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Num­mer fünf

Der Aus­flug ins Tier­ge­schäft war schon ein Fest an sich. Ich durf­te mir von der rie­si­gen Men­ge Meer­schwein­chen eins aus­su­chen. Ich fand sie alle so schön. Schließ­lich zeig­te ich auf ein wei­ßes Schwein­chen mit Löck­chen und ro­ten Au­gen. Es hat­te be­son­ders laut ge­quietscht.

Die Ver­käu­fe­rin sag­te: „Weib­chen, Al­bi­no und Ro­set­ten­schwein.“

Hel­ga ent­schied sich für ein braun-weiß ge­fleck­tes Glatt­haar­schwein. Ich nann­te mein Schwein­chen As­trid und Hel­ga das ihre Bil­ly. As­trid und Bil­ly wur­den ein­ge­packt und fuh­ren mit uns nach Hau­se. Sie wa­ren jetzt die Haus­tie­re vom Ter­ro­ris­ten­jä­ger.

Ich lieb­te mein Schwein­chen. Lei­der biss Bil­ly As­trid ganz schlimm, so kam sie in einen ei­ge­nen Kä­fig. As­trid knab­ber­te tro­ckenes Brot und schau­te mit mir die Se­sam­stra­ße. Un­ser Hund igno­rier­te sie. Mit Meer­schwein­chen spiel­te er nicht. Und mei­ne Pup­pe Bir­git hat­te Pech, As­trid ging von nun an vor.

Mei­ne Mut­ti hat­te an mei­nem Ge­burts­tag eine Über­ra­schung für mich. Sie hat­te mir einen rosa Pull­over ge­hä­kelt, und dazu ge­nau so einen für mei­ne Pup­pe. Ich war so glü­ck­lich wie noch nie. Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Cou­si­ne lä­chel­ten wohl­er­zo­gen. Ich hat­te mir eine Kek­stor­te ge­wünscht, und weil es die nir­gends zu kau­fen gab, hat­ten Evi und Hel­ga heim­lich eine für mich ge­macht. Sie hat­ten die Kek­se und Scho­ko­la­de in die Form ge­schich­tet und das Gan­ze im Kühl­schrank ver­steckt, bis die Scho­ko­la­de fest wur­de und an den Kek­sen kleb­te.

Mei­ne Omi aus Kiel hat­te mei­ner Mut­ti Geld ge­schickt, da­mit ich neue Roll­schu­he be­kam. Ich schnall­te sie mir um, und wenn ich mich auf un­se­rer Ter­ras­se am Zaun fest­hielt, fiel ich auch nicht hin. Drau­ßen durf­te ich nicht fah­ren, das war zu ge­fähr­lich.

Dass mein Va­ter an mei­nem Ge­burts­tag nicht da war, ver­stand sich von selbst. Weil ich es nicht an­ders kann­te, dach­te ich dar­über nicht nach.

Mein Va­ter brach­te mir bei, auf kei­nen Fall et­was zu tun, was er nicht wol­le. Er er­klär­te es mir so: „Da drau­ßen sind ganz böse Men­schen. Du bleibst ge­fäl­ligst im­mer bei Mut­ti. Sonst kannst du was er­le­ben!“

Mit mei­nem Va­ter war nicht gut Kir­schen es­sen, wenn ihm et­was nicht ge­fiel. Er kam im­mer mit ir­gend­wel­chen Ak­ten nach Hau­se, an de­nen er ar­bei­te­te, und manch­mal, wenn er gute Lau­ne hat­te, brach­te er uns Kin­dern Sü­ßig­kei­ten mit. Scho­ko­ku­geln im Rie­gel, die moch­te ich be­son­ders gern. Doch er war fast nie da.

