Читать книгу Bullshit-Bingo - Ina Taus - Страница 6
KAPITEL 1
ОглавлениеMan könnte meinen, der Wagen meines Bruders wäre wie von Zauberhand auf den winzigen Parkplatz geglitten. Doch die Wahrheit war, dass er einfach ein besserer Fahrer war als ich. Vielleicht, weil in seinem Kopf keine Folge eines Fast-and-Furious-Einparkmanövers ablief, während er das Auto rückwärts in eine winzige Lücke quetschte.
Schwungvoll zog er die Handbremse seines Dodge Dart an, der mich durch die türkise Farbe – Easton bestand darauf, dass sein Wagen grün war, nicht türkis – an Rusty aus dem Pixar-Film Cars erinnerte. Was natürlich mehr über meine Liebe zu Animationsfilmen aussagte als über Eastons Leidenschaft für alte Autos, die er sogar zum Beruf gemacht hatte. Er träumte zwar immer noch davon, irgendwann mal Rockstar zu werden, aber zumindest machte ihm sein normaler Job auch Spaß.
Der Motor gab ein letztes tuckerndes Geräusch von sich, bevor Easton ihn mit dem Drehen des Schlüssels zum Schweigen brachte. »Das ist es also«, murmelte er und blies sich auf eine nachlässig gechillte Art eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Er besaß tatsächlich die Frechheit, entspannt oder eher gelangweilt zu klingen. Ein Wunder, dass er nicht auch noch gähnte. Könnte er doch nur solch eine Begeisterung für die Wahl meines Colleges aufbringen wie für alles, was vier Reifen oder zwei Brüste hatte.
Ihn ignorierend drückte ich mir die Nase an der Fensterscheibe platt und starrte das rote Backsteingebäude ehrfürchtig an.
»Gregory College House«, flüsterte ich, und der Respekt, der in meiner Stimme mitschwang, war kaum zu überhören. Es war schon immer mein Traum gewesen, an einem Ivy-League-College zu studieren, und nun war ich hier. An der University of Pennsylvania, kurz Penn genannt. Eine der ältesten und renommiertesten Bildungsstätten des Landes.
East schnaubte. »Haley, du klingst, als würdest du dir gleich vor Ehrfurcht ins Höschen machen.«
Schwachsinn.
Ich drehte mich zu ihm um und boxte gegen seine Schulter. »Dafür«, ich zeigte mit dem Daumen über meine Schulter auf mein zukünftiges Wohnheim, »habe ich mir während der gesamten Highschool-Zeit den Hintern aufgerissen. Und jetzt halt die Klappe und nimm an diesem bedeutungsvollen Moment in meinem Leben teil, du Ignorant.«
Natürlich tat mein älterer Bruder genau das Gegenteil davon.
»Ich weiß nicht …«, murmelte er und spähte über meine Schulter hinweg ebenfalls nach draußen. »Das Haus wirkt nicht unbedingt eindrucksvoll.«
Ich konnte froh sein, dass ich überhaupt einen Wohnplatz bekommen hatte. Alle Wohnheime für Erstsemester waren längst voll gewesen, aber zum Glück hatte man hier noch ein Zimmer für mich aufgetrieben.
East verzog das Gesicht, als wäre er ein Wohnheimkritiker, und musterte den Altbau mit arrogant erhobener Augenbraue. »Rote Backsteine«, stellte er fest. »Das wirkt so, als würde das Gebäude absichtlich auf altmodisch machen.«
Wir waren nicht bei American Idol, und East hatte kein Recht, hier irgendwas zu kritisieren. Er hatte keine Ahnung, denn dieses Wohnheim war perfekt. Einen – für ihn langweiligen – Vortrag über mein neues Wohnheim würde ich mir definitiv sparen, denn er wüsste ihn sowieso nicht zu schätzen. Wobei …
»Wusstest du, dass es an der Penn zwölf verschiedene Häuser für die Studierenden gibt?«
Er grinste mich an. »Und da landest du ausgerechnet im Gregory House? Waren Haus Baratheon, Targaryen, Stark, Frey, Arryn, Lennister, Graufreud und Martell schon voll?« Schlagartig verfluchte ich unseren gemeinsamen Serienmarathon im Sommer. Wer hätte auch ahnen können, dass mein Bruder mit seinen einundzwanzig Jahren noch vergaß, die Klobrille runterzuklappen, aber sich jeden noch so kleinen Game-of-Thrones-Fakt merkte? Sein Hirn war ein Sieb, das im Normalfall nur Blödsinn filterte. Wie zum Beispiel Jingles für Cornflakes-Werbungen, die er dann andauernd schief summte. Oder GoT-Facts.
