Читать книгу Das letzte Jahr - Ilse Tielsch - Страница 8

4

Оглавление

Die Mandeln haben sie mir im vergangenen Jahr in Wien herausoperiert. In Wien ist nämlich alles besser, darum haben meine Eltern gemeint, auch die Ärzte, die Kindern die Mandeln herausoperieren, müßten dort besser sein. In Wien ist überhaupt alles größer, vornehmer und herrlicher als bei uns, und wenn es auch keinen Kaiser mehr gibt, der das alles so groß, so vornehm und so herrlich gemacht hat, etwas von der kaiserlichen Herrlichkeit ist trotzdem geblieben.

Mehrere unserer Verwandten sind deshalb als junge Leute nach Wien gezogen, sie wollten es zu etwas bringen, und manchen ist das auch gelungen. Einige haben sogar eigene Häuser oder Wohnungen mit Badezimmer und Zentralheizung und einer von ihnen hat sogar ein Auto und dazu einen Chauffeur, mit diesem Auto und mit dem Chauffeur ist er schon bei uns gewesen und hat uns besucht. Während er mit meinen Eltern im Wohnzimmer gesessen ist und sich unterhalten hat, ist der Chauffeur im Auto geblieben, und wenn ihn die Marschenka nicht herausgeholt und ihm in der Küche einen Kaffee gekocht hätte, wäre er bis zum Abend brav dort sitzengeblieben.

Das war anständig von der Marschenka, sagt meine Mutter, ihr selbst ist es vor Aufregung über den unerwarteten Besuch nicht aufgefallen, daß der arme Chauffeur im Auto geblieben ist, und sie hat deshalb nachher ein schlechtes Gewissen gehabt. In der Küche ist er dann sehr lustig gewesen und hat sich mit der Marschenka gut unterhalten.

Die Marschenka, sagt meine Mutter, ist ein guter Mensch und das ist wahr, sonst würde sie mir nicht ihre Taschenlampe borgen. Sie hilft meiner Mutter im Haushalt, weil uns die Josefka, die früher bei uns gewesen ist, wegen dem Glasermeister Platzek, den sie geheiratet hat, verlassen hat.

Auch meine ziemlich junge Tante Rosi ist nach Wien gezogen, ihre Kindheit hat sie noch in einem kleinen Haus am Rand unserer Stadt verbracht. Wenn sie in den Ferien zu ihren Eltern auf Besuch kommt, spricht sie nur noch wienerisch, unseren Dialekt hat sie komplett verlernt, Tschechisch kann sie überhaupt nicht mehr verstehen, jedenfalls tut sie so, als könnte sie es nicht. Sie trägt auch an gewöhnlichen Wochentagen Stöckelschuhe, mit denen sie, wenn es regnet, nicht über die Wasserlacken steigen kann, riecht nach Kölnischwasser und rümpft die Nase, weil wir im Klosett keine Wasserspülung haben.

In Wien ist so etwas selbstverständlich, sagt die Tante Rosi, ein Leben ohne Wasserspülung auf dem Klosett kann sie sich nicht mehr vorstellen. Sie hat zwar kein Badezimmer und keine Zentralheizung in ihrer Wiener Wohnung, aber auf dem Gang vor ihrer Wohnungstür hat sie eine Wasserleitung, sie muß das Trinkwasser nicht vom Brunnen holen. Trotzdem kommt sie, vor allem im Sommer, gern wieder her. Zur Kirschenzeit holt sie sich Kirschen, später dann Marillen und Pfirsiche, im Herbst die blauen Zwetschken oder ein Glas von dem Powidl, den ihre Mutter im großen Kessel der Waschküche kocht und der zur Füllung von Backwaren aus Germteig, zum Beispiel von Buchteln, aber auch für Powidltascherin unbedingt notwendig ist. Sie schwärmt von ihrem Wiener Trinkwasser und sagt, eigentlich müßte man unser Wasser abkochen, ehe man es trinkt, auch wenn es aus dem Brunnen am unteren Stadtplatz kommt. In unserem Wasser, sagt die Tante Rosi, sind sicher unheimlich viele Bazillen, von denen man krank werden kann. Das haben wir ihr ziemlich übel genommen.

