Читать книгу Kindheit D - Ines Krüger - Страница 2
ОглавлениеDie Briefbombe
Meine Mutti weinte. Sie saß auf dem Sofa und zitterte. Das zerknüllte Taschentuch in ihrer kleinen, schmalen Hand mit den rosa lackierten Fingernägeln verhieß nichts Gutes. Wenn meine Mutti weinte, musste etwas Entsetzliches passiert sein.
Ich war noch ganz klein. So klein, dass ich meinen Namen nicht schreiben konnte und viele Dinge nicht verstand. Alle Menschen um mich herum waren riesengroß. Besonders diese Männer, die in unserem Wohnzimmer und im Flur herumliefen und so ganz anders aussahen als unser Milchmann, der im grauen Stallanzug die Milch an unserer Haustür ablieferte, damit ich Kaba trinken konnte, während ich die Sesamstraße schaute. Ich liebte Bibo und Ernie und Bert.
Heute lief bei uns keine Sesamstraße. Meine Hand fasste vorsichtig nach Muttis Arm. Ich streichelte über ihren messingfarbenen, selbstgehäkelten Pullover mit den dunkelblauen, langen Fransen.
Meine Mutter strich mir über das Haar und sagte: „Sei lieb, Ines, das sind die vom Bundeskriminalamt. Sie versuchen, uns zu helfen.“
Dann weinte sie weiter.
Ich beobachtete die Männer, die ganz normale Kleidung anhatten, so wie die meisten Leute da draußen. Da draußen war etwas, das ich nie allein sehen durfte. Draußen war gefährlich. Das hatte ich gelernt – so wie das Zählen bis zehn. Nach draußen durfte ich nie alleine, und nur die Polizisten waren meine Freunde. Da draußen liefen böse Männer herum, die kleine Kinder in Autos zerrten. Papa und Mutti hatten es mir erklärt: Wenn jemand es schaffte, mich in ein Auto zu zerren, dann nannte man das Entführung. Meine Mutti und mein Papa waren dann ganz weit weg. Die Vorstellung war für mich genauso schlimm wie die, dass meiner Schwester etwas zustoßen konnte.
Mir war etwas Trauriges passiert: Bevor ich in die Schule kam, war mein Vater ein Mann geworden, den andere Leute da draußen so hassten, dass sie ihn töten wollten. Ich wusste, was tot ist. Meinem Meerschwein war so etwas passiert. Man sah sich nie wieder, man war nicht mehr da. Meine Mutti hatte es mir erzählt, an dem Tag, an dem ich die große neue Puppe mit den Klappaugen bekommen hatte. Mein Papa war Terroristenjäger. Das war etwas ganz Schlimmes für mich. Zum Trost hatte ich die riesige Puppe von meiner Mutti geschenkt bekommen. Sie hatte langes, blondes Haar, ich nannte sie Birgit. Ich hatte sie zum Spielen, denn mit anderen Kindern konnte ich nicht spielen. Die waren draußen, und ich blieb bei meiner Mutti. Ich verstand: Wenn man in den Kindergarten ging, wurde man entführt.
Die Männer vom Bundeskriminalamt brachten es meiner Mutter schonend bei: Unsere Sicherheit war nicht ausreichend. Die Männer ließen unsere Rollos hoch und wieder runter, ein Techniker im Blaumann hatte unseren Telefonhörer in der Hand. Meine Mutti bot den Männern Kaffee an, sie schüttelten den Kopf.
Das Gesicht meiner Mutti war vom vielen Weinen ganz angeschwollen. Der Puder war verlaufen, er klebte jetzt im Taschentuch.
Vor unserer Haustür war noch mehr los. Polizisten über Polizisten, noch mehr als sonst.
„Was ist passiert, Mutti?“, wisperte ich, eingeschüchtert von all den fremden Menschen um mich herum.
Sie schaute zu mir herunter und schluchzte. „Wir hatten eine Briefbombe vor der Haustür. Von der RAF.“
Ich verstand die Welt nicht mehr. Eine Bombe in einem Brief? Vor unserer Haustür?
„Ist das sehr gefährlich?“, fragte ich.