Gott, war ich bereit, auszuziehen.
»Halt die Klappe, East«, murmelte ich mit einem Schmunzeln. Zugegeben, auch wenn Easton mich seit jeher mit Leidenschaft ärgerte, würde ich ihn vielleicht doch etwas vermissen. Bevor ich noch sentimental wurde, riss ich mich zusammen. Was jetzt kam, war eine wirklich große Sache für mich.
Das schien auch Easton zu bemerken, und er rettete mich vor meiner eigenen Gefühlsduselei, indem er den Schlüssel abzog und die Autotür öffnete. Die kurze Schonfrist, in der ich in aller Ruhe die Lage abchecken konnte, war offensichtlich zu Ende. Also tat ich es East gleich und stieg mit zittrigen Beinen aus. Möglicherweise, und das würde ich nie zugeben, hatte er nämlich recht und ich war tatsächlich ein kleines bisschen aufgeregt. Aber verdammt noch mal, ich hatte mein ganzes bisheriges Leben darauf hingearbeitet, irgendwann gemeinsam mit meinem Sportler-Freund – der nun mein Ex-Freund war – auf ein Ivy-League-College gehen zu können. Und jetzt war ich tatsächlich hier. Im Gegensatz zu ihm.
Nach der angenehm kühlen Luft im Auto raubte mir die flirrende Augusthitze Philadelphias kurz den Atem. Ich blieb wie festgefroren auf dem Gehweg stehen und starrte auf die Hausfassade. Auch wenn ich es ungern zugab, hatte Easton teilweise recht. Die roten Backsteine wirkten nicht unbedingt modern, aber dafür zählte die Universität zu den ältesten des Landes. Die Penn war so wie meine Highschool-Freundin Gretchen. Von außen betrachtet zum Verkaufen von Bibeln bestens geeignet, doch in ihrem Inneren so versaut, dass selbst der Teufel sich vor ihr verneigen würde. Dem ich, nur nebenbei bemerkt, meine Seele verkauft hätte, nur um hier studieren zu dürfen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, der zum Glück nicht nach Schwefel roch. Es hatte also doch Vorteile, es aus eigenem Antrieb an eine gute Universität zu schaffen. Ganz ohne ewige Verdammnis und Höllenfeuer.
Easton stellte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter. »Und? Riecht die Luft hier anders als zu Hause?«
»Ja, akademischer.«
Das brachte ihn zum Lachen. »Wer’s glaubt, Superhirn.«
Bei der Erwähnung meines Kosenamens wurde ich schon wieder etwas rührselig, denn ich wusste, dass er wahnsinnig stolz auf meine Zielstrebigkeit war. Als die bei seiner Geburt verteilt wurde, stand er immer noch beim Sarkasmus an, deshalb fehlte ihm diese Eigenschaft völlig.
Aus einem Impuls heraus drehte ich mich zu ihm und schlang meine Arme um ihn. East war ein wenig wie Olaf, der Schneemann aus Frozen. Der stand ebenfalls tierisch auf Umarmungen und nahm, was er bekommen konnte. Ich hielt es da wie Elsa. Aber genug von meiner Obsession für Animationsfilme. Und genug von dieser nicht enden wollenden Umarmung.
»Lass los. Du kennst die Zehn-Sekunden-Regel«, brummte ich. Ich war noch nie besonders touchy gewesen, ganz im Gegensatz zu dem übergroßen Stofftier-Olaf in Form meines Bruders, der sich immer noch an mich klammerte.
