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ОглавлениеDeutscher Frühling, deutscher Herbst
In In den Osterferien fuhren wir nach Spanien. Meine Eltern waren schon seit ihrer Jugendzeit Spanienfans, sie hatten sich als Studenten in das Land der Olivenbäume verliebt. Den letzten Urlaub zuvor hatte keiner von uns in guter Erinnerung. Wir waren an der französischen Atlantikküste auf einem Campingplatz. Das Baden im wild aufgewühlten Meer war gefährlich. Ich hatte kaum ins Meer gehen können, weil die Wellen so hoch waren und ich noch nicht richtig schwimmen konnte. Ständig lief unser Hund am Strand weg, und wenn wir ihn am Sonnenschirm festmachten, riss er alles um. Als dann noch ein Gewitter unser Zelt unter Wasser setzte, reisten wir genervt ab. Südfrankreich auf dem Campingplatz war mit Personenschutz undenkbar. Also ging es diesmal nach Spanien. Meine Mutti hatte ein Ferienhaus ausgesucht, in dem auch die beiden Personenschützer, die uns begleiten sollten, untergebracht werden konnten.
Evi und Helga fuhren nicht mit. Evi hatte mit dem Studium angefangen – nicht Jura, trotz ihres glänzenden Abiturs, sondern Chemie und Mineralogie. Sie hatte sich der Partei „Die Grünen“ angeschlossen und engagierte sich für Umweltschutz und gegen Atomkraft. Sie wollte die Welt retten und fuhr eine grüne Ente, die über und über mit Anti-Atomkraft-Stickern beklebt war. Und Helga wollte nicht mit uns in den Urlaub fahren. Sie durfte zu Hause bleiben, aber sicherheitshalber schloss mein Vater sein Arbeitszimmer ab. Damit die kleine Spionin ihm nicht schaden konnte, während er im Urlaub war.
Astrid und unser Hund wurden von Evi versorgt, und meine Mutti erlaubte mir, die Schulbücher zu Hause zu lassen. Ich war glücklich. Wir bepackten das Auto und fuhren los in den Süden. Es war ein langer Weg vom Schwarzwald bis Spanien. Die beiden Personenschützer, die sich freiwillig gemeldet hatten, uns zu begleiten, folgten unserem blauen BMW mit ihrem Mercedes, eine kleine Karawane quer durch Europa. Wir fuhren die ganze Nacht durch und Mutti strahlte. Ich saß auf dem Rücksitz und freute mich auf das Meer. Frühmorgens sah ich schon Palmen und Olivenbäume und keine Terroristen weit und breit.
Die Personenschützer waren genauso müde wie wir, als wir ankamen. Mein Vater legte größten Wert darauf, dass ich mit ihnen höflich umging: „Ines, diese Männer setzen ihr Leben für uns aufs Spiel. Um mit uns in Urlaub zu fahren, haben sie ihre Frauen und Kinder zu Ostern allein gelassen.“
Ich versuchte wirklich, freundlich zu sein. Ich sagte immer „Guten Morgen“ und „Darf ich bitte …“ Ich wusste, sonst gab es Ärger.
Meine Mutti zeigte mir, wo mein Zimmer war und wo ich mir Cola aus dem Kühlschrank nehmen konnte. Die Vermieterin hatte uns etwas Essen hingestellt, damit wir nach der langen Anreise etwas hatten.
Mein Vater war glücklich. Er nannte meine Mutti „Schatzi“. Sie zog ihren blau-gestreiften Bikini an, und er lobte sie, wie schön sie aussah. Sie sonnten sich im Garten. Die Personenschützer hatten eine eigene Einliegerwohnung in dem Ferienhäuschen, das sehr ruhig gelegen war.
Ich hatte meine Malsachen und meine Rollschuhe dabei, und mein Vater sagte zu mir: „Hör mal, Molli, du kannst ruhig hier vor dem Haus Rollschuh fahren. Hier passiert dir nichts.“
Ich fuhr die kleine Auffahrt rauf und runter, stundenlang, immer wieder aufs Neue. Es war heiß. Ich trank Cola, und meine Mutti schlief auf der Liege im Garten.
Ich sah mir das Gelände rund um das Haus an.
„Wo willst du denn hin?“, sprach mich einer der Personenschützer an. Nummer fünf war auf Abwegen.
„Ich wollte nur mal schauen, was da nebenan ist“, antwortete ich.
„Das ist keine gute Idee“, antwortete der Mann. „Bleib immer schön in Sichtweite. Du bist doch vorhin Rollschuh gefahren. Mach doch das. “
Sie hatten mich beobachtet, ohne dass ich es wusste. Es war mir peinlich, mein Kopf wurde knallrot. Also zog ich meine Rollschuhe wieder an und fuhr herum. Ich fuhr die ganze Zeit herum, wenn wir nicht am Strand waren.