Du bist ja von unserem Wasser auch nicht krank geworden, hat meine Mutter gesagt, und deine Mutter hat es ganz sicher nicht abgekocht. Die Tante Rosi hat aber gemeint, daß sie nur deshalb nicht krank geworden ist, weil ihr Körper sich schon an die Bazillen gewöhnt hat. Und Glück, hat sie gesagt, ist sicherlich auch dabei gewesen. Meine Mutter hat ihr darauf keine Antwort mehr gegeben, aber später hat sie die Geschichte meinem Vater erzählt und die Tante Rosi eine dumme Urschel genannt.

Wien ist die Hauptstadt von Österreich und für uns wird das auch so bleiben, sagt mein Vater, auch wenn Österreich jetzt »Ostmark« heißt. Es sind dort nämlich im März die deutschen Soldaten vom Hitler einmarschiert und der Hitler hat gleich darauf den Namen geändert.

Die Ostmark gehört jetzt zum Deutschen Reich, das frühere Deutsche Reich wird von den früheren Österreichern, die jetzt Ostmärker geworden sind, aber auch von vielen Leuten in unserer Gegend, das Altreich genannt. Im Altreich, sagen jetzt manche Leute, soll alles besser und schöner sein als bei uns, die Leute verdienen viel Geld und können sich alles kaufen, was sie sich wünschen, und das ist so, weil der Hitler alles verändert hat. Arbeitslose, wie sie in manchen Gegenden massenhaft vorkommen, gibt es dort nicht mehr. Bei uns sind sie ohnedies selten, weil die meisten Leute auf den Feldern arbeiten, sagt mein Vater, und weil auch die ärmsten Leute ein kleines Stück Feld haben, wo sie ihre Erdäpfel und ihr Gemüse anbauen können. Schlimm soll es vor allem dort sein, wo nicht viel wächst und wo viele Fabriken sind. Dort, sagt mein Vater, glauben sehr viele Leute alles, was man ihnen von diesem Hitler erzählt.

Über das alles ist geredet worden, wie die Leute im vergangenen Herbst wie in jedem Jahr zusammengekommen sind, um die Blätter von den gelben oder roten Kukuruzkolben abzureißen, oder später im Winter beim Federnschleißen. Da liegen die Gänsefedern in Haufen auf den Küchentischen und die Frauen ziehen von den Kielen den weichen Flaum ab, womit man die Kopfpolster und Tuchenten füllt. Dabei wird besonders spannend erzählt und besonders ausführlich berichtet, es wird auch, weil es draußen so kalt ist, viel Glühwein getrunken und die Stimmung ist gut. Beim Lachen muß man sich allerdings sehr beherrschen, und wir Kinder müssen ganz still dabei sitzen, weil sonst, durch die Luftbewegung, die Federn in der ganzen Küche herumfliegen.

Bei solchen Gelegenheiten werden auch interessante Geschichten erzählt, meistens Liebesgeschichten, von denen wir Kinder leider immer nur den Anfang zu hören bekommen, denn während sie erzählt werden, fällt regelmäßig jemandem ein, daß es schon spät ist und daß wir schlafen gehen müssen, und dann werden wir ins Bett geschickt.

Mich könnten sie ruhig zuhören lassen, weil die Marschenka mir schon sehr viele aufregende Liebesgeschichten erzählt hat, die sie aus ihren Romanen kennt. Die meisten haben ein glückliches Ende, aber manche gehen unglücklich aus und ich muß dann, ehe ich einschlafe, lang über sie nachdenken. Solche Geschichten, sagt die Marschenka, sind zwar erfunden, aber sie kommen genau so auch im wirklichen Leben vor.

