Читать книгу Das letzte Jahr - Ilse Tielsch - Страница 10
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ОглавлениеSchräg gegenüber in unserer Gasse ist das Lebensmittelgeschäft der kleinen Frau Hirsch, wo unsere Josefka, bis zum Zeitpunkt ihrer Verheiratung jedenfalls, neben anderen für die Küche notwendigen Sachen täglich auch fünf Deka frisch vom Bein geschnittenen Schinken gekauft hat, weil ihn mein Vater zum Gabelfrühstück gerne ißt. Ehe die Josefka uns wegen ihrer Verheiratung verlassen hat, hat sie der Marschenka, die seither bei uns angestellt ist, eingeschärft, diese Gewohnheit beizubehalten. Der Schinken, den man bei der Frau Hirsch bekommt, hat sie gesagt, ist der beste Schinken in der Stadt und mein Vater muß schließlich schwer arbeiten und verdient es, zum Gabelfrühstück den besten Schinken zu bekommen.
Die Marschenka befolgt diese Anweisung gewissenhaft, sie geht mit dem in Butterpapier eingewickelten Schinken dann auch noch hinüber zum Bäcker Plicha, bei dem sie eine frisch gebackene Semmel kauft.
Der Herr Plicha ist ein Deutscher, auch die kleine Frau Hirsch ist eine Deutsche, wenn sie auch Jüdin ist.
Auch meine andere beste Freundin ist jüdisch, sie geht aber in die neue Schule, die für die tschechischen Kinder gebaut worden ist, obwohl ihre Eltern eigentlich Deutsche sind. Ihr Vater will, daß sie ordentlich Tschechisch lernt, Deutsch, sagt er, lernt sie daheim sowieso.
Mit der Lilli verstehe ich mich genauso gut wie mit der Alenka. Leider darf sie Verschiedenes nicht, was die Alenka darf, weil ihre Eltern sehr auf sie aufpassen, aber ich darf ja auch nicht alles. Zum Beispiel soll ich zu Ostern nur bei den nahen Verwandten um Eier bitten und nicht wie andere Kinder von Haus zu Haus gehen, und die Lilli soll es schon gar nicht, weil das nicht in ihre Religion paßt. Heuer hat sie aber etwas mehr Freiheit gehabt, weil ihr Kinderfräulein, die Sletschno, über die Feiertage Urlaub genommen hat.
Wir haben ganz schön viele Eier zusammenbekommen, nachher sind wir auf einer Bank in der Bahnhofsallee gesessen und haben sie gezählt, die zerdrückten haben wir gleich aufgegessen. Lilli hat mir dazu etwas von ihren Mazzes geschenkt, die die Juden zu Ostern essen, und ich habe ihr dafür zwei Eier mehr gegeben. Die Geldstücke, die uns die Leute geschenkt haben, haben wir redlich geteilt.
Die Lilli hat dann leider Hausarrest bekommen, weil das Ostereiersammeln nicht in ihre Religion gehört, und ich habe drei Seiten aus meinem Heimatkundeheft abschreiben müssen, weil ich sie dazu verleitet habe, das hat uns aber nicht viel ausgemacht.
In der neuen tschechischen Schule, in welche die Lilli geht, gibt es eine Zentralheizung und lackierte Parkettfußböden und die Schulkinder sehen aus ihren Klassenzimmern durch große Fenster in die Felder hinaus. Ich gehe in die deutsche Schule, die in einem großen alten Kasten aus der Kaiserzeit untergebracht ist, der Fußboden in meinem Klassenzimmer ist mit Stauböl eingelassen und in der Ecke steht ein eiserner Ofen, der im Winter vom Herrn Vychodil, dem Schuldiener, täglich geheizt wird. Natürlich würden die deutschen Kinder auch gern in eine so schöne neue Schule gehen wie die Lilli, vor allem wegen des schönen Turnsaals, den sie dort haben, mein Vater meint aber, daß man in unserer alten Schule ebensogut lernen und in unserem Turnsaal ebensogut turnen kann.
Zum Beispiel, sagt meine Mutter, habt ihr dort einen Rundlauf, den haben die tschechischen Kinder nicht.
Der Rundlauf ist ein Turngerät, an dem man im Kreis durch die Luft fliegen kann, was angeblich sehr gut für den Rücken ist. Meine Mutter hält es für ausgeschlossen, ihn an der Turnsaaldecke der neuen tschechischen Schule anzubringen, weil die sicher nicht hoch und auch nicht fest genug, also dazu gar nicht geeignet ist.
Schon der Rundlauf, sagt meine Mutter, ist ein Grund, sich nicht unbedingt eine neue Schule und einen neuen Turnsaal zu wünschen.
Es wird sich sowieso nicht vermeiden lassen, daß auch für die deutschen Kinder eines Tages eine neue Schule gebaut wird, sagt mein Vater, schon wegen der Gleichberechtigung, die den Deutschen in der Tschechoslowakei ja versprochen worden ist, und weil es bei uns mehr deutsche als tschechische Kinder gibt. Dann aber werde ich wahrscheinlich schon erwachsen sein und längst in Amerika bei den Indianern leben.
Um meinen Vater nicht unnötig aufzuregen, sage ich das aber nicht laut, sondern denke es nur im Stillen.
Wir müssen nur Geduld haben, sagt der Vater, alles braucht seine Zeit. Er meint damit uns Deutsche, denen man bis jetzt zum Beispiel noch keine neuen Schulen gebaut hat und die, wie meine Tante Wetti sagt, überhaupt im ganzen Land nur die zweite Geige spielen. Ähnliches habe ich in letzter Zeit auch von anderen Leuten gehört.
Für das neue tschechische Gymnasium gibt es ohnedies zu wenige Schüler, deshalb gehen auch einige Kinder aus deutschen Familien dorthin, diese Kinder sind aber nicht aus Familien unserer Stadt.
Meine Freundin Alenka sitzt also in der alten deutschen Volksschule neben mir, obwohl bei ihr zu Hause meistens Tschechisch gesprochen wird, aber ihr Vater will, daß sie nicht nur Deutsch sprechen kann, sondern auch richtig schreiben lernt. Angeblich ist er eigentlich ein Deutscher, nur Alenkas Mutter soll eine Tschechin sein, obwohl sie genauso gut Deutsch kann wie die Leute, von denen man sicher weiß, daß sie Deutsche sind.
Ich frage aber nicht, ob die Lilli oder die Alenka deutsche oder tschechische Kinder sind, und sie fragen mich nicht, ob ich eine Tschechin oder eine Deutsche oder vielleicht eine Chinesin bin. Miteinander sprechen wir Deutsch.
Die Lilli spricht mit der Sletschno auch meistens nur Deutsch, obwohl sie mit ihr Tschechisch sprechen soll, damit sie es besser lernt und sich in ihrer Schule nicht so sehr anstrengen muß. Die Sletschno kann sehr gut Tschechisch, aber doch wieder nicht so perfekt, daß sie es ständig sprechen will.
Die Sletschno ist natürlich nicht für die Lilli angestellt worden, weil zehnjährige Mädchen ja kein Kinderfräulein brauchen. Aber die Lilli hat einen ganz kleinen Bruder, der täglich im Kinderwagen spazieren gefahren werden muß, damit er genug frische Luft bekommt. Die Lilli muß mitgehen, weil auch sie viel frische Luft atmen soll, obwohl sie die auch auf andere und viel lustigere Weise bekommen könnte.
Weil ihr bei diesen Spaziergängen sonst schrecklich langweilig sein würde, gehe ich manchmal mit.