Am Mor­gen, nach dem Auf­wa­chen, war ich oft trau­rig. Frü­her, be­vor mein Va­ter Ter­ro­ris­ten­jä­ger wur­de, hat­te ich kei­ne so gro­ße Pup­pe ge­habt, die ihre Wim­pern auf- und zu­klap­pen konn­te und nicht so vie­le Fa­rb­stif­te und Ted­dys. Da­für war mei­ne Mut­ti lus­tig und ver­gnügt ge­we­sen. Jetzt lach­te mei­ne Mut­ter nicht mehr. Sie schau­te oft ein­fach still vor sich hin. Ich sag­te dann auch nichts.

Manch­mal ver­such­te sie mich auf­zupäp­peln. Sie nahm auf dem Sofa Platz und spiel­te mit mir Pup­pen, dann drück­te sie mich an sich und flüs­ter­te mir ins Ohr: „Du bist mein klei­ner Lieb­ling. Wer dir nur ein Haar krümmt, kriegt es mit mir zu tun.“

Ich lä­chel­te glü­ck­lich, denn mei­ne Mut­ti hat­te mich so lieb.

Wir hat­ten im­mer so viel Spaß ge­habt, frü­her. Wir leb­ten in Bonn. Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Cou­si­ne wa­ren mor­gens in der Schu­le, wenn mei­ne Mut­ti mit mir auf dem gro­ßen Rol­ler zum Ein­kau­fen fuhr. Un­ser Chi­hua­hua lief an der Lei­ne ne­ben­her. Wenn wir alle Le­bens­mit­tel ein­ge­packt hat­ten, häng­ten wir die Tü­ten über den Len­ker und scho­ben den Rol­ler nach Hau­se. Ein­mal riss un­ser Hund den Rol­ler um, und wir fie­len mit­samt den Tü­ten auf die Stra­ße. Der Jo­ghurt­be­cher war ka­putt­ge­gan­gen und al­les kleb­te. Es mach­te uns nichts aus, wir lach­ten dar­über.

Wenn ich be­son­ders brav ge­we­sen war, hat­te mei­ne Mut­ti im­mer eine Über­ra­schung für mich. Es gab auf dem Rü­ck­weg vom Su­per­markt einen Au­to­ma­ten, der vor ei­ner He­cke auf­ge­stellt war. Ich lieb­te die Kau­gum­mi­ku­geln, die es dort gab. In ei­ni­gen Ku­geln wa­ren klei­ne Prin­zes­sin­nen­rin­ge aus Plas­tik ver­steckt. Mei­ne Mut­ti wuss­te ganz ge­nau, dass ich un­be­dingt so einen Ring woll­te. Wir hiel­ten vor dem Au­to­ma­ten, wa­r­fen Geld ein und ich dreh­te. Ich war so glü­ck­lich, als ich mei­nen Prin­zes­sin­nen­ring in der Hand hielt, und steck­te ihn mir gleich an den Fin­ger. Ich woll­te ihn gar nicht mehr ab­zie­hen, nicht mal nachts. Auch Evi kann­te mei­ne Vor­lie­be für die Kau­gum­mi­ku­geln. Im­mer wenn ich mal hin­fiel oder ir­gen­d­et­was pas­sier­te, ging sie zum Kau­gum­mi­au­to­ma­ten und zog mir eine Ku­gel.

Es war im­mer al­les so schön und fried­lich da­mals. Mei­ne Mut­ti hat­te mit uns Trick­fil­me im Kino an­ge­schaut. Im Som­mer fuh­ren mei­ne El­tern sonn­tags mit uns an die Mo­sel, da­mit wir ba­den konn­ten. Und im Win­ter zog mei­ne Mut­ti mich mit dem klei­nen ro­ten Schlit­ten die ver­schnei­te Stra­ße hin­ab, und ich jauchz­te vor Ver­gnü­gen.

Das war jetzt al­les vor­bei. Wir blie­ben jetzt fast im­mer zu Hau­se, und wenn wir un­ter­wegs wa­ren, hat­ten wir Angst. Auf der Ter­ras­se durf­te ich spie­len und in un­se­rem klei­nen Gar­ten auch, aber das mach­te nicht so viel Spaß wie frü­her.

