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Die Brief­bom­be

Mei­ne Mut­ti wein­te. Sie saß auf dem Sofa und zit­ter­te. Das zer­knüll­te Ta­schen­tuch in ih­rer klei­nen, schma­len Hand mit den rosa la­ckier­ten Fin­ger­nä­geln ver­hieß nichts Gu­tes. Wenn mei­ne Mut­ti wein­te, muss­te et­was Ent­setz­li­ches pas­siert sein.

Ich war noch ganz klein. So klein, dass ich mei­nen Na­men nicht schrei­ben konn­te und vie­le Din­ge nicht ver­stand. Alle Men­schen um mich her­um wa­ren rie­sen­groß. Be­son­ders die­se Män­ner, die in un­se­rem Wohn­zim­mer und im Flur her­um­lie­fen und so ganz an­ders aus­sa­hen als un­ser Milch­mann, der im grau­en Stall­an­zug die Milch an un­se­rer Haus­tür ab­lie­fer­te, da­mit ich Kaba trin­ken konn­te, wäh­rend ich die Se­sam­stra­ße schau­te. Ich lieb­te Bibo und Er­nie und Bert.

Heu­te lief bei uns kei­ne Se­sam­stra­ße. Mei­ne Hand fass­te vor­sich­tig nach Mut­tis Arm. Ich strei­chel­te über ih­ren mes­sing­fa­r­be­nen, selbst­ge­hä­kel­ten Pull­over mit den dun­kel­blau­en, lan­gen Fran­sen.

Mei­ne Mut­ter strich mir über das Haar und sag­te: „Sei lieb, Ines, das sind die vom Bun­des­kri­mi­nal­amt. Sie ver­su­chen, uns zu hel­fen.“

Dann wein­te sie wei­ter.

Ich be­ob­ach­te­te die Män­ner, die ganz nor­ma­le Klei­dung an­hat­ten, so wie die meis­ten Leu­te da drau­ßen. Da drau­ßen war et­was, das ich nie al­lein se­hen durf­te. Drau­ßen war ge­fähr­lich. Das hat­te ich ge­lernt – so wie das Zäh­len bis zehn. Nach drau­ßen durf­te ich nie al­lei­ne, und nur die Po­li­zis­ten wa­ren mei­ne Freun­de. Da drau­ßen lie­fen böse Män­ner her­um, die klei­ne Kin­der in Au­tos zerr­ten. Papa und Mut­ti hat­ten es mir er­klärt: Wenn je­mand es schaff­te, mich in ein Auto zu zer­ren, dann nann­te man das Ent­füh­rung. Mei­ne Mut­ti und mein Papa wa­ren dann ganz weit weg. Die Vor­stel­lung war für mich ge­nau­so schlimm wie die, dass mei­ner Schwes­ter et­was zu­sto­ßen konn­te.

Mir war et­was Trau­ri­ges pas­siert: Be­vor ich in die Schu­le kam, war mein Va­ter ein Mann ge­wor­den, den an­de­re Leu­te da drau­ßen so hass­ten, dass sie ihn tö­ten woll­ten. Ich wuss­te, was tot ist. Mei­nem Meer­schwein war so et­was pas­siert. Man sah sich nie wie­der, man war nicht mehr da. Mei­ne Mut­ti hat­te es mir er­zählt, an dem Tag, an dem ich die gro­ße neue Pup­pe mit den Klappau­gen be­kom­men hat­te. Mein Papa war Ter­ro­ris­ten­jä­ger. Das war et­was ganz Schlim­mes für mich. Zum Trost hat­te ich die rie­si­ge Pup­pe von mei­ner Mut­ti ge­schenkt be­kom­men. Sie hat­te lan­ges, blon­des Haar, ich nann­te sie Bir­git. Ich hat­te sie zum Spie­len, denn mit an­de­ren Kin­dern konn­te ich nicht spie­len. Die wa­ren drau­ßen, und ich blieb bei mei­ner Mut­ti. Ich ver­stand: Wenn man in den Kin­der­gar­ten ging, wur­de man ent­führt.