Meine Mutter brach wieder Tränen in aus. „Kind, bitte geh nach oben in dein Zimmer. Du bist noch zu klein.“
Ich begann laut zu schreien. Meiner Mutti könnte etwas passieren, wenn ich nicht bei ihr war. Ich klammerte mich an ihren Arm und plärrte los: „Ich will bei dir bleiben. Ich hab Angst. Hilfe!“
Einer der Männer vom BKA sah mich merkwürdig an. „Bei dem Geschrei können wir nicht arbeiten”, sagte er in dem typischen rheinischen Tonfall.
„Entschuldigung“, entgegnete meine Mutter. „Die Kleine ist immer so.“
Sie führte mich in die Küche und drückte mir meinen Zeichenblock und die Wachsmalkreide in die Hand. „Hier, mal was!“
Unser Hund kam zu mir in die Küche getapst. Meine Mutti verschloss die Tür.
Ich malte und hörte von draußen durch das Fenster die fiepsenden Geräusche von Funkgeräten und die Schritte schwerer Stiefel auf dem Steinplattenweg vor dem Reihenhaus. Das klang immer so vor unserer Haustür. Da standen Tag und Nacht vier Polizisten in Uniform mit umgehängten Maschinenpistolen.
Unsere Nachbarn konnten uns nicht leiden, denn auf der Straße parkte ständig ein grüner Polizeibus. „Grüne Minna“, nannte meine Schwester das Ding, in das ich nicht hineindurfte. Die Polizisten durfte ich nicht ansprechen, es sei denn, sie fragten mich etwas. Sie waren nicht zum Spielen da, sondern zum Schutz.
Ich wusste nicht, wer die RAF war, aber meine Schwester, die schon auf das Gymnasium ging, Blockflöte spielen konnte und Latein lernte, hatte es mir erklärt: Ich sollte mich vor allem vor Männern in Acht nehmen, die einen Parka und Lederboots trugen und Bärte hatten. Ich hörte aufmerksam zu. Es gab Terroristen, und die mochten uns nicht. Deshalb musste ich zu Hause bleiben und durfte auch nicht mehr zu den Nachbarn in den Garten.
Das war die Ansage, die ich bekommen hatte, als mein Papa befördert worden war: Es gab diese bösen Männer da draußen, und mein Vater war damit beauftragt, sie zu jagen. Sie sollten ins Gefängnis, damit da draußen nichts Böses mehr passierte.
Dass meine Mutti so weinte, war nichts Ungewöhnliches. Meine Mutter, die so gerne mit mir malte und mir so oft sagte, wie lieb sie mich hatte, war dagegen gewesen, dass mein Papa Terroristen jagte. Sie hatte Angst. Entsetzliche Angst.
Sie schrie meinen Vater an, weil sie so unendlich enttäuscht war. Er hatte ihr versprochen, dass er keine Terroristen jagen wollte und meiner Mutter nichts davon erzählt, bis plötzlich vor unserer Haustür die grüne Minna parkte.
„Wie kannst du uns das antun“, schrie meine Mutti meinen Papa an. „Du hast unser Leben zerstört. Deine Karriere ist ja ein Albtraum.“
Ich saß damals auf dem Treppenabsatz in der oberen Etage und hörte zu, wie meine Eltern sich stritten.
„Ich habe das Recht auf meine Karriere“, brüllte mein Vater durchs Haus.
„Und deine Kinder? Was soll aus deinen Kindern werden?“
Mein Vater schwieg. Ich sah es, er hatte Tränen in den Augen.
Eine Tür schlug zu. „Ich lasse mich scheiden und nehme die Kinder mit“, schluchzte meine Mutter im Flur.
„Papa“, sagte ich, „schrei nicht so rum. Ich hab' Angst.“
Er sah aus dem Fenster und schwieg.
Ich versuchte es noch einmal. „Papa, was ist denn los?“
„Wenn Erwachsene miteinander reden, hast du nichts zu sagen. Geh hoch in dein Zimmer“, rief er. Er setzte sich aufs Sofa und sagte kein Wort mehr.