Jeden Morgen frühstückten wir gemeinsam auf der Terrasse. Und wir gingen auf den Markt. Dort sahen wir einen Mann mit einem Schimpansen auf dem Arm. Ich fasste den Affen an, und er biss mich in die Hand. „Das haben wir leider nicht verhindern können“, sagte der Personenschützer zu meiner Mutter. Die Erwachsenen überlegten, ob ich nach dem Affenbiss gegen Tetanus geimpft werden müsse. Meine Mutti meinte, dass der Affe doch ziemlich gesund ausgesehen habe.
Wir hatten im Ferienhaus kein Fernsehen, aber mein Vater hörte jeden Morgen im Radio Nachrichten in deutscher Sprache, immer direkt vor dem Frühstück. Eines Morgens, Mutti und ich saßen bereits auf der Terrasse, kam mein Vater nicht wie sonst zum Frühstück.
„Guck mal nach, wo Papa bleibt“, forderte mich meine Mutti auf.
Ich ging in die kleine Auffahrt vor dem Haus, wo unser Auto geparkt war und der Wagen von der Polizei. Im Kofferraum hatten die Männer ihre Waffen aufbewahrt. Sie mussten sich bei der örtlichen Polizeistelle melden und angeben, dass sie Waffen hatten und eine Person als Schutz begleiteten.
Ich sah meinen Papa am Lenkrad sitzen. Er weinte. Ich rannte zu ihm und machte die Autotür auf. Er saß einfach da und weinte weiter. Mein Herz klopfte wie verrückt. Irgendetwas Furchtbares musste passiert sein. Er sah mich mit rotgeweinten Augen an und sagte: „Sie haben meinen Freund erschossen. Buback ist tot. Sie haben ihn erschossen.“
Mir blieb die Luft weg. Herr Buback war der direkte Vorgesetzte meines Vaters und Generalbundesanwalt. Ich hatte ihn im letzten Herbst kennengelernt. Ich sammelte so gerne Kastanien und bunte Blätter, und rund um den Bundesgerichtshof standen jede Menge alter, wunderschöner Kastanienbäume. Mein Papa hatte die Idee, mich mitzunehmen, und ich durfte dort die Kastanien aufsammeln. Es war ein sicherer Ort. Der BGH war rundum mit hohen Sicherheitszäunen gesichert und dazu Stacheldrahtrollen obendrauf. Am Eingang war eine Sicherheitsbarriere, durch die keiner kam, es sei denn, man versuchte es mit einem Panzer. An diesem Tag begegnete mir und meinem Papa Herr Buback. Mein Papa ging mit mir zu ihm hin, ich gab ihm die Hand und sagte „Guten Tag“. Stolz zeigte ich ihm die Plastiktüte mit den frisch gesammelten Kastanien, und er sagte etwas Liebes zu mir.
Nun war dieser Mann tot. Erschossen, hatte mein Papa gesagt. Er hatte es im Radio gehört. Wie betäubt stieg mein Vater aus dem Auto und ging ganz langsam ins Haus.
Meine Mutti war fassungslos, als sie hörte, was passiert war. Buback habe doch so viel Personenschutz gehabt. Mein Vater saß im Sessel und weinte hemmungslos. Meine Mutti hatte ganz zitterige Hände und sagte, dass ihr armer Mann auch noch umkommen würde: „Auf dieser Arbeit beim BGH liegt ein Fluch“, schluchzte sie. „Uns kann nur noch der liebe Gott helfen.“ Ich weinte auch. Würden sie Papa auch erschießen? Wer würde dann bei mir und Mutti sein?
Die Personenschützer waren genauso erschüttert, hatte Buback doch maximalen Personenschutz gehabt.
Mein Vater sagte den Personenschützern, wir würden sofort packen und nach Hause fahren. Es war nicht nur auf Buback geschossen worden, sondern auch auf seinen Fahrer und eine weitere Person. Die beiden Männer, die mit uns in den Urlaub gefahren waren, hatten beide kleine Kinder. Mir wurde schlecht.
Zwei Stunden später saßen wir im Auto. Die Fahrt nach Hause war die Hölle. Meine Eltern überlegten, was sie machen sollten. Man ging davon aus, dass eine ganze Serie von Attentaten der RAF bevorstand. Ich saß vor Angst zitternd auf dem Rücksitz und sagte kein Wort. Irgendwann nachts kamen wir wieder im Schwarzwald an.
In den nächsten Tagen erfuhr ich die grausamen Details. Ich las die Schlagzeilen der Bild-Zeitung, so viel konnte ich inzwischen lesen. Buback war in seinem Dienstwagen auf dem Weg von seiner Wohnung zum Bundesgerichtshof. Der Mercedes stand an einer roten Ampel, als ein Motorrad mit zwei Personen darauf neben ihnen hielt. Eine der Personen darauf schoss auf den Wagen. Buback war von den Kugeln der RAF regelrecht durchsiebt worden. Von dem netten Mann im Park des Bundesgerichtshofs war nichts mehr übrig. Die Leiche sollte obduziert werden, um festzustellen, wie viele Kugeln er abbekommen hatte. Der Fahrer Bubacks starb ebenfalls noch am Tatort, er war dreißig Jahre alt. Auf dem Rücksitz saß der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft. Auch auf ihn wurde geschossen, er starb ein paar Tage später im Krankenhaus.
