Читать книгу Kindheit D - Ines Krüger - Страница 4

Оглавление

Si­cher­heits­ri­si­ko

Die Freu­de dar­über, nicht in die Schu­le zu müs­sen, hielt nicht lan­ge an. Ich hat­te nachts Angst, und wenn es be­son­ders schlimm war, durf­te ich bei mei­nen El­tern im Bett schla­fen. Das sei schon in Ord­nung, sag­ten sie, aber ab mor­gen müs­se ich wie­der in mein Kin­der­zim­mer.

Nach­mit­tags soll­te mei­ne Cou­si­ne zu Hau­se auf mich auf­pas­sen. Im Wohn­zim­mer hat­te ich ein klei­nes, zelt­ar­ti­ges Stoff­häus­chen ste­hen, in dem ich ger­ne spiel­te. Aber Hel­ga woll­te nicht mit mir spie­len, sie sah lie­ber fern. Ich hat­te Angst vor dem, was da im Fern­se­hen lief, und ver­steck­te mich im Zelt.

Hel­ga er­klär­te, ich hät­te ab­ste­hen­de Oh­ren und sähe häss­lich aus. Mei­ne Au­gen hät­ten die Fa­r­be von Fisch­au­gen. Ich wein­te, weil mei­ne Cou­si­ne mich nicht ausste­hen konn­te. Aus Ei­fer­sucht nahm sie mir mei­ne neu­en Bunt­stif­te und mein Knet­gum­mi weg. Sie hör­te nicht auf das, was mei­ne Mut­ti ihr sag­te. Im­mer wie­der er­tapp­ten mei­ne El­tern sie beim Lü­gen. Mein Papa ver­mu­te­te, es kön­ne eine pu­ber­tä­re Trotz­pha­se sein. Sie litt dar­un­ter, dass Evi so gut bei al­len an­kam. Evi hat­te so viel In­tel­li­genz, und ihre Art zu la­chen, steck­te an­de­re Men­schen an. Dazu dann noch die klei­ne Ines, die so ängst­lich war, dass sie im­mer an der Mut­ter hing. Es sei kein Wun­der, dass Hel­ga da­mit nicht zu­recht­kam.

Evi kam sehr nach mei­nem Va­ter, sie war klein und mol­lig. Und sie hat­te das gro­ße Pech, dass sie an Schup­pen­flech­te er­krankt war. So­gar ihr Ge­sicht war von ei­nem schup­pi­gen Aus­schlag über­säht. Aber sie war tap­fer und lä­chel­te dar­über hin­weg. In fast al­len Fä­chern war sie die Klas­sen­bes­te, ihr stand ein Su­pe­ra­bi­tur be­vor. Man hat­te sie zur Klas­sen­spre­che­rin ge­wählt, sie mal­te be­ste­chend schö­ne Öl­bil­der und war der ehr­lichs­te Mensch, den man sich vor­stel­len konn­te.

Ne­ben ihr stand Hel­ga we­ni­ger gut da. Sie punk­te­te da­mit, dass sie an­geb­lich schö­ner war. Wenn sie nicht in die Schu­le woll­te, schob sie ir­gend­wel­che ein­ge­bil­de­ten Krank­hei­ten vor. Aber mei­ne El­tern durch­schau­ten sie. Wenn sie wie­der ein­mal ir­gend­wel­che rät­sel­haf­ten Sym­pto­me er­wähn­te, sag­te mei­ne Mut­ti zu ihr: „Dann ge­hen wir jetzt so­fort zum Arzt. Der kann dir gleich mal Blut ab­neh­men.“ Mei­ne Mut­ti wuss­te näm­lich, dass mei­ne Cou­si­ne nicht die ge­rings­te Lust hat­te, sich mit ei­ner Na­del in die Arme ste­chen zu las­sen. Und in­ner­halb von Se­kun­den war sie wie­der ge­heilt.

Ei­nes Ta­ges er­zähl­te Hel­ga mir nicht ohne Ge­nug­tu­ung, mei­ne El­tern hät­ten sich mich nie ge­wünscht. Ich sei ein Un­fall ge­we­sen. Ei­gent­lich hät­ten mei­ne El­tern mich ab­trei­ben wol­len, man wur­de dann als klei­nes Baby im Mut­ter­bauch tot­ge­macht. Hel­ga hat­te mich dar­über auf­ge­klärt: Wenn die El­tern zu­sam­men im Bett schlie­fen, konn­ten sie aus Ver­se­hen ein Kind wie mich be­kom­men. So et­was war dann sehr är­ger­lich.