Die Män­ner vom Bun­des­kri­mi­nal­amt brach­ten es mei­ner Mut­ter scho­nend bei: Un­se­re Si­cher­heit war nicht aus­rei­chend. Die Män­ner lie­ßen un­se­re Rol­los hoch und wie­der run­ter, ein Tech­ni­ker im Blau­mann hat­te un­se­ren Te­le­fon­hö­rer in der Hand. Mei­ne Mut­ti bot den Män­nern Kaf­fee an, sie schüt­tel­ten den Kopf.

Das Ge­sicht mei­ner Mut­ti war vom vie­len Wei­nen ganz an­ge­schwol­len. Der Pu­der war ver­lau­fen, er kleb­te jetzt im Ta­schen­tuch.

Vor un­se­rer Haus­tür war noch mehr los. Po­li­zis­ten über Po­li­zis­ten, noch mehr als sonst.

„Was ist pas­siert, Mut­ti?“, wis­per­te ich, ein­ge­schüch­tert von all den frem­den Men­schen um mich her­um.

Sie schau­te zu mir her­un­ter und schluchz­te. „Wir hat­ten eine Brief­bom­be vor der Haus­tür. Von der RAF.“

Ich ver­stand die Welt nicht mehr. Eine Bom­be in ei­nem Brief? Vor un­se­rer Haus­tür?

„Ist das sehr ge­fähr­lich?“, frag­te ich.

Mei­ne Mut­ter brach wie­der Trä­nen in aus. „Kind, bit­te geh nach oben in dein Zim­mer. Du bist noch zu klein.“

Ich be­gann laut zu schrei­en. Mei­ner Mut­ti könn­te et­was pas­sie­ren, wenn ich nicht bei ihr war. Ich klam­mer­te mich an ih­ren Arm und plärr­te los: „Ich will bei dir blei­ben. Ich hab Angst. Hil­fe!“

Ei­ner der Män­ner vom BKA sah mich merk­wür­dig an. „Bei dem Ge­schrei kön­nen wir nicht ar­bei­ten”, sag­te er in dem ty­pi­schen rhei­ni­schen Ton­fall.

„Ent­schul­di­gung“, ent­geg­ne­te mei­ne Mut­ter. „Die Klei­ne ist im­mer so.“

Sie führ­te mich in die Kü­che und drück­te mir mei­nen Zei­chen­block und die Wachs­mal­krei­de in die Hand. „Hier, mal was!“

Un­ser Hund kam zu mir in die Kü­che ge­tapst. Mei­ne Mut­ti ver­schloss die Tür.

Ich mal­te und hör­te von drau­ßen durch das Fens­ter die fiep­sen­den Ge­räu­sche von Funk­ge­rä­ten und die Schrit­te schwe­rer Stie­fel auf dem Stein­plat­ten­weg vor dem Rei­hen­haus. Das klang im­mer so vor un­se­rer Haus­tür. Da stan­den Tag und Nacht vier Po­li­zis­ten in Uni­form mit um­ge­häng­ten Ma­schi­nen­pis­to­len.

Un­se­re Nach­barn konn­ten uns nicht lei­den, denn auf der Stra­ße park­te stän­dig ein grü­ner Po­li­zei­bus. „Grü­ne Min­na“, nann­te mei­ne Schwes­ter das Ding, in das ich nicht hin­ein­durf­te. Die Po­li­zis­ten durf­te ich nicht an­spre­chen, es sei denn, sie frag­ten mich et­was. Sie wa­ren nicht zum Spie­len da, son­dern zum Schutz.

Ich wuss­te nicht, wer die RAF war, aber mei­ne Schwes­ter, die schon auf das Gym­na­si­um ging, Block­flö­te spie­len konn­te und La­tein lern­te, hat­te es mir er­klärt: Ich soll­te mich vor al­lem vor Män­nern in Acht neh­men, die einen Par­ka und Le­der­boots tru­gen und Bär­te hat­ten. Ich hör­te auf­merk­sam zu. Es gab Ter­ro­ris­ten, und die moch­ten uns nicht. Des­halb muss­te ich zu Hau­se blei­ben und durf­te auch nicht mehr zu den Nach­barn in den Gar­ten.

