Читать книгу Heimatsuchen - Ilse Tielsch - Страница 9

5

Оглавление

Niemand von den heute noch Lebenden, die ich, Anna, danach gefragt habe, erinnert sich daran, ob die Vorhersage des Salzburger Wetterforschers eingetroffen ist, der für den 10. September 1945 eine merkwürdige Himmelserscheinung prophezeit hatte: Der an diesem Tag in Sonnennähe weilende Merkur würde einen Vorgang bewirken, den die Anhänger der Welteislehre mit dem paradoxen Satz DIE SONNE SCHNEIT beschrieben hätten. Die Erklärung dafür: Bei einer kurzen vorhergehenden Erwärmung eines schwachen gewittrigen Niederschlags oder bei der einem Niederschlag folgenden Abkühlung kann ein Anflug von Höhenschnee eintreten. Dieses von der Sonne verursachte Phänomen könne jedoch nicht nur durch Zustrahlung von Feineis, sondern auch DURCH DIE IRDISCHE WETTERMASCHINE, die eine erhöhte Elektronenausstrahlung auszulösen imstande sei, erklärt werden.

Das Wetter im frühen Herbst, heißt es allgemein, sei verhältnismäßig schön und vor allem warm gewesen. Dies ist, weil es wichtig war, im Gedächtnis geblieben. Keine Unwetter, keine kotigen, aufgeweichten Straßen und Feldwege, keine vom Regen durchnäßten Schuhe und Kleider. Erst der Oktober brachte Kälte und Wind, erst jene, die zugleich mit Hedwig und ihrer Familie unterwegs gewesen sind, haben unter schlechtem Wetter zu leiden gehabt. Anfang September gab es noch Nächte, in denen man am Rand eines Wäldchens oder einfach auf freiem Feld schlafen konnte, ein Kleiderbündel unter dem Kopf, die Kinder mit einer Jacke oder einem Mantel zugedeckt, auf einem mit Klaubholz genährten Feuerchen konnte man eine Suppe wärmen, in der Glut konnten Kartoffeln gebraten werden. Daß die Wege trocken waren, daß die Sonne noch warm vom Himmel schien, war wichtig, sonst nichts.

Wer ein Dach über dem Kopf hatte, wer geborgen war, wer sich dafür interessierte, was in der Welt geschah, konnte nun schon aus Zeitungen erfahren, was jene auf den Straßen Dahinziehenden nicht interessierte: Daß etwa in den ersten Septembertagen in einem Nürnberger Keller die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches aufgefunden worden war; oder daß von offizieller Seite betont worden sei, die Vereinigten Staaten hätten beschlossen, DAS GEHEIMNIS DER ATOMBOMBE NICHT PREISZUGEBEN, es würde nie zu anderen Zwecken verwendet werden als zur Erhaltung des Weltfriedens; oder daß sich in der englischen Presse warnende Stimmen äußerten, es sei nicht ratsam, Korea unmittelbar nach seiner Befreiung aus der japanischen Sklaverei seine Unabhängigkeit zu garantieren, indem man dem Volk volle Autonomie gewähre. Vielleicht haben Heinrich und Valerie jene Meldung gelesen, in welcher berichtet wird, daß eine Abordnung englischer Kirchenfürsten bei Englands Premierminister Attlee vorgesprochen und um Milderung DES BEKLAGENSWERTEN LOSES DER DEUTSCHEN FLÜCHTLINGE AUS POLEN UND DER TSCHECHOSLOWAKEI gebeten hätten. Premierminister Attlee erklärte, daß sich die britische Regierung mit der Flüchtlingsfrage ernsthaft befasse. Sie tue ihr Möglichstes, um die Schwierigkeiten zu überwinden, denen Europa im kommenden Winter entgegenstehe. In der BERLINER KONFERENZ habe man sich bereits auf Maßnahmen geeinigt und bis zur Beschlußfassung durch den Alliierten Rat in Deutschland weitere Ausweisungen von Deutschen verhindert.

Auch die Erklärung des tschechischen Staatspräsidenten Benesch zur Frage der Ausweisung der Deutschen werden sie vielleicht zur Kenntnis genommen haben, daß es mit der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei NUR UNÜBERBRÜCKBARE KOMPLIKATIONEN BEI DER DURCHFÜHRUNG EINER GEORDNETEN STAATSFÜHRUNG geben würde. Dieses Problem müsse im Einvernehmen mit den Großmächten geregelt werden. Oder: Obwohl zwischen den Ländern Österreich und Tschechoslowakei keine offiziellen Beziehungen bestünden, seien die tschechischen Behörden doch bereit, den tschechischen Staatsbürger österreichischer Nationalität ANDERS ALS DEN DEUTSCHEN UND DEUTSCHSPRACHIGEN TSCHECHEN zu behandeln. Zum Unterschied zu den Deutschen würden die Österreicher DIE GLEICHEN LEBENSMITTELKARTEN WIE DIE TSCHECHEN erhalten.

(Besonders jene zuletzt zitierte Bemerkung, die darauf hinwies, daß die noch in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen nur unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt würden, wird Heinrich mit großer Besorgnis erfüllt haben. Er hatte noch keinerlei Nachricht von seiner alten Mutter, die in Mährisch Trübau geblieben war.)