Ich saß auf dem Tep­pich, schau­te mei­ne Cou­si­ne an und hat­te Trä­nen in den Au­gen. „Das stimmt doch nicht. Mei­ne Mut­ti hat mich doch lieb.“

Hel­ga schüt­tel­te tri­um­phie­rend den Kopf. „Das denkst du. Aber dich woll­te sie gar nicht.“ Dann schärf­te mir mei­ne Cou­si­ne ein, ich dür­fe das al­les auf kei­nen Fall ir­gend­wem er­zäh­len, sonst wür­de sie nie wie­der mit mir spie­len. Und sie wür­de da­für sor­gen, dass mir mein Meer­schwein­chen weg­ge­nom­men wer­de. Ich schluchz­te und nick­te.

Ein paar Tage spä­ter frag­te ich Evi, wo ei­gent­lich die Ba­bys her­kä­men.

Sie sah mich strah­lend an. „Die sind aus dem Ver­sand­haus­ka­ta­log. Da be­stellt man die. Die Au­gen­fa­r­be, die Haa­r­fa­r­be … al­les. Und dann wer­den sie im Stram­pe­l­an­zug ge­lie­fert.“

Ich war völ­lig ver­wirrt. „Dann habt ihr mich aus dem Ka­ta­log be­stellt?“

Evi nick­te. „Na­tür­lich.“

Ich war ja so er­leich­tert. Das, was Hel­ga er­zählt hat­te, stimm­te nicht. Ich war aus dem Ka­ta­log ge­lie­fert, im Stramp­ler. Das er­klär­te al­les.

Wir zähl­ten die Tage bis zum Um­zug nach Ka­rls­ru­he. Un­se­re Fa­mi­lie hat­te ein Haus im Schwa­rz­wald ge­fun­den, und Si­cher­heits­s­pe­zi­a­lis­ten hat­ten uns ver­spro­chen, un­ser neu­es Zu­hau­se ab­zu­si­chern – bes­ser als in dem klei­nen Bon­ner Vier­tel, in dem wir wohn­ten. Mein Papa hat­te es schrift­lich vom Po­li­zei­prä­si­den­ten be­kom­men, und mei­ne Mut­ti hat­te es mir er­klärt:

„Schat­zi­lein, du brauchst bald gar kei­ne Angst mehr zu ha­ben. Wir be­kom­men in alle Fens­ter Pan­zer­glas, durch das kann man nicht durch­schie­ßen.“

An alle Fens­ter- und Tür­grif­fe wür­den wir Si­cher­heits­sch­lös­ser be­kom­men und ein Vor­le­ge­schloss an die be­son­ders si­che­re Haus­tür. Die Roll­lä­den wür­den bom­ben­si­cher und feu­er­ab­wei­send sein. Auch die Dach­fens­ter wür­den pan­ze­r­fest sein, und für den Som­mer soll­ten wir eine Mar­ki­se be­kom­men, die so­gar Mo­lo­tow­cock­tails ab­hielt. Ich dach­te, das sei et­was zu trin­ken. „Nein, das sind Mi­ni­bom­ben, Kind“, er­klär­te mir mei­ne Mut­ter.

So­gar un­se­re Müll­ton­ne wür­de ein­bruchs­si­cher sein, und wir be­kä­men ganz tol­len Sta­chel­draht rund ums Haus. Ich ver­such­te es mir vor­zu­stel­len, es war sehr schwer.

Mei­ne Mut­ter las mei­ner Schwes­ter aus dem Schrei­ben des Po­li­zei­prä­si­den­ten vor: „... eine schlag­hem­men­de Leuch­te an der Haus­tür und ab­schalt­ba­re Steck­do­sen. Und eine elek­tri­sche Über­fall­mel­de­an­la­ge mit di­rek­tem An­schluss an den Po­lizei­not­ruf.“

Ich dach­te dar­über nach, ob mei­ne Mut­ti trotz­dem ent­führt wer­den könn­te.

Wir soll­ten Not­ruf­knöp­fe in al­len Zim­mern be­kom­men, und bis wir um­zo­gen, wür­den noch die Bäu­me im Gar­ten ge­fällt. Die Spe­zi­a­lis­ten woll­ten si­cher­ge­hen, dass es bei uns im Gar­ten kei­ne Ver­steck­mög­lich­keit gab.