Das war die An­sa­ge, die ich be­kom­men hat­te, als mein Papa be­för­dert wor­den war: Es gab die­se bö­sen Män­ner da drau­ßen, und mein Va­ter war da­mit be­auf­tragt, sie zu ja­gen. Sie soll­ten ins Ge­fäng­nis, da­mit da drau­ßen nichts Bö­ses mehr pas­sier­te.

Dass mei­ne Mut­ti so wein­te, war nichts Un­ge­wöhn­li­ches. Mei­ne Mut­ter, die so ger­ne mit mir mal­te und mir so oft sag­te, wie lieb sie mich hat­te, war da­ge­gen ge­we­sen, dass mein Papa Ter­ro­ris­ten jag­te. Sie hat­te Angst. Ent­setz­li­che Angst.

Sie schrie mei­nen Va­ter an, weil sie so un­end­lich ent­täuscht war. Er hat­te ihr ver­spro­chen, dass er kei­ne Ter­ro­ris­ten ja­gen woll­te und mei­ner Mut­ter nichts da­von er­zählt, bis plötz­lich vor un­se­rer Haus­tür die grü­ne Min­na park­te.

„Wie kannst du uns das an­tun“, schrie mei­ne Mut­ti mei­nen Papa an. „Du hast un­ser Le­ben zer­stört. Dei­ne Kar­rie­re ist ja ein Alb­traum.“

Ich saß da­mals auf dem Trep­pe­n­ab­satz in der obe­ren Eta­ge und hör­te zu, wie mei­ne El­tern sich strit­ten.

„Ich habe das Recht auf mei­ne Kar­rie­re“, brüll­te mein Va­ter durchs Haus.

„Und dei­ne Kin­der? Was soll aus dei­nen Kin­dern wer­den?“

Mein Va­ter schwieg. Ich sah es, er hat­te Trä­nen in den Au­gen.

Eine Tür schlug zu. „Ich las­se mich schei­den und neh­me die Kin­der mit“, schluchz­te mei­ne Mut­ter im Flur.

„Papa“, sag­te ich, „schrei nicht so rum. Ich hab' Angst.“

Er sah aus dem Fens­ter und schwieg.

Ich ver­such­te es noch ein­mal. „Papa, was ist denn los?“

„Wenn Er­wach­se­ne mit­ein­an­der re­den, hast du nichts zu sa­gen. Geh hoch in dein Zim­mer“, rief er. Er setz­te sich aufs Sofa und sag­te kein Wort mehr.

Ei­gent­lich sag­te er nie et­was zu mir. Er war ja auch nie zu Hau­se. Ich wuss­te kaum et­was über ihn. Als ich noch ganz klein war, hat­te er mir ein Mal­buch ge­schenkt mit ei­nem Zwerg vor­ne drauf, und ich hat­te es sehr gern ge­habt. Mein Va­ter aß ger­ne To­ma­ten­sa­lat und fri­sche Bir­nen, aber es kam nicht oft vor, dass wir ge­mein­sam am Abend­brot­tisch sa­ßen. Und auch dann sprach er kaum mit mir.

Ich ver­stand die­sen Streit nicht. Ich hass­te es, wenn mei­ne Mut­ti wein­te. Ich hat­te sie doch so lieb. Ich lief zu mei­ner Mut­ti und sag­te es ihr. Sie lä­chel­te mich an und putz­te sich die Nase. Sie er­laub­te mir so­gar, den Hund mit in mein Zim­mer zu neh­men. Un­ser Hund war aus Chi­na, ein Chi­hua­hua, und hat­te eine li­la­fa­r­be­ne Zun­ge. Ich bürs­te­te ihm im­mer das Fell.

Wenn mei­ne El­tern sich strit­ten, krach­te es im­mer ent­setz­lich. Dann schri­en sie sich an wie irre. Ir­gend­wann war es dann wie­der vor­bei. Ich wuss­te das und war­te­te ein­fach ab. An dem Tag, als die Grü­ne Min­na vor un­se­rem Haus park­te, hat­te ich Glück, weil mei­ne Schwes­ter Evi ins Zim­mer kam und mit mir spiel­te. Sie war schon ein Tee­n­a­ger und soll­te das Ab­itur ma­chen. Mein Papa woll­te, dass sie Rechts­an­wäl­tin wur­de wie er. Sie war so gut in Ma­the, dass sie an­de­ren Kin­dern Nach­hil­fe­un­ter­richt ge­ben konn­te.