Wenn man nichts liest, sagt die Marschenka, weiß man nichts von der Welt. Darin muß ich ihr wirklich rechtgeben, wenn ich den »Schatz im Silbersee« nicht gelesen hätte, wüßte ich nichts über Amerika und die Indianer.

Auch das Radfahren hat mir die Marschenka beigebracht. Geduldig ist sie neben mir hergetrabt und hat mein Fahrrad am Sattel festgehalten, bis ich imstande gewesen bin, selbst das Gleichgewicht zu halten, und ihr davongefahren bin. Beim erstenmal ist das nicht sehr gut ausgegangen, weil ich zwar schon gewußt habe, wie man das Gleichgewicht auf dem Fahrrad hält, aber nicht, wie man stehenbleibt und absteigt, wenn das plötzlich notwendig ist.

Damals sind mir auf der Straße mehrere Fußgänger entgegengekommen, die mich für eine bessere Radfahrerin gehalten haben, als ich zu diesem Zeitpunkt gewesen bin, deshalb sind sie mir auch nicht ausgewichen, weil sie gedacht haben, daß ich ihnen ausweichen oder stehenbleiben und vom Rad steigen würde. Ich habe aber in meinem Schreck auf den Rücktritt vergessen und mit der Handbremse zu scharf gebremst, bin der Länge nach auf die Straße gestürzt und habe mir beide Knie und auch beide Ellbogen blutig geschlagen. Meine Mutter hat mir Jodtinktur draufgegeben, es hat entsetzlich gebrannt, aber sie hat gemeint, ich soll mich nicht so aufspielen, das werden die besten Ellbogen und die besten Knie.

Bis du heiratest, ist das alles gut, hat meine Mutter gesagt. Weil ich sie nicht unnötig aufregen wollte, habe ich ihr nicht geantwortet, daß ich ja gar nicht heiraten will.

Ich bin später noch ein paarmal ganz schön hingeflogen, dann aber sind die Stürze seltener geworden und schließlich haben sie aufgehört. Jetzt kann ich nicht nur sehr schnell fahren und entgegenkommenden Leuten ausweichen, ich kann sogar freihändig fahren oder, wenn ich dazu Lust habe, besonders kräftig in die Pedale treten, damit Schwung holen und dann die ausgestreckten Beine rechts und links von der Lenkstange an den vorderen Kotflügel lehnen. Vielleicht kann ich meine Beine, wenn sie erst einmal länger geworden sind, sogar auf die Lenkstange legen und überhaupt mit der Zeit noch ein paar besondere Kunststücke lernen, etwa einen Kopfstand auf dem Sattel machen und dabei mit Bällen oder glitzernden Kugeln jonglieren oder Mundharmonika spielen und ähnliche Sachen. Damit könnte ich dann im Zirkus auftreten und dort das Geld verdienen, das ich zum Leben brauche. Diese Möglichkeit stelle ich mir jedenfalls vor.

Daß meine Wiener Tante Hannelore Zirkuskünstlerin geworden ist, habe ich übrigens nur durch Zufall erfahren, meine Eltern haben mir nichts davon erzählt. Über meinen Plan, mich vielleicht für denselben Beruf zu entscheiden, sage ich aber nichts zu meiner Mutter, weil sie von meiner Zukunft wahrscheinlich andere Vorstellungen hat, wenn sie auch bis jetzt noch nie gesagt hat, daß ich vielleicht Handarbeitslehrerin oder Sparkassenbeamtin werden soll.

Weil die Marschenka Heimweh nach Tarowitschky hat, sind wir, wie sie mir das Radfahren in den Grundbegriffen beigebracht hat, immer auf derselben Straße und immer in dieselbe Richtung gelaufen. Ich habe das Radfahren und nach mehreren Stürzen auch das Stehenbleiben und Absteigen, nebenbei aber auch viele tschechische Wörter und auch ganze Sätze auf der Landstraße nach Tarowitschky erlernt. Manche dieser Sätze haben mir meine Eltern aber, wenn ich sie beim Mittagessen gesagt habe, leider wieder verboten.

Das letzte Jahr

Подняться наверх