Natürlich ließ er mich nicht los. »Die tritt außer Kraft, wenn du eine Umarmung initiierst.«
»Wo steht das?«
»Geschwisterhandbuch, Kapitel vier, Absatz fünf. Wird großen Brüdern bei der Geburt eines Geschwisterchens geschenkt«, log er.
»Wenn du das sagst.« Ich versuchte trotzdem, ihn von mir zu schieben. »Aber langsam wird es merkwürdig. Nachher denken die heißen College-Jungs noch, dass ich mich von meinem Freund verabschiede. Und schon habe ich keine Chancen mehr, jemanden abzuschleppen.« Vermutlich würde das niemand denken, da East und ich uns ziemlich ähnlich sahen. Wir hatten die gleichen langweiligen braunen Haare und grünen Augen. Aber sicher war sicher und die zehn Sekunden bei Weitem überschritten, also schob ich ihn von mir.
Demonstrativ steckte Easton sich seine Finger in die Ohren. »La, la, la, la. Ich habe nichts gehört. La, la, la, la.«
Ich ging zum Kofferraum und öffnete die Klappe. »Sei nicht so prüde, East, und werd erwachsen. Du weißt schon, dass ich die ganze Highschool-Zeit über einen festen Freund hatte und dass wir in meinem Zimmer nicht nur gelernt haben, oder?«
»Nein«, ächzte er, als er sich neben mich stellte. »Aber ich werde es auf die Liste mit Dingen setzen, die ich nie über meine Schwester wissen wollte.«
Ich klimperte übertrieben mit meinen Augen. »Stets zu Diensten, Rockstar.« Auch ich hatte für Easton einen Spitznamen. Ich fand ihn ziemlich passend, da er seit seiner Jugend mehr Zeit mit seiner Gitarre verbrachte als mit Lernen oder seinen immer wechselnden Freundinnen.
Unser Geplänkel war für East wohl beendet, denn er klopfte auf einen der Umzugskartons. »Weißt du überhaupt, wo wir hinmüssen?«
»Ja, natürlich. Meine Zimmernummer wurde mir vorab mitgeteilt, ich muss nur noch den Schlüssel holen. Warte mal kurz hier.«
»Okay. Ich lehne mich einfach gegen den Wagen und sehe gut aus.« Vielleicht sollte ich Eastons Ego mitnehmen, sonst könnte es in der Hitze einen Sonnenstich bekommen.
Über die Schulter winkte ich ihm zu und ging dann das Gebäude entlang, um den Eingang zu finden. An sich eigentlich kein schwieriges Unterfangen.
Sollte man meinen.
Wenn man allerdings Haley Evans hieß, gestaltete sich die Suche nach einer Tür offensichtlich schwieriger als gedacht. Mein Orientierungssinn war mies. Man müsste mich vermutlich nur einmal mit geschlossenen Augen im Kreis drehen und ich würde nicht mehr zurück zum Wagen finden.
Aber da ich bereits in ein paar Stunden auf mich allein gestellt sein würde, sollte ich langsam damit anfangen, ohne Hilfe zurechtzukommen. Besser spät als nie.
Ich ging das große Gebäude entlang.
Fenster.
Fenster.
Noch mehr Fenster.
Das konnte doch nicht wahr sein. Der erste Tag am College, und ich scheiterte bereits daran, den Eingang zu meinem Wohnheim zu finden. Mein Orientierungssinn ließ wirklich zu wünschen übrig. Das, oder East hatte schlecht geparkt.
Na toll, immer noch keine Tür in Sicht. Dafür fand ich einen kleinen Durchgang, markiert durch eine Mülltonne. Ich nahm an, dass ich einfach auf der falschen Seite des Gebäudes gesucht hatte, also ignorierte ich den Gestank des Abfalls, hielt die Luft an und ging weiter.
Obwohl ich bereits durch meinen miesen Orientierungssinn gezeichnet und durch den kurzweiligen Verlust meines Geruchssinns eingeschränkt war, setzte das Universum noch einen drauf, indem es mich halb blind machte. Und das alles nur wegen der Sonne, die mich blendete und versuchte, mir die Sehkraft zu rauben.
