauch sah er dunkle Figuren sich bewegen. Von irgendwoher, aus allen Haustoren kamen Menschen und gingen eilig weiter. Er hörte Rufe, die er nicht verstand, und kam sich todeinsam vor.
»Meine Feuertaufe als Kriegsberichterstatter«, sagte er mit erstauntem Augenausdruck zu Johnson. »Ich habe nicht viel Angst gehabt.«
»Schnell, jetzt haben wir vielleicht ein paar Minuten Zeit«, antwortete der andere nur. Warner eilte ihnen schon voraus.
»Ist das alle Tage so? Wie halten das die Leute aus?« fragte Johnson etwas außer Atem.
»Man hält es aus.« Simms, groß, mit langen, hageren Gliedmaßen, machte gleichmäßige, gemessene Laufschritte und sprach dabei ganz ohne Hast. »Wir sind hier für Zeitungen. Die Spanier für ihr Leben.«
Giftiger Qualm hing noch immer in der Luft; die Abenddämmerung hatte die Straße mit einem nebelhaften Grau erfüllt; alles schien wie in einem bösen Traum.
»Hier ist jemand getroffen worden!« rief Warner, der stehengeblieben war. Neben dem lichten Fleck im Straßenpflaster, wo der Stein aufgerissen war, stand eine kleine, dunkle Lache.
»Steigt nicht hinein, mir ist es einmal passiert und es hat mich ganz krank gemacht«, sagte Warner leise.
»Wie weit ist es zur Telefónica?«
»Ein paar Minuten. Ein paar hundert Meter. Das ist weit. Gehen wir«, antwortete Simms.
Sie gingen langsamer als vorher, nicht rascher. Johnson stellte es fest. Wollen wir uns beweisen, daß wir keine Angst haben? fragte er sich und meinte dann: »Material für meinen ersten Artikel aus Madrid. Eine andere Welt.«
»Eine fremde Welt«, sagte Warner. »Wir verstehen sie nie ganz. Vor acht Tagen haben wir gewettet, daß Madrid über Nacht fallen wird. An den Sieg können sie nicht glauben, warum machen denn diese Leute nicht Schluß?«
»Kommen Sie, Johnson, trinken Sie einen Whisky!« Simms ging den beiden voraus in die menschenerfüllte Bar des Hotels Gran Vía. »Trinken Sie eins auf das Wohl der Telefónica, daß sie nicht zu oft getroffen wird.«
Den halbrunden Bartisch entlang saßen lärmende Soldaten und ein paar Mädchen, nicht sehr hübsch, zu geschminkt, dachte Johnson. Er hörte ein Rattern und wusste nicht, ob es ein Maschinengewehr oder ein Motorrad sei. Niemand drehte sich um. Nur Simms fing den fragenden Blick auf und sagte: »Das ist die Front. Anderthalb Kilometer straßenabwärts. Wenn nicht schon weniger. Aber heute ist ein stiller Tag.«
»Stiller Tag, stiller Tag, im Westen nichts Neues«, sagte Johnson. »Ich glaube, im Krieg ist die ganze Welt etwas verrückt. Das ist heute also ein stiller Tag, zu meinem Empfang in Madrid. Ich beginne Spanisch zu lernen.«
Sie tranken. Alle die anderen auf den hohen Barschemeln tranken Wein. Sie machten viel Lärm; Johnson ärgerte sich, so gar nichts zu verstehen, und hatte einen Anfall von Unwillen gegen diese unverständlichen fremden Menschen.
»Wie erfährt man die offiziellen Nachrichten?« fragte er.
»Am besten, man geht in die Telefónica und macht dann einen Spaziergang an die Front. Aber da steckt die eigentliche Sensation, Johnson, in diesen Leuten und in diesen Straßen hinter der Front.« Simms wurde einen Moment lebhaft. »Und in der Telefónica.«
»Laufen wir über die Straße, bevor die Batterie wieder schießt. Habt ihr nicht die letzten Krache gehört, gerade jetzt?« schrie Warner durch den Lärm. Er hatte sich in die Tür gestellt und kam hastig an den Bartisch zurück.
Sie waren schon auf der Straße und kreuzten sie eilig. »Ich habe nichts gehört, ich kenne die Kriegsgeräusche noch nicht gut genug«, sagte Johnson halb entschuldigend. »Ist denn immer eine solche Pause zwischen den Schüssen?«
»Wir ziehen vor, es anzunehmen«, gab Simms trocken zur Antwort.
Von einer Sekunde zur anderen wurde der Nebel dichter. »In der Dunkelheit schießen sie nicht mehr viel, nur einzelne Versuchsschüsse«, sagte Simms, als sie schon die hohe, glatte Front der Telefónica entlanggingen und um die Ecke bogen.
Autos in einer engen Straße, viele Menschen auf dem Gehsteig, ein Wachtposten, eine kleine Tür in einem gewaltigen Portal: sie traten in die Halle der Telefónica.
»Wir sind zu Hause«, sagte Simms. Er erklärte einem derben, unfreundlichen Mann mit schwerem Unterkiefer und platter Nase etwas auf Spanisch. »Das ist ein anarchistischer Kontrollfunktionär, er untersucht alle, die hereinkommen, auf Waffen. Aber wir sind Presseleute, ich habe Sie legitimiert, Johnson.«
Unter einem dumpfen Schlag klirrten die Scheiben der Glastür und schütterten leise die Wände. Die vielen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, in der zugigen Halle sprachen wirr durcheinander. Aber weiter geschah nichts, als daß ein Mann ans Haustelephon trat und ein Gespräch führte.
»Nur das Sims des Daches«, erklärte Simms, der gelauscht hatte.
»Ist unser Haus getroffen worden?« fragte Johnson. Er sah von einem spanischen Gesicht zum anderen und verstand nichts, was er sah. Wie lebte man in diesem Hause?
Es ist eine andere Welt, gab er sich selbst zur Antwort.