Im Gar­ten soll­ten ganz star­ke Schein­wer­fer in­stal­liert wer­den, die von in­nen an­ge­knipst wer­den konn­ten. Selbst in schwär­zes­ter Nacht wür­de der Gar­ten ohne Bäu­me von grel­lem Licht er­hellt. Der Bal­kon war eine Schwach­stel­le, da soll­te eine schwer zu öff­nen­de Si­cher­heits­tür hin.

Es gab einen Satz in dem Schrei­ben, der mei­ner Mut­ti Angst mach­te: „Es soll­te in Er­wä­gung ge­zo­gen wer­den, gleich­zei­tig mit der Über­fall­mel­de­an­la­ge einen akus­ti­schen Alarm­ge­ber und die Au­ßen­be­leuch­tung in Tä­tig­keit zu set­zen. Es könn­te eine Si­re­ne, ein Horn oder eine lau­te Glo­cke er­tö­nen. Po­ten­zi­el­le Straf­tä­ter könn­ten mög­li­cher­wei­se da­durch von wei­te­ren Hand­lun­gen ab­ge­schreckt oder in ih­rem Vor­ha­ben ge­stört wer­den.“

Das klang nicht gut. Wir woll­ten gar kei­ne Straf­tä­ter im Gar­ten, da woll­te ich mein Meer­schwein lau­fen las­sen und Ball spie­len.

Und es gab noch einen Ge­fah­ren­punkt: un­se­re ge­park­ten Au­tos vor der Haus­tür. Wir soll­ten sie vor je­der Fahrt auf kleins­te Ver­än­de­run­gen prü­fen und ste­hen las­sen, wenn et­was nicht in Ord­nung sei. Auf kei­nen Fall ein­stei­gen und los­fah­ren! Al­les in al­lem wür­den wir best­mög­lich be­schützt wer­den, das war ver­spro­chen. Ich be­griff es lang­sam: Ich hat­te einen Va­ter, der nicht nor­mal ist, und als Fa­mi­lie ist man dann auch nicht nor­mal.

Bis es so weit war, gin­gen Evi und Hel­ga in Bonn wei­ter zur Schu­le, und ich blieb bei mei­ner Mut­ti und den Po­li­zis­ten. Mein Papa war ganz weg, denn er ar­bei­te­te im Aus­land. Als ich mei­ne Mut­ti frag­te, wo er war, sag­te sie: „Du bist ja im­mer so ängst­lich! Glaub mir, er ist auf ei­ner Dien­st­rei­se.“ Mehr er­fuhr ich nicht.

Als ich ihr vor­schlug, ein Bild für mei­nen Papa mit Was­ser­fa­r­ben zu ma­len, wink­te sie nur ab: „Das lohnt sich nicht. Er hat doch eh kei­ne Zeit.“

Ab und zu kam der Spiel­jun­ge vor­bei. Sein Papa war Ver­kehrs­po­li­zist, und er mal­te mit mir ein knall­ro­tes Stopp­schild. Mei­ne Mut­ti fand ihn zu laut und zu frech und wim­mel­te ihn meis­tens ab. Es war ihr lie­ber, wenn mei­ne Cou­si­ne auf mich auf­pass­te.

Hel­ga hat­te sich sehr ver­än­dert. Sie ließ ihre Haa­re wach­sen wie ein Hip­pie und zupf­te sich die Au­gen­brau­en. Ihre Lieb­lings­fa­r­be war Schlamm­grün, dazu woll­te sie Le­der­boots an­zie­hen. Mei­ne El­tern ga­ben nach, ihre Nich­te sah nun aus wie ein Förs­ter oder Wald­a­r­bei­ter. Ich moch­te lie­ber rosa Klei­der an­zie­hen und mei­nen ro­ten Pul­li.

In die­ser Zeit spiel­te ich be­son­ders gern Fri­seur. Ich durf­te mei­ner Mut­ti und manch­mal auch Hel­ga die Haa­re käm­men oder flech­ten, und ich hat­te da­bei im­mer ganz rote Ba­cken vor Be­geis­te­rung. An ei­nem die­ser Nach­mit­tage ließ sie ihr lan­ges Haar hän­gen, und ich bürs­te­te es über­g­lü­ck­lich, als sie mir sag­te, ich sei schon ein gro­ßes Mäd­chen, und sie wol­le mit mir einen Freund­schafts­ver­trag schlie­ßen. Ich sol­le ihr ver­spre­chen, dass ich alle Ge­heim­nis­se für mich be­hal­ten wür­de, auch vor mei­nen El­tern, und dass ich au­ßer ihr kei­ne an­de­re Freun­din ha­ben dür­fe. Da­für, dass sie mei­ne Freun­din sein wol­le, ver­lan­ge sie von mir mein Meer­schwein As­trid.