Am 12. September kam Heinrich von einem Krankenbesuch nach Hause und legte eine Zeitung auf den Tisch. Die Wiener Staatsoper, hieß es darin, das künstlerische Zentrum der Stadt Wien und damit ganz Österreichs, würde wieder aufgebaut werden.

Dem Baukomitee seien in den vergangenen Tagen von sowjetischer Seite zur Verfügung gestellt worden: zwei Millionen Schilling in bar, eineinhalb Millionen Ziegelsteine, dreihundert Tonnen Zement, dreißig Tonnen Dachblech, zweihundert Tonnen Stahlträger, vierhundertfünfzig Tonnen Stahl und Eisenarmaturen, zwanzig Tonnen Farbe und sieben Lastkraftwagen.

(Was der Wiederaufbau der rund dreißigtausend zerstörten oder schwer beschädigten Gebäude in Wien insgesamt kosten würde, konnte Anni in einer anderen, in Linz erscheinenden Zeitung lesen. Es würden etwa fünf Millionen Dollar zur Deckung der Kosten nötig sein. Man rechnete mit fünfundsiebzig bis achtzig Millionen Dachziegeln, ebensovielen Quadratfuß Glas, dreihundert Millionen Ziegelsteinen, dreihunderttausend Kubikmetern Holz, zwölftausend Tonnen Baustahl, zweihunderttausend Tonnen Zement. Außerdem würden achtzehntausend Kilogramm Leim und etwa neuntausend Tonnen Gips benötigt werden, der Wiederaufbau würde voraussichtlich sieben bis zehn Jahre in Anspruch nehmen.)

Es ist anzunehmen, daß die Meldung über den geplanten Wiederaufbau der Staatsoper Heinrich trotz (oder gerade wegen!) der alles andere als erfreulichen Situation, in der er sich zur Zeit befand, trotz (oder gerade wegen!) der Armut, in der er lebte, in besonderer Weise beschäftigt hat. Er wird durch diese Meldung in vielerlei Hinsicht an sein früheres Leben, an seine Jugend erinnert worden sein. Er wird an seine Studentenjahre in Wien gedacht haben, in denen er auch gehungert, trotzdem davon geträumt hatte, in der MUSIK- UND THEATERSTADT WIEN bleiben, dort leben zu dürfen. Der Wunsch wird in ihm wachgeworden sein, sich diesen Traum wenigstens jetzt, im zweiten Teil seines entzweigeschnittenen Lebens, zu erfüllen.

Schon Friederike, geboren im niederösterreichischen Furthof, Tochter des Feilenfabrikdirektors, der als Waisenkind in Prag Semmeln und Brot vor die Türen der Bürgerhäuser getragen hatte, schon Heinrichs Mutter also, hatte von Wien geträumt, später die viel kleinere Stadt Brünn des Theaters wegen als Ersatz hingenommen, Boskowitz, wohin ihr Ehemann versetzt worden war, gehaßt, Mährisch Trübau als eine Art Exil empfunden, in das man sie verbannt hatte, das sie angeblich niemals lieben konnte. (Später, wieder in Österreich lebend, hat sie immer Heimweh nach Mährisch Trübau gehabt!)

Schon Friederikes Mutter Amalia, Tochter des Mürzhofner Erbpostmeisters, hat in ihrem Tagebuch Wienbesuche als besondere Festtage eingetragen, schon Amalias Vater, vor dessen Gasthof die aus Wien kommenden Postkutschen hielten, reiste von Zeit zu Zeit gerne nach Wien, wie Amalia ihrer Tochter Friederike, diese wieder ihrem Sohn Heinrich berichtet hat.

In Heinrich erwachte der Wunsch seiner Jugendjahre nicht nur neu, er war stärker als zuvor. Aber nie war die Entfernung zwischen seinem Wohnsitz und dieser Stadt, in der er so gerne gelebt hätte, größer gewesen als jetzt, nie war die Aussicht auf eine mögliche Erfüllung seines Traumes geringer gewesen. Was für Anni galt, galt selbstverständlich auch für ihn, und es galt auch für Valerie. Er war ein Nichts, ein Niemand, ein Mensch, der nirgends mehr hingehörte. Wenn der Arzt, der vor der näherkommenden Front die Flucht ergriffen hatte, zurückkam, würde ihn auch hier im Dorf niemand mehr haben wollen, niemand mehr brauchen, er würde weiterziehen, das Land verlassen müssen. Das neue Gesetz sah die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nur in Fällen von besonderem Staatsinteresse vor.

Nach Wien willst du, sagte Valerie, die von seinem Wunschtraum wußte, in Wien wartet niemand auf dich.

Nein, niemand wartete darauf, daß Heinrich und seine Frau nach Wien kamen, niemand suchte nach ihnen, niemand gab Suchanzeigen auf, um zu erfahren, ob sie noch lebten. Die Verwandten und Freunde hatten zu dieser Zeit andere Sorgen, sie trugen, was sie an Wertgegenständen besaßen, auf den Schwarzen Markt. BLACK MARKET nannten diesen Markt die Engländer und Amerikaner, die Zeitungen nannten ihn TUMMELPLATZ DER ASOZIALEN.