Übertrieb ich?
Definitiv. Aber ich wollte verdammt noch einmal endlich einen Eingang finden.
Für einen kurzen Moment konnte ich wegen meines neuen Feindes – des Sonnenlichts – nur Schemen sehen, und wurde quasi von oben niedergestreckt.
Nicht von Gott. Nur von … keine Ahnung. Dem Schmerz nach zu urteilen, musste es ein Amboss gewesen sein. Mist, tat das weh.
Wer zur Hölle wirft am helllichten Tag mit Ambossen um sich?
Fassungslos starrte ich auf das Ding, das sich bei genauerem Hinsehen als Rucksack entpuppte und nun unschuldig zu meinen Füßen lag. Ich trat trotzdem nach dem verdammten Teil, das mich mit der Feuerkraft eines Dodgeballs am Kopf getroffen hatte, und rieb mir den Schädel. Ich hatte Völkerball immer schon gehasst. »Eliminiert.« Aber so was von.
Ein wenig benebelt sah ich nach oben und stellte fest, dass in diesem Moment ein Kerl aus einem offenen Fenster im ersten Stock sprang und souverän auf beiden Beinen landete, als würde er jeden Tag diese Superhelden-Moves abziehen.
Wer machte denn bitte so was?
Andererseits … es gab ja auch nirgendwo Türen, da war es scheinbar völlig normal, hier aus Fenstern zu springen.
Suchend sah er sich nach seinem Rucksack um, entdeckte aber nur das Mädchen, das sich immer noch den schmerzenden Kopf rieb.
»Fuck«, hörte ich ihn mit rauer Stimme sagen, die mir seltsam bekannt vorkam. »Geht es dir gut?«
»Ob es mir gut geht?«, murmelte ich und fixierte den Kerl mit mörderischem Blick. »Sehe ich so aus, als würde es mir …«
Mitten im Satz brach ich ab und starrte in die meerblauen Augen meines ehemaligen Nachbarn. Wobei ehemalig nicht ganz richtig war. Seine Eltern wohnten immer noch im Haus nebenan, nur Adam hatte ich den ganzen Sommer über nicht gesehen. Und den davor ebenfalls nicht.
»Adam Carter?«, kam es völlig verblüfft aus meinem Mund, und ich versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass ich nicht damit gerechnet hatte, ihm an meinem ersten Tag in Philadelphia über den Weg zu laufen. Oder überhaupt jemals wieder in meinem Leben.
Aber er war es. Definitiv. Irrtum ausgeschlossen.
Adam hatte sich kaum verändert, sah aber trotzdem irgendwie anders aus. Erwachsener, möglicherweise. Und das, obwohl er immer noch die gleichen schwarzen Chucks – oder zumindest dasselbe Modell – trug, kombiniert mit einer schwarzen Jeans samt Rissen an den Knien und einem schwarzen kurzärmligen T-Shirt, das einen Blick auf seine tätowierten muskulösen Arme freigab. Im Gegensatz zu seinem tristen Kleidungsstil bewies er wenigstens dort Mut zur Farbe.
Wie es aussah, hatten so ziemlich alle Farbschattierungen der Welt auf Adams Haut eine Orgie gefeiert und sich in rasendem Tempo miteinander vereinigt. Zumindest konnte ich mir nicht anders erklären, warum das Punisher-Zeichen, das er sich in der Highschool auf den Unterarm hatte stechen lassen, plötzlich eine Party mit dem kompletten Marvel-Cast feierte. Ein Superheld reihte sich an den nächsten. Was aber zunächst wie eine ungeordnete Ansammlung wirkte, setzte sich erstaunlicherweise zu einem wirklich spannend anzusehenden Gesamtbild zusammen.