Wenn Kin­der aus der Nach­bar­schaft, die mit mir spie­len woll­ten, an der Tür klin­gel­ten, sag­te mei­ne Mut­ti „nein”. Bald klin­gel­te kaum noch je­mand bei uns an der Tür. Die Kon­trol­le durch die Po­li­zis­ten schreck­te die Nach­bars­kin­der ab. Sie nann­ten mich „Ter­ro­ris­ten­kind“. Und die El­tern dach­ten, ihre Kin­der wür­den ent­führt, wenn sie zu uns nach Hau­se kä­men. Pech ge­habt!

Es gab ein­mal einen Spiel­freund, der um ei­ni­ges äl­ter war als ich, aber der durf­te dann auch nicht mehr kom­men. Er war mei­ner Mut­ti zu wild. Er hat­te von ihr die rote Kar­te be­kom­men, nach­dem ich beim Spie­len mit ihm so schlimm ver­letzt wur­de, dass ich ins Kin­der­kran­ken­haus ge­fah­ren wer­den muss­te. Es hat­te al­les ganz harm­los an­ge­fan­gen. Mein Spiel­freund und ich spiel­ten Kar­ne­val, ich war das Tanz­ma­rie­chen. Er nahm mich an den Hän­den und schwenk­te mich durch die Luft. Ich weiß auch nicht, war­um ich sei­ne Hän­de losließ. Ich schlug di­rekt mit dem Kopf auf den Bo­den, muss­te kot­zen und hat­te eine Rie­sen­beu­le am Kopf.

Der Arzt sag­te mei­ner Mut­ter im Kin­der­kran­ken­haus: „Die Klei­ne hat eine Ge­hirn­er­schüt­te­rung. Die Beu­le küh­len und drei Tage Bett­ru­he.“

Mei­ne Mut­ti war ent­setzt, und mein Va­ter schimpf­te, dass ich schlech­ten Um­gang hät­te. Ich war doch noch so klein, und man durf­te doch sei­ne Toch­ter nicht ein­fach so durch die Luft wer­fen. Mei­ne Mut­ter sprach mit der Mut­ti des Jun­gen, und er ent­schul­dig­te sich. Da­nach durf­te er kaum noch zu uns, höchs­tens mal, um mit mir mit Was­ser­fa­r­ben zu ma­len. Al­les an­de­re konn­te er ver­ges­sen. Auf den Spiel­platz durf­te ich so­wie­so nicht mehr.

Mir war lang­wei­lig. Zu Hau­se war nicht viel los. Mei­ne Schwes­ter Evi, die sehr gut in der Schu­le war, lern­te fast im­mer nur. Sie war drei­zehn Jah­re äl­ter als ich. Und auch mei­ne Cou­si­ne Hel­ga war al­les an­de­re als glü­ck­lich dar­über, ihre Zeit mit mir zu ver­brin­gen. Sie hat­te kei­ne Lust auf ihre klei­ne Cou­si­ne. Ein­mal hat­te ich ihr aus Ver­se­hen ir­gen­d­et­was im Zim­mer ka­putt­ge­macht. Sie hat­te einen klei­nen Plat­ten­spie­ler, auf dem sie die Be­at­les hör­te, und es war mir strengs­tens ver­bo­ten, ir­gen­d­et­was in ih­rer Mu­si­ke­cke an­zu­fas­sen. Manch­mal knall­te sie mir die Zim­mer­tür ein­fach vor der Nase zu, dann spiel­te ich mit un­se­rem Hund auf dem Flur mit den klei­nen Blech­au­tos.

Und mei­ne Mut­ti war sehr oft krank, sie litt an All­er­gi­en und fühl­te sich nicht gut. Oft lag sie den gan­zen Tag auf dem Sofa. Ein Heil­prak­ti­ker aus der Nach­bar­schaft ver­ord­ne­te ihr klei­ne wei­ße Ku­geln als Me­di­zin.