Zwölfhundert Schilling (oder immer noch Mark) für ein Kilogramm Schweineschmalz, hundertfünfzig Schilling für ein Kilo Mehl, achthundert für einen Liter Öl, fünfzehnhundert für ein Kilo Bohnenkaffee. Hätte Anni in Wien gelebt, dann hätte sie die Wahl gehabt, für die ihr monatlich bewilligten einhundertfünfzig Schilling (oder Mark) entweder fünfzehn Eier oder ein halbes Kilo Zucker oder achtundachtzig Dekagramm Pferdefleisch zu erstehen. Sie hätte auch für diesen Betrag in Linz an der Donau genau einhundert amerikanische Zigaretten kaufen, damit unter gefährlichen Umständen die Demarkationslinie passieren, die Zigaretten in Wien zu fünf Schilling je Stück wieder verkaufen können. Dabei hätte sie einen Gewinn von dreihundertfünfzig Schilling erzielt, für die sie wiederum dreiundzwanzig Deka Bohnenkaffee oder eineinhalb Kilo Brot oder eineinhalb Paar Damenstrümpfe bekommen hätte. Das Unternehmen hätte sich nicht gelohnt, ganz abgesehen davon, daß die Bewilligung zu einer Fahrt über die Zonengrenze immer noch ausschließlich jenen Personen erteilt wurde, die im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft waren, es lohnte sich nur in größerem Umfang. Ein Schleichhändler, den man festnahm, hatte in Linz zwanzigtausend Zigaretten gekauft und durch den Wiederverkauf in Wien bei einem einzigen Geschäft einen Verdienst von siebzigtausend Schilling gehabt.

WIR MÜSSEN GEWAPPNET SEIN, schrieb eine Linzer Tageszeitung im Oktober 1945, WENN BEI AUFHEBUNG DER DEMARKATIONSLINIEN SICH EINE FLUT VON SCHLEICHHÄNDLERN AUS DEM ÖSTLICHEN TEIL ÖSTERREICHS IN UNSER LAND ERGIESST. (Vorläufig konnte von einer Öffnung der Zonengrenzen allerdings keine Rede sein.)

Zurück in das Dorf W. bei Mistelbach im niederösterreichischen Weinviertel, wo die Verhältnisse für Leute, die nicht selbst einen Bauernhof besaßen, zwar nicht so trostlos wie in der Großstadt Wien, aber trostlos genug gewesen sind.

(Hedwig hat einmal auf dem Weg zur Arbeit eine Frau getroffen, die ihr erzählte, sie hätte jetzt mit ihrer Familie vierzehn Tage lang GANZ GUT gelebt, sie hätten EINEN HUND GEHABT.

So weit, sagte Hedwig, sind wir Gott sei Dank nicht gekommen.)

Zurück zu Heinrich, der Typhuskranke besucht, mutig und ohne die eigene Ansteckung zu fürchten, an ihren Betten sitzt, Geschlechtskranke mit unzureichenden Mitteln behandelt. (Das Penicillin war zwar erfunden, es stand jedoch in Österreich praktizierenden Ärzten kaum zur Verfügung.) Heinrich, der gegen Ruhrepidemien ankämpft, hochinfektiöse eiternde Hautausschläge, die rasch sich ausbreitende Krätze bekämpft, Eiterbeulen aufschneidet, Wunden verbindet, Gebärenden hilft, wenn es nötig ist, auch Zähne zieht, der eines Tages aus einem der Nachbardörfer heimkommt, sich auf einen der beiden hölzernen Sessel setzt, einen seiner Schuhe auszieht und feststellen muß, daß die durchlöcherte Sohle sich nun auch aus den Nähten gelöst hat, daß der total ruinierte Schuh nicht mehr reparierbar ist. (Ein Paar neuer Schuhe kostete auf dem Schwarzmarkt zu jener Zeit fünfzehnhundert bis zweitausend Schilling.)

Valerie, die, Tage vorher, im Nachbarhaus einen einzelnen Herrenschuh auf einer Truhe, Kommode, sonst einem Möbelstück von geringer Höhe stehen sah, diesen Schuh, den die Bäuerin behauptete, gefunden zu haben, den sie wegwerfen wollte, mitgenommen hat. Jetzt geht Valerie zum Schrank, nimmt diesen Schuh heraus, reicht ihn Heinrich, es ist ein linker Schuh, wie jener ruinierte, den Heinrich eben ausgezogen hat, er probiert den Schuh, er paßt. (Zu bemerken bleibt nur, daß dieser Schuh hellbraun gewesen ist, der andere, jetzt zerrissene Schuh dunkelbraun, daß auch die Form des einen Schuhes sich wesentlich von der des anderen unterschied.)

Ein Doktor, der mit zwei verschiedenfarbigen, verschieden gearbeiteten Schuhen zu seinen Patienten unterwegs ist? Zu jener Zeit und auf jenen Feldwegen, über die er bei jedem Wetter ging, ist das niemandem aufgefallen, und wenn es jemandem aufgefallen ist, hat es ihn nicht gestört. Nur Valerie konnte sich nicht damit abfinden, daß es, statt besser zu werden, immer noch abwärts ging.