War Adam Carter immer schon so … so … so tätowiert einschüchternd gewesen? Anders konnte ich mir nicht erklären, dass plötzlich das Wort heiß im Zusammenhang mit ihm in meinem Kopf herumspukte. An den hellbraunen Haaren, die er offensichtlich immer noch nicht richtig stylen konnte, lag es bestimmt nicht. Dieser heiße Studentenlook war doch zum Kotzen. Dazu noch dieses penetrante Sonnyboy-Lächeln mit leicht nach oben gezogener Augenbraue, die ihn wirken ließ, als würde er die ganze Welt hinterfragen wollen.
»Haley Evans.« Keine Frage, sondern eine Feststellung. Kam jetzt der Moment, in dem er sein »Geht es dir gut?« zurücknahm und mir stattdessen ein »Kannst du nicht aufpassen?« an den Kopf warf?
Ich lag falsch. So verdammt falsch, denn er sagte: »Schön, dich zu sehen.«
War das wirklich Adam? Der Junge von nebenan, Eastons ehemaliger bester Freund und der Typ, der irgendwann nur noch mit einsilbigem Brummen auf Fragen von mir reagiert hatte?
Skeptisch sah ich ihn an. »Fällt mir gerade nicht leicht zu glauben, nachdem du mich beinahe mit deinem Rucksack ermordet hast.« Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und versuchte, ihn grimmig in Grund und Boden zu starren. Was nicht besonders einfach war, wenn man bedachte, dass ich viel kleiner war als er. Angsteinflößend sah definitiv anders aus. Ungefähr einen Meter achtzig mit Bad-Ass-Marvel-Tattoos. Nicht dass ich immer noch darauf starren würde.
Adam pflügte mit den Fingern durch sein Chaoshaar. »Kannst du kurz aufhören, so … so … haleymäßig zu sein, um mir endlich zu sagen, wie du dich nach meiner Attacke fühlst?«
»Also gibst du zu, dass es vorsätzlich war?«
»Nein, aber es tut mir echt leid«, entschuldigte er sich. »Das mit dem Rucksack war ein Versehen. Ich wollte dich nicht damit abschießen. Aber hör jetzt endlich auf auszuweichen und sag mir, ob du okay bist.«
»Ich denke, ich habe durch den Schlag auf den Kopf meinen Orientierungssinn verloren.«
Vorwurfsvoll sah er mich an. »Du hattest noch nie einen. Und deinem eigenartigen Sinn für Humor ist auch nichts passiert.«
Mist! Da hatte ich einen sexy Zusammenstoß, aus dem sich eine romantische College-Lovestory ergeben könnte, nur leider mit einem Kerl, an dem ich keinerlei Interesse hatte. Was noch dazu auf Gegenseitigkeit beruhte.
Mit seiner Hand winkte Adam vor meinem Gesicht herum. »Tut dir irgendetwas weh? Fühlst du dich anders als sonst?«
»Na ja, dieses unfreiwillige Treffen hat mich ziemlich durcheinandergebracht.«
»Ernsthaft?«
»Nein.« Ja! Denn immerhin sprach er heute in einem normalen Tonfall mit mir. Das verwirrte mich. »Aber ich würde wirklich gern wissen, wieso du wie ein Stunt-Double aus dem Fenster gesprungen bist.«
»Die Tür quietscht und ich wollte unauffällig verschwinden.«
»Aha.« Das erklärte gar nichts. »Und in deinem Rucksack befinden sich irgendwelche Juwelen, die du da drinnen gestohlen hast?«
Adams Augenbrauen wanderten nach oben. »Nette Theorie. Das kannst du aber auch deutlich besser. Was ist der Wahrscheinlichkeit nach der häufigste Grund, aus denen Kerle in Fenster oder aus Fenstern klettern?«
Sex.
»Weil sie ihren Schlüssel vergessen haben?«
Ein belustigtes Schnauben kam aus Adams Mund, und ich fühlte mich geschmeichelt, dass ich ihn immer noch zum Lachen bringen konnte, wenn er mehr als einen Satz am Stück mit mir sprach. Was sich eigenartig anfühlte … vertraut, aber irgendwie auch neu. War der Adam, der wohl von Aliens entführt und gegen eine unhöflichere Version seiner selbst getauscht worden war, nun wieder zurück?