Mei­ne Mut­ter ließ sich nicht schei­den. Mei­ne El­tern ver­tru­gen sich auch die­ses Mal wie­der, und mei­ner Mut­ti blieb nichts an­de­res üb­rig, als sich da­mit ab­zu­fin­den, dass un­ser Va­ter Ter­ro­ris­ten jag­te. Aber mei­ne Mut­ter hat­te et­was Trau­ri­ges er­fah­ren: Mei­nem Va­ter war sei­ne Kar­rie­re wich­ti­ger als sei­ne Fa­mi­lie. Mein Va­ter woll­te nichts an­de­res als Ter­ro­ris­ten ja­gen, und wenn ich nicht auf­pass­te, wür­de mich je­mand um­brin­gen. Dann war ich so tot wie mein Meer­schwein und die Schild­krö­te mei­ner Cou­si­ne Hel­ga, die so gut ma­len konn­te und die Be­at­les auf Schall­plat­te lieb­te. „Mau­se­tot“. Das ver­stand ich. Mein Meer­schwein­chen hat­te aus Ver­se­hen mit Spritz­mit­tel ver­gif­te­ten Kopf­sa­lat ge­fres­sen und war dar­an ge­stor­ben.

Was eine Brief­bom­be war, er­klär­te mir mei­ne Cou­si­ne Hel­ga, die fast zehn Jah­re äl­ter war als ich. Sie leb­te mit uns un­ter ei­nem Dach, nach­dem ihre El­tern bei ei­nem Un­fall ums Le­ben ge­kom­men wa­ren. „Wenn eine Bom­be im Brief ist, und du den auf­machst, dann ex­plo­diert dir al­les vor der Nase. Dann ist die Hand ab oder der Arm, oder du fliegst ganz in die Luft.“

Ich wein­te vor Angst.

Hel­ga be­ru­hig­te mich. „Du gehst doch eh nie an den Brief­kas­ten!“

„Und Mut­ti ...?“

Ge­nau das war das The­ma an die­sem Tag beim Abend­es­sen. Die Post wur­de jetzt, wenn der Brief­trä­ger kam, kon­trol­liert. Mei­ne Mut­ti hat­te ent­setz­li­che Angst und be­schloss, in Zu­kunft kei­ne Ver­sand­haus­ka­ta­lo­ge mehr zu be­stel­len. Sie fand es zu ge­fähr­lich.

Mein Va­ter re­de­te ihr gut zu. Sie hät­te doch jetzt noch mehr Po­li­zei vor der Tür, und das wä­ren ex­tra aus­ge­bil­de­te An­ti­ter­ro­ris­mus­po­li­zis­ten, die die Tricks von Ter­ro­ris­ten kann­ten, und sie wür­den da­für sor­gen, dass nichts pas­siert.

An die­sem Abend mach­te mir mei­ne Mut­ti ein But­ter­brot mit ei­nem ge­koch­ten Ei dar­auf in Schei­ben und er­klär­te mir, dass ich mir, wenn ich es so sehr woll­te, zu mei­nem Ge­burts­tag ein neu­es Meer­schwein­chen wün­schen dür­fe. Sie sah an die­sem Abend be­son­ders schön aus. Ihre hell­blau­en Au­gen strahl­ten uns an, ihr blon­des Haar war schick nach hin­ten fri­siert, und sie hat­te eine wun­der­schö­ne Bern­stein­ket­te um den Hals ge­legt. Mut­ti war dünn und ziem­lich groß, so groß wie Papa. Frü­her ein­mal hat­te sie als Mo­del Klei­dung vor­ge­führt, und dar­auf war sie im­mer noch stolz.

Ich strahl­te. Hel­ga woll­te auch ein Schwein. Mei­ne Mut­ti nick­te. Sie soll­te auch eins ha­ben.

Kindheit D

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