(Welchen Kreisen haben die Damen angehört, die damals KLEIDER MIT BLUSIGEM RÜCKEN trugen, für den Nachmittag mit Valenciennes-Spitzen besetzt oder mit aufgenähten Stoffblumen verziert? Wer konnte sich jene Abendkleider leisten, die SPARSAMER ALS BISHER DIE REIZE SCHÖNER FRAUEN zeigten, die vorne hochgeschlossen, dafür am Rücken tief dekolletiert waren, BEVORZUGTE MATERIALIEN: BROKAT, TÜLL UND TAFT?

SEID GETROST, FRAUEN, schreibt der Verfasser des Modeartikels im WIENER KURIER, auch für euch wird bald die Zeit kommen, da ihr in beschränktem Ausmaß wieder einkaufen könnt!

Wer konnte die vielen aus Loden, aus Wolle, aus Seide und Brokat gefertigten Trachtenmodelle kaufen?

EINES STEHT FEST, hieß es, DIE RÖCKE WERDEN WEITER. Unter dieser Notiz, klein gedruckt, ein Hinweis: WIENER AUFGEPASST! ALLE VERBRAUCHER ÜBER 12 JAHRE ERHALTEN AUF ABSCHNITT M DER BROTKARTE 70 DEKA BROT!

Valerie besaß einen Rock, zwei Blusen, eine Strickjacke und ein vor Jahren in Bad Goisern von einem Schneider angefertigtes, jetzt an den Kanten schon abgewetztes Lodenkostüm. Andere allerdings hatten nicht einmal das. Heinrich hatte drei Hemden über die Grenze gebracht, es gab keine Waschmittel, Valerie hatte diese Hemden mit reinem Wasser auszuwaschen, ein bißchen Seife auf Kragen und Manschetten, dann hängte sie die Hemden im Hof zum Trocknen auf, zog sie zurecht, ein Bügeleisen hatte sie nicht.

Wir waren so arm, sagt die Mutter, daß sich das heute niemand mehr vorstellen kann.)

Der Tag, an dem Valerie zum zweitenmal das Nachbarhaus betrat, aus irgendeinem Grund, an den sie sich nicht mehr erinnert, nach der Bäuerin rief, keine Antwort erhielt, bis sie durch das Vorhaus weiterging, in den Hof. Valerie stand wie erstarrt, sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Quer über den Hof waren, von einer Mauer zur anderen, Wäscheleinen gespannt. Aber an diesen Leinen waren nicht etwa Hemden, Socken oder Unterhosen des Bauern, der Bäuerin, ihrer Kinder, nein, da waren Herrenanzüge befestigt, sichtlich von guten Herrenschneidern gearbeitet, Damenkleider verschiedenster Machart, aus Wollstoff, aus Seide, ein Abendkleid, das keineswegs der kurzbeinigen Bäuerin gehören konnte, spitzenbesetzte Nachthemden hingen da und ein Morgenmantel aus Samt. Vor allem aber hingen, über die Wäscheleine geworfen, die Wäscheleine schwer belastend, eine Herausforderung für die Augen, zwei Damenpelzmäntel und ein Herrenwintermantel mit Innenfell.

Valerie stand bewegungslos, sie hätte sich gar nicht bewegen können, auch wenn sie die Absicht gehabt hätte. Sie sah die Bäuerin und eine Nachbarsfrau geschäftig hin- und herlaufen, weitere Wäschestücke, Kleider aus großen Kisten nehmen, über die Stricke werfen. So versunken waren die beiden in ihre Beschäftigung, so von ihr in Anspruch genommen, daß sie in ihrem Eifer die ungebetene Augenzeugin nicht bemerkten.

Valerie verfolgte ihre Bewegungen mit den Augen, registrierte: ein Sommerkleid, zweifarbig, mit Rüschen besetzt, ein roter Seidenrock, weiß getupft, eine Jacke aus Wollstoff, eine Seidenbluse. Wem immer dies alles gehören mochte, es war, nach immerhin siebenjähriger Kriegszeit mit Kleiderkarten und Bezugsscheinen, die man nur selten bekam, eine märchenhafte Garderobe.

Dann, endlich, blieben ihre Augen an einem braunledernen Gegenstand hängen, der in einer Ecke des Hofes auf dem Boden lag. Valerie stellte sofort aus der Entfernung fest, daß es sich nur um den zweiten, den fehlenden Schuh handeln konnte, ging hin, konstatierte, daß ihre Vermutung richtig gewesen war, hob den Schuh auf und hielt ihn noch in der Hand, als sich, in diesem Augenblick, die Bäuerin zu ihr umwandte.

Bilder, die unvergessen geblieben sind, die jetzt von der Mutter geschildert werden: das vor Schreck und Entsetzen verzerrte Gesicht der Bäuerin, ihre gestikulierenden Hände, mit denen sie Erklärungen zu unterstreichen versucht. Die mit hilflos herabhängenden Armen dabeistehende, ebenfalls erschrockene Nachbarsfrau. Die Wäschestücke, die im aufkommenden Herbstwind zu flattern beginnen, ein Wäschestück, das sich losreißt, von der Leine löst, in den Zweigen des breitästigen Nußbaumes hängenbleibt. Diese Sachen, erklärte die Bäuerin, fast schreiend vor schlechtem Gewissen, habe ihr jemand zur Aufbewahrung übergeben, sie seien im Hauskeller versteckt gewesen, hätten durch die Feuchtigkeit einen üblen Geruch bekommen, sie hätte das festgestellt und gefunden, daß man sie dringend lüften müsse.