Die Po­li­zei vor un­se­rer Tür hat­te uns al­les ver­dor­ben. Ab dem Tag, an dem wir Per­so­nen­schutz be­ka­men, än­der­te sich al­les für uns. Der grü­ne Po­li­zei­bus vor un­se­rer Haus­tür zog vie­le neu­gie­ri­ge Nach­barn an. Sie glotz­ten auf die Po­li­zis­ten mit den Funk­ge­rä­ten in der Hand und den um­ge­häng­ten Waf­fen.

Das sei­en Ma­schi­nen­pis­to­len, mein­te Evi. „Das ist wie im Krieg, Ines“, sag­te sie. Da­mit kann man Men­schen tot­schie­ßen.“

Ich sag­te lie­ber gar nichts, denn ich hat­te Angst, dass jetzt hier Krieg war. Plötz­lich wa­ren die­se vier Po­li­zis­ten in der grü­nen Uni­form da, und es war Krieg vor un­se­rer Haus­tür.

Mei­ne Mut­ti sag­te: „Wenn wir erst in Ka­rls­ru­he sind, ha­ben wir si­che­re Pan­zer­schei­ben und eine Alarm­an­la­ge. Dann wird al­les wie­der gut, Ines.“

Mein Va­ter be­kam einen Job in Ka­rls­ru­he, und der Um­zug war ein stän­di­ges Streit­the­ma zwi­schen mei­nen El­tern. Mei­ne Mut­ti hat­te nicht nur ver­sucht zu ver­hin­dern, dass mein Va­ter Ter­ro­ris­ten jag­te, sie woll­te auch nicht weg von Bonn. Hier hat­te sie ihre bes­te Freun­din und ih­ren Heil­prak­ti­ker, der ihr so gut mit ih­ren schlim­men All­er­gi­en half. Im­mer wie­der hat­te mei­ne Mut­ti mit Schei­dung ge­droht, aber an mei­nem Papa prall­te so et­was ab. Er freu­te sich schon so auf die Kol­le­gen in Ka­rls­ru­he, denn er woll­te Ter­ro­ris­ten ins Ge­fäng­nis brin­gen. Er nann­te das „Dienst am Va­ter­land“. Ich frag­te mei­ne Mut­ti, ob mein Meer­schwein auch mit uns um­zog. „Na­tür­lich“, sag­te sie, und ich war er­leich­tert.

Seit wir Per­so­nen­schutz hat­ten, war ich die „Num­mer fünf“. Un­se­re Fa­mi­lie war von den Per­so­nen­schüt­zern durch­num­me­riert wor­den. Papa war Num­mer eins, Mut­ti Num­mer zwei und wir Kin­der der Rest. Ich, als Kleins­te, war Num­mer fünf. Wenn mei­ne Mama mor­gens mit mir aus dem Haus ging, stand di­rekt vor der Haus­tür ein Po­li­zist, der es mit dem Funk­ge­rät an die an­de­ren Po­li­zis­ten wei­ter­gab: „Num­mer zwei und Num­mer fünf ver­las­sen das Haus.“

Wenn uns je­mand be­su­chen woll­te, muss­te er erst ein­mal die Po­li­zei­kon­trol­le pas­sie­ren. Mei­ne Mut­ti hat­te mir strikt ver­bo­ten, an die Tür zu ge­hen, und ich hielt mich dar­an. Drau­ßen spie­len durf­te ich nur auf der Ter­ras­se. Ich hat­te ein klei­nes ro­tes Fahr­rad mit Stütz­rä­dern, aber auf der Ter­ras­se war es ein­fach zu eng zum Fahr­rad­fah­ren. Mei­ne Mut­ti frag­te den Po­li­zis­ten vor der Haus­tür, ob ich auf dem Weg vor un­se­rem Haus fah­ren kön­ne. Er riet ihr ab. Ich sei zu klein und des­halb be­son­ders leicht zu ent­füh­ren. Sie ließ mich aber ab und zu mit der En­ke­lin un­se­rer Nach­ba­rin di­rekt vor der Haus­tür Ball spie­len. Sie be­ob­ach­te­te mich da­bei aus dem Kü­chen­fens­ter.