Irgendwie wollte ich nicht daran glauben, denn in den Jahren, bevor er aufs College abgehauen war, hatte er mich entweder ignoriert oder angebrummt. Ich rechnete jeden Moment mit einem Hirnkrampf, da die ganze Situation einfach nicht in meinen Kopf wollte, während Adam mich völlig unverblümt mit seinen unergründlichen Augen musterte. Diesen Blick kannte ich nur zu gut. Ihm folgte in den meisten Fällen irgendein dummer Kommentar.
In spätestens drei, zwei, eins …
»Und? Was hast du so in den letzten Jahren gemacht? Wie ich sehe, stehst du immer noch auf diesen Disney-Kram.« Er deutete mit einer nachlässigen Handbewegung auf mein Shirt und gab mir somit das Gefühl, wieder ein kleines Kind zu sein.
Und was war dann Marvel? Das Disney für Erwachsene, oder wie durfte ich das verstehen? Disney war kein Kleinkind-Kram. Es war eine verdammte Lebenseinstellung, aber Mister Obercool hatte vermutlich vergessen, dass er bei König der Löwen wie ein Baby geheult hatte. Mit zwölf! Aber was kümmerte es mich. Mein Grinsekatzen-Shirt, meine Arielle-Unterhose – die ich natürlich unter supersüßen und supersexy Shorts trug – und ich würden jetzt verschwinden. Klar, ich hatte bestimmt eine Million Fragen an Adam, doch die Angst, dass er sie in seinem altbekannten Arschlochtonfall beantworten würde, hinderte mich daran, sie zu stellen. Besser, ich trat den Rückzug an und vergaß, dass ich Adam heute wiedergesehen hatte.
»Ja, Disney ist offensichtlich mein Marvel«, spottete ich nach einem Blick auf seine Arme. »Wenn du erlaubst, würde ich jetzt in mein neues Wohnheim gehen.« Falls ich jemals einen Eingang finden würde.
Zur Untermauerung meiner Worte wollte ich an Adam vorbeirauschen und ihn einfach stehen lassen, doch er griff nach meinem Unterarm. »Halt! Warte.«
Seufzend blieb ich stehen. Natürlich. Es war ein großer Zufall, dass wir uns hier über den Weg gelaufen waren. Und hätte Adam sich in den Jahren bis zu seinem Highschool-Abschluss nicht wie ein unausstehlicher Arsch aufgeführt, wäre ich einem bisschen Small Talk nicht abgeneigt gewesen. Vor allem, da die Frage Wohnst du auch in diesem Gebäude? ganz oben in meinem Fragenkatalog stand. Aber die Dinge lagen nun einmal anders zwischen uns, deshalb würde ich mich zurückhalten. Die Angst vor Abweisung oder dämlichen Antworten war einfach zu groß.
Demonstrativ blickte ich auf meinen Arm, den Adam gar nicht mehr loslassen wollte. So viel Körperkontakt zu ihm war ich nicht gewohnt. Außerdem tickte die Uhr, denn die Zehn-Sekunden-Regel galt auch für ihn.
»Sorry.« Der kam ja heute aus dem Entschuldigen gar nicht mehr raus. »Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen und du läufst einfach weiter, als würden wir uns nicht seit unserer Kindheit kennen.« Seine Stimme klang anklagend, was mich unfassbar wütend machte. Denn er hatte kein Recht, mir irgendwelche Vorwürfe zu machen.
Mit vor der Brust verschränkten Armen wandte ich mich ihm zu. »Na rate mal wieso.«
»Weil ich auf der Highschool ein unausstehliches Arschloch war?«
Ding, ding, ding. Tausend Punkte für den Kandidaten. »Ja, das bringt die Sache so ziemlich auf den Punkt.«
»Menschen ändern sich.«
»Newsflash!«, zischte ich wütend. »Glaub mir, niemand weiß das besser als ich. Denn mein ehemaliger Nachbar hat mich von einem auf den anderen Tag nicht mehr angesehen, während er mit meinem Bruder immer noch auf best friends forever gemacht hat.«
Easton!