Ich woll­te mein Schwein nicht her­ge­ben, an­de­rer­seits woll­te ich ger­ne mei­ne Cou­si­ne als Freun­din. Ich war sechs Jah­re alt und sie schon fünf­zehn. Ich sag­te ganz vor­sich­tig: „Ja, aber ohne das Schwein.“

Sie be­harr­te auf dem Schwein, aber ich woll­te doch lie­ber mein Schwein­chen As­trid be­hal­ten.

Hel­ga war sehr ver­är­gert. „Na ja, du bist ein­fach zu doof“, er­klär­te sie und er­zähl­te mir, dass die Po­li­zis­ten vor der Tür nicht nett zu ihr ge­we­sen sei­en. Und die Schu­le sei doof. Und über­haupt al­les. Sie for­der­te noch mal mein Schwein.

„Nein“, rief ich, „mein Schwein ist meins!“

„Du, Ines“, sag­te sie, „die Ter­ro­ris­ten sind nur des­halb so wü­tend, weil ih­nen ganz viel Un­recht ge­sche­hen ist. Da wur­den Men­schen um­ge­bracht. Die RAF will an die Macht, da­mit der Staat in Ord­nung kommt. Die wer­den ge­win­nen.“

Ich sah sie mit gro­ßen Au­gen an. „Wie­so?“

„Weil sie in­tel­li­gen­ter sind als wir. Weißt du, was die im­mer sin­gen?“

Ich schüt­tel­te den Kopf.

Sie stimm­te einen merk­wür­di­gen Sing­s­ang an: „Für je­des Richt­er­schwein eine Zel­le ganz al­lein. Bul­len, Rich­ter, Staats­an­walt, alle in die Haft­an­stalt.“

Mei­ne Cou­si­ne hat­te kei­ne schö­ne Stim­me. „Wo­her kennst du das?“, woll­te ich wis­sen.

Sie wis­per­te mir ins Ohr: „Ich habe jetzt neue Freun­de, die ken­ne ich vom Schul­hof. Und die sind in Ord­nung. Da hal­ten wir zu­sam­men.“

Ich wuss­te nicht, was ich sa­gen soll­te.

Mei­ne Cou­si­ne mach­te sich Sor­gen, dass ich nicht dicht­hal­ten kön­ne. „Hör mal, wenn du das wei­ter­er­zählst, kannst du was er­le­ben!“

„Mein Schwein kriegst du nicht“, schrie ich und wein­te los.

Hel­ga ver­such­te mich zu be­ru­hi­gen. Schließ­lich stand sie auf und lock­te mich nach oben in ihr Zim­mer. Sie öff­ne­te die Schub­la­de und über­reich­te mir eine gan­ze Ta­fel Nou­gat­scho­ko­la­de.

„Hier, nimm! Aber hör so­fort auf zu heu­len, sonst nehm‘ ich sie dir wie­der weg.“

Ich riss die Ver­pa­ckung auf und biss hin­ein.

Mei­ne Cou­si­ne be­ob­ach­te­te mich und sag­te: „Du musst dir das Ge­sicht kalt ab­spü­len, sonst merkt Mut­ti, dass du ge­heult hast.“

Ich wusch mein Ge­sicht, und dann aß ich die Scho­ko­la­de auf. Bis auf einen Rie­gel. Hel­ga war er­leich­tert.

„Mit dir kann man kei­nen Ver­trag ma­chen“, mein­te sie schließ­lich. „Jetzt wirst du nie­mals mei­ne Freun­din. Ich glau­be, du wirst nie eine Freun­din ha­ben.“

Ich war trau­rig. Vor un­se­rer Tür stan­den die Po­li­zis­ten, und mei­ne Mut­ti war nicht da. Wenn ich Pech hat­te, war sie jetzt ent­führt und kam nie wie­der nach Hau­se. Papa war auch nicht da, ich wuss­te kaum noch, wie er aus­sah. Ich über­leg­te: groß und im­mer im An­zug, der meis­tens maus­grau war.

Als mei­ne Mut­ti nach Hau­se kam, war sie be­son­ders gut ge­launt. Sie hat­te uns Kin­dern eine Pa­ckung Luft­bal­lons mit­ge­bracht. Sie frag­te, ob al­les in Ord­nung sei.