Weil wir im­mer nur zu Hau­se wa­ren, mach­ten wir uns die Ter­ras­se und den Gar­ten zu­recht. Ich durf­te mit mei­ner Pup­pe Bir­git auf der Hol­ly­wood­schau­kel spie­len und mei­ne Mut­ti kauf­te mir ein Spring­seil. Und Hel­ga hat­te einen Hula-Hoop-Rei­fen. Wir leb­ten un­ter uns.

Im Som­mer stell­ten mei­ne El­tern ein klei­nes Plansch­be­cken im Gar­ten auf. Mei­ne Mut­ti war Grund­schul­leh­re­rin für Bio­lo­gie und Re­li­gi­on. Sie ar­bei­te­te zwar nie in die­sem Be­ruf, aber in die­sem Som­mer nahm sie sich viel Zeit und er­klär­te mir die Buch­sta­ben und die Zah­len und wie das al­les zu­sam­men­hing. Denn im Herbst soll­te ich ein­ge­schult wer­den. Der Um­zug nach Ka­rls­ru­he soll­te noch vor Weih­nach­ten sein, des­halb hat­te mei­ne Mut­ti über­legt, mich erst dort in die Schu­le zu schi­cken. Aber mein Va­ter war da­ge­gen. Ich soll­te nicht das gan­ze Schul­jahr ver­lie­ren, und er mein­te, es gin­ge nicht so wei­ter, dass ich im­mer zu Hau­se blieb.

Dann be­ka­men wir die­sen Dro­h­an­ruf. Es war im Au­gust. Ein Mann hat­te bei mei­ner Mut­ti an­ge­ru­fen und ihr ganz ent­setz­li­che Din­ge am Te­le­fon ge­sagt. Sie wein­te, und wie­der ka­men die Män­ner vom BKA. Dies­mal mach­ten sie ir­gen­d­et­was mit un­se­rem Te­le­fon: Man konn­te dann wis­sen, wer da an­rief. Ich hat­te jetzt noch mehr Angst und lief mei­ner Mut­ter den gan­zen Tag durch das Haus hin­ter­her. Mei­ne Mut­ti war am Te­le­fon da­mit be­droht wor­den, dass man sie er­mor­den wür­de. Hel­ga sag­te, wir hät­ten doch so­wie­so kei­ne Chan­ce: Wir wür­den alle ab­ge­knallt wer­den. Ich klam­mer­te mich an mei­ne Mut­ti, und je­des Mal, wenn sie das Haus ohne mich ver­ließ, fing ich an zu wei­nen.

Mei­ne Mut­ti hat­te es schon ge­ahnt: Wenn ich in die Schu­le muss­te, könn­te das schwie­rig wer­den. Evi hat­te mir die grü­ne, me­tall­glän­zen­de Schul­tü­te mit mei­nen Lieb­lings­zi­tro­nen­bon­bons ge­füllt, und oben­drauf saß ein klei­ner Ted­dy. Der ers­te Schul­tag hät­te so schön wer­den kön­nen, aber es wur­de ein Alb­traum. In dem Au­gen­blick, als mei­ne Mut­ter das Klas­sen­zim­mer ver­ließ, fing ich an zu heu­len. Die Tür klapp­te zu und ich heul­te los. Mei­ne Mut­ti war weg! Ich muss­te doch auf sie auf­pas­sen, da­mit sie nicht ent­führt wur­de. Ich sprang von mei­nem Platz hoch, riss die Tür auf und rann­te mei­ner Mut­ti laut schrei­end hin­ter­her. Mei­ne Mut­ter blieb ste­hen und blick­te mich ent­setzt an. Ich klam­mer­te mich an ih­ren Arm und wei­ger­te mich, zu­rück in die Klas­se zu ge­hen. Sie über­re­de­te mich, doch we­nigs­tens mei­ne Schul­tü­te und die Ja­cke aus dem Klas­sen­zim­mer zu ho­len. Ich ging nur wi­der­stre­bend mit ihr mit, be­stimmt wa­ren da Ter­ro­ris­ten. Mei­ne Mut­ti ent­schul­dig­te sich bei der Leh­re­rin und fuhr mit mir nach Hau­se. Sie sag­te mir, dass sie sehr ent­täuscht sei. „Jetzt sind wir bla­miert“, er­klär­te sie. „Mor­gen bist du aber brav!“

Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Cou­si­ne konn­ten mein Pech nicht fas­sen: Ich moch­te die Schu­le nicht. Mei­ne Mut­ti war so böse auf mich, dass sie den gan­zen Tag kaum noch mit mir sprach. Ich saß mit mei­ner Pup­pe und mei­nem Meer­schwein As­trid auf der Ter­ras­se und schäm­te mich. Evi kam zu mir und sag­te, dass ich noch klein wäre sei, und mei­ne Mut­ti er­klär­te, dass we­nigs­tens mit Evi al­les in Ord­nung sei.

Denn mei­ne Cou­si­ne Hel­ga mach­te auch Pro­ble­me. Ein­mal hat­te mei­ne Mut­ti zu ih­rer Klas­sen­leh­re­rin in die Sprech­stun­de ge­musst. Hel­ga hat­te in der Schu­le er­zählt, bei ihr zu Hau­se über­nach­te­ten Jungs im Zim­mer. Sie woll­te bei ih­ren Ban­knach­ba­rin­nen an­ge­ben. An­geb­lich wa­ren die Jun­gen an der Haus­wand hoch­ge­klet­tert, weil sie alle in sie ver­liebt wa­ren. Mei­ne El­tern wa­ren wü­tend. Mit all den Po­li­zis­ten vor der Haus­tür konn­te kein Mensch zu uns ins Zim­mer klet­tern. Die Klas­sen­leh­re­rin hat­te mei­ne Mut­ti dar­auf an­ge­spro­chen. Mein Va­ter ge­ri­et we­gen der Schwin­de­lei mei­ner Cou­si­ne in Rage. Sein gu­ter Ruf als Ter­ro­ris­ten­jä­ger war in Ge­fahr! Er war be­kannt, und sei­ne Töch­ter und sei­ne Nich­te soll­ten sich ge­fäl­ligst be­neh­men. Und nun hat­te ich auch noch in der Schu­le her­um­ge­schri­en.

Mei­ne Mut­ti brach­te mich am nächs­ten Tag wie­der zur Schu­le, und ich fing wie­der an zu wei­nen. So laut, dass die Leh­re­rin un­mög­lich ih­ren Un­ter­richt hal­ten konn­te. Mei­ne Mut­ter frag­te die Leh­re­rin, ob sie sich hin­ten ins Klas­sen­zim­mer set­zen dür­fe. Das durf­te sie nicht – aber sie konn­te auf dem Gang war­ten.

Für mei­ne Mut­ti, die Frau des Ter­ro­ris­ten­jä­gers, be­gann mit mei­ner Schul­pflicht ein Alb­traum. Ihre Toch­ter plärr­te den gan­zen Mor­gen in der Schu­le und stör­te da­mit den Un­ter­richt. Die Leh­rer sag­ten, dass sie so et­was noch nie er­lebt hät­ten.

Ei­nes Mor­gens, als ich wie­der so wein­te, hol­te mich die Klas­sen­leh­re­rin in ein Zim­mer mit ei­nem Schreib­tisch und meh­re­ren Stüh­len. Zwei äl­te­re Frau­en sa­ßen dort und eine jün­ge­re. Sie starr­ten mich an. Ich hat­te noch mehr Angst als sonst. Die äl­tes­te von den drei­en frag­te mich nach mei­nem Na­men und wie alt ich sei. Ich sag­te gar nichts.