Eigentlich sagte er nie etwas zu mir. Er war ja auch nie zu Hause. Ich wusste kaum etwas über ihn. Als ich noch ganz klein war, hatte er mir ein Malbuch geschenkt mit einem Zwerg vorne drauf, und ich hatte es sehr gern gehabt. Mein Vater aß gerne Tomatensalat und frische Birnen, aber es kam nicht oft vor, dass wir gemeinsam am Abendbrottisch saßen. Und auch dann sprach er kaum mit mir.
Ich verstand diesen Streit nicht. Ich hasste es, wenn meine Mutti weinte. Ich hatte sie doch so lieb. Ich lief zu meiner Mutti und sagte es ihr. Sie lächelte mich an und putzte sich die Nase. Sie erlaubte mir sogar, den Hund mit in mein Zimmer zu nehmen. Unser Hund war aus China, ein Chihuahua, und hatte eine lilafarbene Zunge. Ich bürstete ihm immer das Fell.
Wenn meine Eltern sich stritten, krachte es immer entsetzlich. Dann schrien sie sich an wie irre. Irgendwann war es dann wieder vorbei. Ich wusste das und wartete einfach ab. An dem Tag, als die Grüne Minna vor unserem Haus parkte, hatte ich Glück, weil meine Schwester Evi ins Zimmer kam und mit mir spielte. Sie war schon ein Teenager und sollte das Abitur machen. Mein Papa wollte, dass sie Rechtsanwältin wurde wie er. Sie war so gut in Mathe, dass sie anderen Kindern Nachhilfeunterricht geben konnte.
Meine Mutter ließ sich nicht scheiden. Meine Eltern vertrugen sich auch dieses Mal wieder, und meiner Mutti blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass unser Vater Terroristen jagte. Aber meine Mutter hatte etwas Trauriges erfahren: Meinem Vater war seine Karriere wichtiger als seine Familie. Mein Vater wollte nichts anderes als Terroristen jagen, und wenn ich nicht aufpasste, würde mich jemand umbringen. Dann war ich so tot wie mein Meerschwein und die Schildkröte meiner Cousine Helga, die so gut malen konnte und die Beatles auf Schallplatte liebte. „Mausetot“. Das verstand ich. Mein Meerschweinchen hatte aus Versehen mit Spritzmittel vergifteten Kopfsalat gefressen und war daran gestorben.
Was eine Briefbombe war, erklärte mir meine Cousine Helga, die fast zehn Jahre älter war als ich. Sie lebte mit uns unter einem Dach, nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. „Wenn eine Bombe im Brief ist, und du den aufmachst, dann explodiert dir alles vor der Nase. Dann ist die Hand ab oder der Arm, oder du fliegst ganz in die Luft.“
Ich weinte vor Angst.
Helga beruhigte mich. „Du gehst doch eh nie an den Briefkasten!“
„Und Mutti ...?“
Genau das war das Thema an diesem Tag beim Abendessen. Die Post wurde jetzt, wenn der Briefträger kam, kontrolliert. Meine Mutti hatte entsetzliche Angst und beschloss, in Zukunft keine Versandhauskataloge mehr zu bestellen. Sie fand es zu gefährlich.
Mein Vater redete ihr gut zu. Sie hätte doch jetzt noch mehr Polizei vor der Tür, und das wären extra ausgebildete Antiterrorismuspolizisten, die die Tricks von Terroristen kannten, und sie würden dafür sorgen, dass nichts passiert.
An diesem Abend machte mir meine Mutti ein Butterbrot mit einem gekochten Ei darauf in Scheiben und erklärte mir, dass ich mir, wenn ich es so sehr wollte, zu meinem Geburtstag ein neues Meerschweinchen wünschen dürfe. Sie sah an diesem Abend besonders schön aus. Ihre hellblauen Augen strahlten uns an, ihr blondes Haar war schick nach hinten frisiert, und sie hatte eine wunderschöne Bernsteinkette um den Hals gelegt. Mutti war dünn und ziemlich groß, so groß wie Papa. Früher einmal hatte sie als Model Kleidung vorgeführt, und darauf war sie immer noch stolz.
Ich strahlte. Helga wollte auch ein Schwein. Meine Mutti nickte. Sie sollte auch eins haben.