Eine Pause entstand, gefährliches Schweigen hing in der blauen Herbstluft, Valerie stand immer noch unbeweglich, bis die Frau schließlich keifend erklärte, der Besitzer dieser Sachen käme sicherlich niemals wieder. Wenn er die Absicht gehabt hätte, wiederzukommen, oder vielmehr die Möglichkeit dazu, dann hätte er sich längst gemeldet, wenigstens seine Frau. Wahrscheinlich, fügte sie hinzu, seien die beiden längst tot.

Sie nannte den Namen des Mannes, der ihr die Kisten anvertraut hatte, und Valerie erstarrte zum zweitenmal. Sie hatte einen Namen gehört, den sie kannte. Sie drückte den Schuh an die Brust und verließ mit raschen Schritten das Haus.

Hier müssen familiäre Bezüge ins Gedächtnis gerufen werden.

Eine schon einmal in B. vom Vater auf ein Blatt Papier gezeichnete, im zweiten Teil seines Lebens mühsam rekonstruierte, aus rechteckigen Kästchen gefügte Pyramide muß aus der Schreibtischlade geholt, in den Lichtkreis der Lampe gebracht, betrachtet werden.

Annis Name im untersten Kästchen, rechts und links über ihrem Namen die Namen der Eltern, Heinrich und Valerie.

Schräg aufwärtsgezeichnete Linien führen zu Valeries Eltern Josef und Anna, zu Heinrichs Eltern Friederike und Adalbert, dann, darübergelagert, zum oberen Blattrand aufsteigend, sich verzweigend, in ungleich langen Ausläufern endend, der große, übrige Teil der Pyramide, Namen und Namen, die einmal zu Menschen gehörten, deren Gesichter nur noch vereinzelt auf alten Fotografien festgehalten, deren Schicksale nur noch zum Teil überliefert sind. Ihre Lebensläufe, ihr Glück und ihr Unglück, die Lichtpunkte und die tragischen Verkettungen, alles, was über sie in Erfahrung zu bringen war, ist schon einmal beschrieben worden. Trotzdem muß zurückgeblickt, angeknüpft werden, wo damals nicht fortgesetzt worden ist. Der Vater hat unter dem Namen seiner Mutter Friederike auch die Namen ihrer Geschwister eingetragen: Helene, Marie und Hermann. An Helenes Namen bleiben die Augen hängen. Sie war, nach kurzer Ehe mit einem Mann, der Postmeister und Stationsvorstand der Mariazellerbahn in einer kleinen niederösterreichischen Stadt bei Sankt Pölten gewesen ist, wieder geschieden worden, mußte den Sohn seinem Vater überlassen, zog nach Wien, der Sohn wurde vom Vater erzogen, ein wahrscheinlich nicht sehr glückliches Kind, in dessen Gegenwart der Name der Mutter nicht ausgesprochen worden ist, das die Mutter nicht sehen durfte, das, als es älter wurde, wahrscheinlich von jenem furchtbaren Verbrechen erfahren hat, welches die Mutter begangen hatte: Sie hatte sich, jung, schön, lebenslustig, von ihrem Mann vernachlässigt, in den Gemeindearzt verliebt. Ihr Sohn Hans war der erste der Blutsverwandten, den Heinrich damals in W. bei Mistelbach wiedergesehen hat.

Es ist anzunehmen, daß die Abneigung, welche die beiden Vettern füreinander empfanden, auf beiden Seiten gleich stark gewesen ist. Heinrich, schon als junger Mensch eher schwächlich, sensibel, musikalisch, Hans, dessen politische Karriere mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich begann, da war kein Raum für ein längeres Gespräch, da konnte man sich auch aus Gründen verwandtschaftlicher Beziehung nicht füreinander erwärmen. Kaum denkbar jedenfalls, daß sich Heinrich, wäre der andere in seiner Situation gewesen, ähnlich verhalten hätte, wie Hans sich verhielt.

Ich, Anna, versuche mir vorzustellen, wie die von der Mutter mehrfach geschilderte Begegnung der Vettern damals, im Herbst 1945, verlaufen ist.

Ein Wagen mit niederösterreichischer Nummer hielt vor dem Nachbarhaus, zwei Männer stiegen aus, Valerie, durch das Fenster auf die Straße blickend, konnte gerade noch beobachten, wie sie im Haus verschwanden. Kurz darauf Männer- und Frauenstimmen, die keifende Stimme der Nachbarsfrau, dann wurde nebenan die Haustür geöffnet und wieder zugeschlagen, dann öffnete sich die eigene Haustür, die Zimmertür.