Ich schlug mir die Hand vor die Stirn, was vermutlich genauso doof aussah, wie ich befürchtete. Mein Bruder war ja auch noch hier und würde mich hoffentlich vor Adam retten. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und ging zielstrebig zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.
»Haley, dafür gibt es eine Erklärung.«
Vermutlich, doch ich wollte sie nicht hören. Oder eher nicht mehr, denn sie kam ein paar Jahre zu spät. »Und warum läufst du überhaupt von mir davon?«, fragte Adam, der mir hinterhertrottete wie ein Hund seinem Herrchen. Was sollte das?
»Ist das nicht offensichtlich?« Unbeirrt ging ich weiter und versuchte, Adam zu ignorieren. Leider war das unmöglich, denn Adam war für mich wie das ätzende Geräusch von Kreide auf einer Schiefertafel.
»Ja, schon. Aber wir sind doch erwachsen und können darüber reden.«
Nach einer halben Drehung, zu der mir jede Ballerina gratuliert hätte, blaffte ich ihn an: »Nennst du mich jetzt auch noch kindisch?« Und das Schlimmste war, ich konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn er hatte recht. Ich verhielt mich unlogisch und wie eine Zicke, die ich eigentlich nicht war.
Meine Schultern sackten nach unten. »Du hast recht.«
»Was?« Adams Stimme überschlug sich beinahe vor Unglauben.
»Ich sagte, du hast re-hecht.«
Doch Adam schien mir gar nicht mehr zuzuhören, da er über meine Schulter starrte. »Steht East da vorn?«, fragte er abgelenkt.
Ich drehte mich in die entsprechende Richtung und erkannte, dass mein Bruder wie angekündigt an seinem Wagen lehnte und Löcher in die Luft starrte. Vielleicht genoss er auch einfach nur die Sonne. Die verspiegelte Brille wäre zumindest ein Hinweis darauf.
»Ja, tut er. Er hat mich hergefahren.«
Sofort setzte Adam sich in Bewegung. »Wohnt er immer noch in Sheffield?«
Okay, offensichtlich war East nun interessanter und ich schon wieder Luft für Adam. Mein Plan ging besser auf als gedacht.
»Ja«, antwortete ich einsilbig.
Adam schien es eilig zu haben, Easton zu erreichen, und ich lief ihm hinterher. Keuchend blieben wir – okay, ich keuchte, Adam sah immer noch aus, als wäre er eben aus dem Bett gefallen – vor meinem Bruder stehen.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Sieh mal, wer mir gerade seinen Rucksack auf den Kopf geschmissen hat.« Der wohl eigenartigste Satz, der jemals meinen Mund verlassen hat.
»Habe ich mich eigentlich schon dafür entschuldigt?«
»Komischerweise bereits gefühlte hundert Mal.« Ich musste wohl erst wieder lernen, mit der netten Version von Adam umzugehen.
Easton, der bekanntlich die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege hatte, schien schnell zu verdauen, dass sein ehemaliger bester Freund unerwartet vor ihm stand. »Bei Haleys Dickschädel würde es mich wundern, wenn sie sich ernsthaft verletzt hätte.« Danach hielt er seinem Highschool-Freund die Hand hin, und nach ein paar ziemlich kompliziert aussehenden Handschlägen grinsten sie sich an.
Ernsthaft jetzt? So einfach war das zwischen Jungs? Keine Vorwürfe? Nichts? Ich war offensichtlich zu kompliziert. Und nachtragend.
Besser, ich kümmerte mich zuerst um den Schlüssel, danach um … das hier. Adam und Easton hatten sich bestimmt eine Menge zu erzählen, und ich würde ihnen nicht fehlen.
»Ich werde dann mal weiter versuchen, einen Eingang in diese Festung zu finden«, murmelte ich. Im Notfall würde ich einfach versuchen, durch das Fenster zu klettern, aus dem Adam gekommen war.
Ich wollte gerade wieder den gleichen Weg wie zuvor nehmen, da hielt Adam mich auf, indem er mir nachrief: »Haley. Andere Richtung.«