„Du bist Ines und du bist sechs Jah­re alt“, ver­such­te sie es noch ein­mal. „Was hast du denn bloß?“

Ich wein­te los. „Ich will zu mei­ner Mut­ti. Sie wird sonst ent­führt, und ich sehe sie nie wie­der im Le­ben. Ich muss so­fort nach Hau­se.“

Die drei Frau­en sa­hen sich ge­gen­sei­tig an. Dann sag­te die jün­ge­re Leh­re­rin mit schnei­den­der Stim­me: „Du bist sechs Jah­re alt und gehst nicht nach Hau­se. Du bist jetzt still! Du musst hier zur Schu­le ge­hen.“

Ich heul­te noch lau­ter und sah in Rich­tung Tür, als ich einen Knall auf mei­ner rech­ten Wan­ge spür­te. Ich dach­te, mein Kopf wür­de weg­flie­gen, so hef­tig war die Ohr­fei­ge. Ich war still. Die drei Frau­en ver­lie­ßen den Raum. Ich stand auf und lief zur Tür, sie war ab­ge­schlos­sen. Ich brüll­te los, so laut, wie nie­mals zu­vor. Ein paar Au­gen­bli­cke spä­ter ging die Tür wie­der auf.

Der Di­rek­tor rief mei­ne Mut­ti an. „Ihr Kind ist nicht schul­reif“, er­klär­te er. „Stel­len Sie ihre Toch­ter lie­ber noch ein Jahr zu­rück.“

Ich durf­te nach Hau­se und muss­te nicht mehr in die Schu­le. Ich konn­te wie­der mit mei­nem Meer­schwein­chen spie­len. Mei­ne Mut­ti brach­te mir am Früh­stücks­tisch das Le­sen mit Hil­fe der Bild-Zei­tung bei. Ich lern­te mit ihr rech­nen, mal­te und spiel­te. Und mein Papa schimpf­te nicht. Er sag­te, dass ich dann eben im Schwa­rz­wald in die ers­te Klas­se käme. Ich er­klär­te, dass ich nie in die Schu­le ge­hen wür­de.

Mei­ne Mut­ti saß mit mir auf dem Bal­kon, wir spiel­ten mit den Pup­pen, und der Hund war auch da­bei. Sie nahm mich zu ih­rem Heil­prak­ti­ker mit, der über das Vor­ge­fal­le­ne ent­setzt war. „Wie kann man nur ein klei­nes Kind schla­gen!“ Er emp­fahl mei­ner Mut­ter, mich auf eine Wal­dorf­schu­le zu schi­cken und gab ihr Bachblü­ten mit, die eine har­mo­ni­sie­ren­de Wir­kung ha­ben soll­ten.

Evi und Hel­ga trös­te­ten mich auf ihre Art. Ich sei ein­fach zu blöd, um in die Schu­le zu ge­hen. Le­sen, schrei­ben und rech­nen müss­ten dann eben an­de­re für mich, mein­ten sie grin­send. Ich war ge­knickt: Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Cou­si­ne wuss­ten al­les und ich nichts.

Die Po­li­zis­ten vor un­se­rer Haus­tür hat­ten es eben­falls mit­ge­kriegt: Num­mer fünf blieb zu Hau­se, weil sie in der Schu­le mit ih­rem Ge­brüll den Un­ter­richt lahm­ge­legt hat­te. Sie nick­ten mir zu, wenn ich mit As­trid das Haus ver­ließ: Num­mer fünf spiel­te di­rekt vor der Haus­tür und hat­te ein wei­ßes Ro­set­ten­meer­schwein­chen im Kin­der­pup­pen­wa­gen da­bei.

As­trid war mein gan­zer Stolz. As­trid war nicht num­me­riert. Sie war nicht Num­mer sechs, son­dern ein Meer­schwein. Und Meer­schwei­ne wur­den nicht ent­führt. Da war ich mir si­cher.

Kindheit D

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