Heinrich, der auf einem der beiden Sessel beim Tisch gesessen war, stand auf, ging einen Schritt auf den Vetter zu, blieb dann stehen, hob zaghaft die Hand, um sie dem Verwandten entgegenzustrecken, ließ die Hand wieder sinken, schien plötzlich noch kleiner, noch schmächtiger unter dem Blick des anderen, der sich von der Türschwelle nicht wegbewegte, ihn nicht grüßte, Valerie überhaupt nicht beachtete, nach einem Blick auf Heinrichs Füße nur einen einzigen Satz sprach: ZIEH SOFORT DIESE SCHUHE AUS!

Kein Zweifel, sagt die Mutter, daß die Nachbarsfrau Hans die Geschichte mit den Schuhen anders berichtet hat, als sie sich zugetragen hat. Kein Zweifel darüber, daß sie, um vielleicht von der eigenen Schuld abzulenken, darauf hingewiesen hat, daß im Nachbarhaus jemand wohne, der ein Paar Schuhe mitgenommen, sich angeeignet habe. Hans jedenfalls sei nur herübergekommen, um diese Schuhe abzuholen.

Die Vettern einander gegenüberstehend. Der eine, der, von einem bestimmten Zeitpunkt an, immer nur die Uniform seiner Partei getragen hatte, EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER, der zu jenen gehört hatte, die an keiner Front gekämpft hatten, bis zuletzt noch Geschichten vom Endsieg erzählten, der auch dann, als seine Sprüche sich nicht erfüllt hatten, durch die Maschen geschlüpft war, vermutlich nach kurzer Haft wieder in Freiheit gesetzt worden war, der nun gekommen war, seine im richtigen Zeitpunkt verlagerten Sachen abzuholen. Der andere, der Uniformen gehaßt hatte, der nur auf zwei Fotografien uniformtragend zu sehen ist: einmal mit großen, erschrockenen Augen im vom Hunger und Malariafieber ausgezehrten, faltig geschrumpften Gesicht als Sanitäter der österreichischen Armee gegen Ende des Ersten Weltkriegs, das andere Mal als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr der jenseits der österreichischen Grenze im Südmährischen gelegenen Kleinstadt B. Heinrich, der schließlich zu seinem Sessel zurückkehrt, sich niedersetzt, mit Fingern, die immer ein wenig gezittert haben, Schuhbänder aufschnürt, die Schuhe auszieht, sie wortlos dem Vetter reicht. Hans, der die Schuhe in Empfang nimmt, sich umdreht, die Zimmertür zuschlägt, grußlos das Haus verläßt.

Heinrich und Valerie, die im Zimmer zurückbleiben, wortlos einander gegenübersitzend, die wenig später, nachdem im Nachbarhaus wiederum laute Stimmen zu hören gewesen sind, vernehmen, wie der Motor des vor dem Haus geparkten Wagens anspringt, wie der Wagen sich entfernt, die dem Motorgeräusch nachhorchen, das sich, immer leiser werdend, schließlich in der Ferne verliert.

Irgend jemand hat dem Doktor, der keine Schuhe hatte, ein Paar alte Gummistiefel gegeben. Sie waren um eine Nummer zu klein. Valerie tauschte sie in der SCHUHUMTAUSCHSTELLE DES FRAUENAKTIONSKOMITEES DER SOZIALISTISCHEN PARTEI MISTELBACHS gegen andere, ebenso alte, jedoch passende Gummistiefel um.

(Hans, sagt die Mutter, ist einer von denen gewesen, die es zu allen Zeiten gegeben hat, die es immer verstanden haben, sich einzurichten, die IMMER DAVONGEKOMMEN SIND. Ein anderer Verwandter Heinrichs, der nur einfaches Mitglied der Partei gewesen war wie viele andere, die gefürchtet hatten, sie würden, wenn sie sich weigerten, ihre berufliche Position, ihre Familie, ihre Kinder gefährden, hat sich, wenige Tage vor dem Ende des Krieges, zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern das Leben genommen. DIE KINDER HABEN SIE MITGENOMMEN, sagt die Mutter, sie meint: in den Tod.

Auch Heinrich trug gegen Ende des Krieges immer eine Dosis eines rasch wirkenden Giftes für sich und seine Familie bei sich, die Mutter hat das gewußt, Anni wußte es nicht.)

Oktober: Das ist der Monat, in dem sich das Weinlaub auf den Hügeln rot und gelb zu färben beginnt. Die ledrigen Blätter der Nußbäume trocknen von den Rändern her ein, in den Lindenbäumen leuchtet das erste Hellgelb, die gefiederten Blattrispen der Akazien weinen die ersten gelben Tränen. Die ganze kleine Stadt B. hatte um diese Zeit nach Maische gerochen, die ausgepreßten Traubenbälge waren in braunen Haufen neben den Kellern gelegen, der Most hatte sich milchig verfärbt. In den Hausgärten hatten die Dahlien geblüht. Über den seidenblauen Himmel hatte der Herbstwind in allen Farben leuchtende Wolken getrieben.