Meine Eltern kondolierten der Witwe Bubacks und der gesamten Familie. Die Mittelmeerbräune war vom Gesicht meines Vaters verflogen, er war kreideblass. Er war so geknickt, dass man ihn besser gar nicht ansprach. Ständig verschwand er in den BGH zu irgendwelchen Krisensitzungen. Meine Schwester Evi, die sonst immer so zufrieden mit sich und der Welt war, zog die Stirn in Falten. Und meine Cousine Helga war noch mehr in sich gekehrt als zuvor. Sie sah mich nur noch wütend an mit ihren dunkelbraunen Augen und knallte die Zimmertür vor mir zu. Als die Schule wieder anfing, blieben Helga und ich aus Sicherheitsgründen erst einmal zu Hause. Ich saß im Wohnzimmer und musste mit meiner Mutti lernen, damit ich in der Schule nicht den Anschluss verpasste.
Die Beerdigung von Buback war ein einziges Grauen. Mein Vater sprach danach tagelang kaum noch ein Wort. Er saß abends zu Hause und starrte vor sich hin. „Es war ein Fehler, an den BGH zu gehen“, jammerte meine Mutti, und mein Vater sah so aus, als dächte er genauso.
Der Personenschutz wurde verschärft. Bei uns bis an die Haustür durchzukommen, war so gut wie unmöglich. Da stand nun an jeder Ecke ein Polizist mit Maschinenpistole. Ich hatte mehr Angst als zuvor. Zum Trost hatten meine Eltern einen zweiten Hund gekauft, und weil der mich besonders gern hatte, schlief er meistens mit mir im Zimmer.
Das Jahr 1977 ließ unsere Familie vor Angst nicht mehr zur Ruhe kommen, es war das Jahr der Katastrophen, das Jahr des „Deutschen Herbstes“: Erst die Ermordung von Buback, seinem Fahrer und dem Beamten von der Bundesanwaltschaft, dann die Schüsse auf Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Es folgten die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, die sich so grauenhaft lang hinzog, und die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ und die Ereignisse von Mogadischu. Ich sah meinen Vater kaum noch. Aber was mir in diesem Jahr den allergrößten Schrecken einjagte, war der versuchte Anschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, dem Dienstsitz meines Vaters, am 25. August 1977. In einer Wohnung im Haus gegenüber hatten Terroristen einen Raketenwerfer zusammengebastelt, der auf das Gebäude gerichtet war. Gott sei Dank war das 150 Kilo schwere Ding nicht losgegangen, sonst wären wohl mein Vater und viele weitere Menschen getötet worden.
Ich hatte so entsetzliche Angst. Mein Papa war nirgendwo sicher. Im Auto fuhren Personenschützer im Panzerwagen hinter ihm her, und wenn er im Büro war, wollte ihn dort jemand in die Luft sprengen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, wenn im Fernsehen ein Krimi lief. Ich lief aus dem Zimmer und versteckte mich nebenan im Esszimmer, mein Schwein auf dem Arm. Ich hatte so schreckliche Angst.
Meine Mutter hatte mir gezeigt, wie man betet: Da oben im Himmel gab es den lieben Gott, und wenn ich ihn um etwas ganz Wichtiges bat, dann kam das so. Meine Mutti hatte es mir ganz genau erklärt: Wenn man betet, müsse man ganz genau erzählen, wofür.
Vor dem Einschlafen faltete ich jetzt immer die Hände und fing an zu beten: „Bitte, lieber Gott, hilf mir, ich weiß, dass du es kannst. Ich bin Ines und ich bin hier in meinem Schlafzimmer. Bitte pass auf, dass meine Mutti nicht entführt wird und die Terroristen meinen Papa nicht erschießen. Du bist doch der liebe Gott, du kennst ihn. Und bitte pass auf meine Schwester und meine Cousine auf und auf die Hunde und mein Schwein. Ich will auch alles richtig machen und ganz brav sein, lieber Gott. Aber bitte, bitte, hilf!“
Vom Beten war ich meistens so erschöpft, dass ich sofort einschlief. Wenn ich noch einmal aufwachte, fing ich wieder an zu beten – wer weiß, ob mein Gebet auch erhört worden war. Eine Klassenkameradin sagte einmal zu mir, dass es den lieben Gott gar nicht gebe. Ich war unbeschreiblich wütend darüber. Meine Mutter beruhigte mich. Es gebe eben Leute, die glaubten an nichts, und das müsse man einfach hinnehmen. Ich flehte den lieben Gott an, dass nichts passiere. Ich wusste, meine Mutti betete auch und mein Papa genauso. Wenn wir alle beteten, dann kannte uns der liebe Gott. Dann passte er auf uns auf.