„Ja“, ant­wor­te­te mei­ne Cou­si­ne und sag­te mei­ner Mut­ter, dass sie mir ihre Nou­gat­scho­ko­la­de ge­ge­ben habe. Mut­ti nick­te. Ei­gent­lich moch­te ich lie­ber Nuss­scho­ko­la­de, aber Nou­gat war auch in Ord­nung.

Kurz dar­auf kam mein Va­ter über­ra­schend für eine Wo­che nach Hau­se. Und mei­ne Cou­si­ne, die sich mit ih­ren ei­gen­ar­ti­gen Ge­sän­gen meis­tens nach­mit­tags in ihr Zim­mer zu­rück­zog, hat­te einen pas­sen­den Mo­ment er­wi­scht, so rich­tig Mist zu bau­en.

Die Sa­che flog da­durch auf, dass un­ser Te­le­fon plötz­lich nicht mehr funk­tio­nier­te. Der Te­le­fon­hö­rer war ei­gen­ar­tig leich­ter als sonst.

Es kam schon wie­der je­mand vom BKA und un­ter­such­te un­ser Te­le­fon. „Da fehlt was. Wer hat Zu­gang zu die­sem Te­le­fon?“

Mein Va­ter zuck­te rat­los die Ach­seln. Er, sei­ne Frau und die Kin­der. Die Klei­ne te­le­fo­nier­te noch nicht. Mei­ne El­tern wa­ren das mit dem Ap­pa­rat nicht, also blie­ben nur Evi und Hel­ga. Evi er­klär­te so­fort, sie habe nichts mit dem Te­le­fon ge­macht. Also blieb nur mei­ne Cou­si­ne.

Der Mann vom BKA frag­te sie, was sie mit dem Te­le­fon an­ge­stellt habe. Sie be­kam einen knall­ro­ten Kopf und sag­te gar nichts. Der Tech­ni­ker er­klär­te, sie sol­le doch bit­te das feh­len­de Teil aus dem Te­le­fon wie­der her­ge­ben.

„Das geht nicht. Ich habe es je­mand an­ders ge­ge­ben“, stot­ter­te sie.

Mein Va­ter wur­de un­ge­heu­er wü­tend. Schnell ver­ab­schie­de­te er den Fach­mann vom BKA, der ver­sprach, uns das Te­le­fon wie­der in Ord­nung zu brin­gen. Mei­ne Cou­si­ne wur­de von mei­nem Va­ter zur Rede ge­stellt. Sie gab es nur wi­der­wil­lig zu: Sie hat­te auf dem Schul­hof ir­gend­wel­che jun­gen Män­ner ken­nen­ge­lernt, die zu ei­ner Grup­pe ge­hör­ten, die be­haup­te­ten, ter­ro­ris­ti­sche Zie­le zu ver­fol­gen. Mei­ne Cou­si­ne hat­te sich die­sen Men­schen an­ver­traut und sich be­reit er­klärt, aus dem Te­le­fon un­se­rer Fa­mi­lie zu Hau­se Tei­le zu be­sor­gen, mit de­nen man an­geb­lich eine Bom­be bas­teln kön­ne. Wer die jun­gen Män­ner wa­ren, woll­te sie nicht sa­gen.

Mein Va­ter ras­te­te aus. Kur­ze Zeit spä­ter wur­de mei­ne Cou­si­ne von Po­li­zis­ten ver­hört. Mein Va­ter mach­te sich Sor­gen dar­um, dass un­ser Si­cher­heits­ri­si­ko er­höht war, weil mei­ne Cou­si­ne wo­mög­lich wich­ti­ge Din­ge über uns preis­ge­ge­ben hat­te. Die Män­ner von der Po­li­zei mach­ten be­sorg­te Ge­sich­ter, und mei­ne Mut­ter wein­te.

Un­ser Te­le­fon wur­de wie­der in Ord­nung ge­bracht. Als die Tech­ni­ker das Haus ver­las­sen hat­ten, knall­te mein Va­ter mei­ner Cou­si­ne eine kra­chen­de Ohr­fei­ge ins Ge­sicht. Hel­ga heul­te. Die Schul­lei­tung wur­de ver­stän­digt: Mei­ne Cou­si­ne durf­te nicht mehr mit die­sen Men­schen in Kon­takt kom­men.

Mei­ne El­tern wa­ren ent­täuscht. Sie konn­ten den Um­zug nach Ka­rls­ru­he kaum mehr er­war­ten.