Erinnerst du dich, sagt die Mutter, wie schön es um diese Zeit zu Hause gewesen ist. Nun malt sie die Vergangenheit doch in sanften Farben, das Böse, Dunkle spart sie aus. Wie die Maiskolben zu großen Haufen geschichtet in den Vorhäusern der Bauernhöfe gelegen sind, erzählt die Mutter, wie sich die Alten und die Jungen an den Abenden versammelt haben, um die Kolben aus den Blättern zu schälen, wie man einander Geschichten erzählte, Lieder sang, die neuesten Liebesgeschichten besprach. WIE LUSTIG es damals gewesen sei. Die jungen Leute können heute gar nicht mehr richtig lachen, sagt die Mutter. Und sie singen auch nicht mehr. WAS WIR FÜR LIEDER GEKANNT HABEN. Wieso das heute so anders geworden ist?

Anfang Oktober 1945 hatte es in Wien eine Großkundgebung gegeben: GEBT DEN SÜDTIROLERN IHRE ÖSTERREICHISCHE HEIMAT WIEDER! Für alle Personen, die älter als sechs Jahre waren, gab es anstelle von Fleisch zweihundert Gramm Hülsenfrüchte, wobei das Wort GRAMM ausgeschrieben war. Das machen sie, weil es so nach mehr aussieht, sagte Valerie.

Dazu gab es achtzig Gramm Fett, anstelle von Hülsenfrüchten konnte Maisgrieß bezogen werden.

Am 9. Oktober sagte der tschechische Staatspräsident Benesch, er wünsche ENGSTE WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT MIT ÖSTERREICH. Die politische Zusammenarbeit mit diesem Land würde von VIELEN DINGEN abhängen, vor allem von der ANSICHT RUSSLANDS.

Die drei Millionen zählende deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei müsse auf dreihunderttausend Personen reduziert werden. SEIT ICH IN DIE TSCHECHOSLOWAKEI ZURÜCKGEKEHRT BIN, MUSSTE ICH FESTSTELLEN, DASS DIE ANZAHL DER DEUTSCHEN, DEREN LOYALITÄT GEGENÜBER DER TSCHECHOSLOWAKEI, SICH BEWÄHRT HAT, VIEL GERINGER IST, ALS ICH IN LONDON ANGENOMMEN HATTE.

Am 10. Oktober erklärte der Generalstabschef der US-Armee, General George C. Marshall: WIR KÖNNEN SICHER SEIN, DASS DER NÄCHSTE KRIEG NOCH TOTALER GEFÜHRT WERDEN WIRD ALS DIESER!

Am 11. Oktober veröffentlichte die Zeitung WIENER KURIER ein Bild, das die Schauspieler des Theaters in der Josefstadt beim Wegräumen von Bombenschutt zeigt. Jane Tilden hält ihre Schaufel hoch und lacht fröhlich in die Kamera.

In derselben Zeitung eine Notiz: KEIN NAZI MEHR RICHTER IN ÖSTERREICH. (15. März 1938: Der Justizminister hat von Wien aus die sofortige Entlassung aller Gerichtsbeamten, die Juden oder Halbjuden sind, angeordnet und eine Aufnahmesperre für Juden in die Rechtsanwaltschaften und Notariate verfügt. März 1939: AUCH DIE BRÜNNER ADVOKATENKAMMER IST JETZT JUDENREIN!)

In diesem Oktober hatte die Wiener Theatersaison wieder begonnen.

Der dreiundachtzigjährige Gerhart Hauptmann sagte in Agnetendorf zu einem Besucher, er zweifle nicht daran, daß sich Deutschland in fünfzig Jahren wiedergefunden haben würde, aber es müßte dann ein ganz anderes Volk geworden sein als jenes, das blind in die Katastrophe gegangen sei. Der norwegische Dichter Knut Hamsun wurde zur Untersuchung seines Geisteszustandes in eine Nervenklinik in Oslo gebracht.

Am 14. Oktober, einem Sonntag, fand um elf Uhr vormittags in Mistelbach die Enthüllung des Bezirksdenkmals statt, das für die gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet worden war. Es trug in roten Buchstaben die Inschrift: EWIGEN RUHM DEN HELDEN, DIE IN DEN KÄMPFEN FÜR FREIHEIT UND UNABHÄNGIGKEIT UNSERER HEIMAT GEFALLEN SIND.

Es gab eine Ehrenwache, Militär, Schuljugend, Lehrpersonen, eine Tribüne für die Vertreter der Kommandantur, der Gemeinde und der Parteien. Eine größere Anzahl von Bürgern der Stadt war versammelt, Fahnen wehten, ein Prolog war verfaßt worden. DIE HÜLLE FÄLLT! SO IST ES DENN ENTSCHIEDEN, DASS MISTELBACH EIN DENKMAL SICH ERRICHTE!, die Schulkinder sangen, Ansprachen wurden gehalten, der Prolog wurde verlesen (oder von einem Schauspieler vorgetragen): WAS WIR ALS GEGENWART ERLEBT, ERLITTEN: IN GRAUEN UND QUAL UND UNNENNBAREM WEH, EIN ENDE DIESES SCHRECKENS ZU ERBITTEN, DAS BRACHTE UNS DIE ROTE SIEG’S-ARMEE!

Die Leute murrten, das Ende des Schreckens sei ein Ende mit Schrecken gewesen. Auch daran würde das Denkmal erinnern.

Befreit haben sie uns, ja, sie haben uns von ALLEM BEFREIT, sagte Frau O.

Valerie sagte: Die armen Teufel sind auch nicht freiwillig gestorben, die hat man genauso umgebracht wie unsere Soldaten.

Sie habe, sagt die Mutter, an Richard denken müssen, aber auch an die jungen Gesichter der Gefangenen, die man vor dem Kriegsende durch B. getrieben habe. Achtzehntausend gefangene deutsche Soldaten seien einmal eine Nacht lang in B. gelegen, alle Straßen und Gassen, der ganze Stadtplatz, alles sei SCHWARZ VON SOLDATEN gewesen.

DU KANNST DIR NICHT VORSTELLEN, WIE ARM SIE GEWESEN SIND.

MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sagt die Mutter, MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sie wiederholt den Satz, dreht das Gesicht weg, zum Fenster, fürchtet, man könnte bemerken, daß sie den Tränen nahe ist, die alten Bilder sind noch nicht gelöscht, sind nur verdrängt worden, werden wieder beschworen, wenn man davon spricht.

Seit damals, sagt die Mutter, kann ich keine traurigen Bücher mehr lesen und keine traurigen Filme mehr sehen. ES IST OHNEHIN ZUVIEL TRAURIGES IN DER WELT.

In Rußland gibt es auch Mütter, die jetzt weinen, sagte Valerie. Sie dachte: Hoffentlich kommt Richard zurück. Aber Richard war nicht der einzige, von dem man ein Lebenszeichen erhoffte, auch der Sohn von Heinrichs früh verstorbener Schwester, zu Kriegsende gerade einundzwanzig Jahre alt geworden, schwerkrank in einem Brünner Lazarett zurückgeblieben, war verschollen. Und Heinrichs alte Mutter hatte noch immer keine Nachricht gegeben. Von jenen Verwandten, die noch nicht über die Grenze gekommen waren, wußte man nicht, ob sie noch lebten, wo sie sich aufhielten, ob man sie noch einmal Wiedersehen würde.

Woran Valerie vor allem dachte, was sie Tag und Nacht beschäftigte, muß nicht gesagt werden.

Die Wahlaufrufe der provisorischen österreichischen Regierung las Heinrich mit Interesse, aber sie betrafen ihn nicht. Er durfte an der ersten allgemeinen freien Wahl nicht teilnehmen, er durfte nicht wählen, weil er kein Staatsbürger war. ER DURFTE NICHT ÜBER BESTAND UND ZUKUNFT EINES VOLKES MITENTSCHEIDEN, zu dem er einmal gehört hatte, zu dem man ihm jetzt nicht zu gehören erlaubte, er durfte sich nicht am Wahlkampf beteiligen wie andere MÄNNER, DIE, DER EIGENEN ÜBERZEUGUNG WOHL BEWUSST, ZUGLEICH DIE ÜBERZEUGUNG DES ANDEREN ACHTEN. ER WAR EIN LANDESFREMDES ELEMENT, die freie, unabhängige, demokratische Zukunft Österreichs ging ihn nichts an. Am Sonntag, dem 25. November, entschieden die Wähler für zwei Parteien, die Volkspartei und die Sozialistische Partei.

Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei schrieb: ES IST UNS NICHT GELUNGEN, DAS VOLK AUFZURÜTTELN.

Was geschah sonst noch in diesem Herbst, wovon die Familie in besonderer Weise betroffen war?

Heidi, die siebenjährige Tochter Hedwigs, durfte zur Schule gehen. Weil sie so ausgezeichnet sprach, erlaubte man ihr, die erste Klasse zu überspringen und gleich in die zweite Klasse einzutreten. Hedwig sortierte Schrauben im Ölgebiet. Josef, der Bauer ohne Land, sammelte Fallholz in den umliegenden Wäldern, zerhackte es sauber in kleine Stücke und band es zu Bündeln. Anna und die Kinder hielten Nachlese auf den abgeernteten Kartoffelfeldern, wühlten noch ein Häufchen Kartoffeln aus der lehmigen Erde. Heinrich, von der heimlichen Sehnsucht erfüllt, eines Tages nach Wien gehen, dort leben zu dürfen, brachte ein Gesuch um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ein, das Gesuch war vom Bürgermeister des Dorfes AUS GRÜNDEN DES ÖFFENTLICHEN WOHLES, aber auch, weil man mit diesem Doktor die besten Erfahrungen gesammelt hatte, weil er sich IM INTERESSE DER GESUNDHEITLICHEN BETREUUNG DER BEVÖLKERUNG IN AUFOPFERNDER WEISE EINGESETZT HATTE, UND NICHT ZULETZT DESHALB, WEIL NOCH AUF JAHRE MIT EINEM ERHEBLICHEN ÄRZTEMANGEL AUF DEM LANDE ZU RECHNEN sein würde, wärmstens befürwortet worden.

Er war im Besitz einer auf ein Stückchen grobes Papier geschriebenen VORLÄUFIGEN AUFENTHALTSBEWILLIGUNG, die vom Bezirkshauptmann mit blauer Tinte, vom russischen Ortskommandanten mit rotem Stift unterschrieben worden war.

Von Anni, der Tochter, war noch kein Lebenszeichen gekommen.

Heimatsuchen

Подняться наверх