Ich sag­te mei­ner Mut­ti, dass ich nicht mit Hel­ga al­lein zu Hau­se blei­ben wol­le. Sie nahm mich über­all hin mit: zum Heil­prak­ti­ker, in den Su­per­markt, den Hund aus­füh­ren – die Klei­ne war im­mer da­bei. Und ich be­müh­te mich, be­son­ders brav zu sein.

Je mehr ich nach­dach­te, des­to mehr litt ich un­ter der Dun­kel­heit in der Nacht. Ich hass­te die Nacht. Sie war so schwa­rz, und alle Schat­ten in mei­nem Zim­mer wa­ren wie Ge­spens­ter für mich. Ich hass­te es, ins Bett zu ge­hen: Ich dach­te dann im­mer, dass es der letz­te Tag in mei­nem Le­ben sei. Ich sag­te Mut­ti, dass ich sie sehr lieb hät­te, und woll­te nicht al­lein in mei­nem Zim­mer blei­ben – je­den­falls nicht, wenn das Licht aus war. Ich fing an zu heu­len und stand wie­der auf. Im­mer wie­der schick­te mich mei­ne Mut­ter in mein Zim­mer zu­rück, bis sie die Ge­duld ver­lor. Vor Mit­ter­nacht war bei uns sel­ten Ruhe, und mein Va­ter sag­te es frei her­aus: „Ines, du bist ein ganz un­ar­ti­ges Mäd­chen.“

Mei­ne El­tern ver­such­ten al­les Mög­li­che, von Stra­fen über Be­loh­nun­gen, aber ich war nicht zu be­ru­hi­gen. Bis mei­ne Schwes­ter die ret­ten­de Idee hat­te. Evi hat­te noch einen Leucht­glo­bus, den sie nicht mehr brauch­te. Sie über­reich­te ihn mir fei­er­lich mit den Wor­ten: „Hier, Mau­si, da­mit kannst du nachts die Län­der an­schau­en.“

Am An­fang war ich miss­trau­isch. Der Glo­bus strahl­te blau­es Licht aus, von den Welt­mee­ren. Ich dreh­te ihn so lan­ge zu mir hin, bis es mög­lichst hell war. Von nun an schlief ich je­den Abend in Aus­tra­li­en ein. Ich hat­te mei­nen Glo­bus und lern­te die Welt ken­nen. Es gab wohl kein Mäd­chen weit und breit, das sich so gut in Aus­tra­li­en aus­kann­te wie ich. Da wohn­ten be­stimmt alle am Strand, dach­te ich mir. Dort woll­te ich hin, ir­gend­wann. Aus­wan­dern dort­hin, wo es kei­ne Ter­ro­ris­ten gab! Ich dreh­te den Glo­bus, bis ich ir­gend­wann ein­sch­lief.

Das klapp­te aber nicht jede Nacht. Ei­nes Abends hat­te Mut­ti ge­nug von mir. Sie knall­te mir ein paar auf die Wan­ge. „Du bist nicht al­lein auf der Welt. Wir wol­len schla­fen. Denkst du auch mal dar­an?“

Es knall­te noch mal, und ich brüll­te los.

Mei­ne Mut­ti schüt­tel­te mich ener­gisch, bis ich still war. Dann sag­te sie lei­se zi­schend zu mir: „Du kannst was er­le­ben, wenn du jetzt nicht still bist. Wenn du hier so laut her­um­schreist, ru­fen die Nach­barn das Ju­gend­amt an. Dann ho­len sie dich ab ins Heim, we­gen Schrei­e­rei.“

Ich wein­te lei­se vor mich hin. Ich war mir si­cher: Hin­ter dem Vor­hang in mei­nem Zim­mer ver­steck­ten sich Ter­ro­ris­ten, und wahr­schein­lich auch noch un­ter mei­nem Bett. Ich brüll­te wie­der los. Mein Va­ter kam ins Zim­mer. „Wenn die Per­so­nen­schüt­zer da drau­ßen hö­ren, wie du dich be­nimmst, ist das ganz schlecht. Du bist jetzt mal hübsch lei­se! Du bist die Toch­ter von ei­nem Bun­des­an­walt, und da be­nimmt man sich!“

Ich war ver­zwei­felt. Mei­ne El­tern wa­ren so böse zu mir, und ins Kin­der­heim woll­te ich auch nicht. Ich stieg in mein klei­nes Bett und dreh­te am Glo­bus. Aus­tra­li­en! Ich konn­te es ge­nau ent­zif­fern. Queens­land, da woll­te ich hin. Am liebs­ten gleich mor­gen.

Kindheit D

Подняться наверх