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Fa­mi­li­en­kum­mer

Mei­ne Mut­ter konn­te, wenn sie schlech­te Lau­ne hat­te, sehr streng wer­den. Und be­vor bei mir nicht Li­ter von Trä­nen ge­flos­sen wa­ren, gab sie nie nach. Meis­tens hat­te sie schlech­te Lau­ne, denn un­ser Va­ter war ja nie da. Sie las eine Un­men­ge Bü­cher, und wenn sie las, durf­te ich sie nicht an­spre­chen. Ich mal­te dann meis­tens. Mut­ti war ein Rie­sen­fan von Ro­land Kai­ser, sie hat­te alle sei­ne Schall­plat­ten zu Hau­se. Sie hör­te ihn auch im Auto, ich kann­te die Song­tex­te aus­wen­dig.

Mei­ne Mut­ti war im­mer so schön, und sie war krank. So krank, dass sie wie­der zum Heil­prak­ti­ker muss­te. Sie fand im Nach­bar­ort eine The­ra­peu­tin, die sag­te zu ihr: „Sie ha­ben ein Ma­gen­ge­schwür, und zwar vor Kum­mer.“

Mei­ne Mut­ti war ja auch oft un­g­lü­ck­lich. Mein Papa sag­te ihr zwar im­mer, wie schön sie doch sei, aber er hat­te im­mer­zu schlech­te Lau­ne. Wenn er nach Hau­se kam, war er nicht ge­sprä­chig. Er sag­te, er dür­fe uns nichts von sei­ner Ar­beit er­zäh­len, obers­te Ge­heim­hal­tungs­stu­fe. Wenn er beim Abend­es­sen saß, dreh­te sich das Ge­spräch meis­tens um den Per­so­nen­schutz. Mein Va­ter woll­te auf kei­nen Fall, dass un­ser Pri­vat­le­ben nach au­ßen sicht­bar wur­de.

Ein­mal hat­te ich mir den Ma­gen ver­dor­ben. Mir war mor­gens so übel, dass ich nicht zur Schu­le konn­te, die ich seit Kur­z­em wie­der be­su­chen durf­te. Ich rief durchs Trep­pen­haus: „Ich hab‘ ge­kotzt.“

Mein Va­ter war ent­setzt. „Ines“, sag­te er, „wie kannst du dich so aus­drü­cken! Das ha­ben be­stimmt die Po­li­zis­ten drau­ßen ge­hört. Das heißt: Ich habe mich über­ge­ben oder: Ich habe mich er­bro­chen.“

Wenn mei­ne El­tern sich strit­ten, ver­mie­den sie es, laut zu wer­den. Die The­ra­peu­tin mei­ner Mut­ti sag­te ihr, dass sie ein Op­fer die­ses Per­so­nen­schut­zes sei. Als The­ra­pie be­kam sie von ihr Sprit­zen. Sie wein­te viel und sag­te, ihre Töch­ter hät­ten kein gu­tes Le­ben.

Mein Va­ter mach­te sich Vor­wür­fe, weil mei­ne Mut­ter so litt. Er habe nicht ge­wusst, wor­auf er sich mit der Ge­fah­renstu­fe ein­ließ. Mei­ne Mut­ter glaub­te ihm nicht. Evi auch nicht. Er wur­de von bei­den an­ge­me­ckert, und er tat mir leid. „Sie mei­nen es nicht so, Papa“, sag­te ich. „Glaub es mir, wir ha­ben dich alle lieb.“ Ich war in der Fa­mi­lie die Frie­dens­stif­te­rin. Ich hass­te es, wenn es Streit gab, und woll­te im­mer, dass sich alle gern hat­ten.

Aber wir Kin­der be­rei­te­ten stän­dig Kum­mer. Ich konn­te mich in der Schu­le auf gar nichts kon­zen­trie­ren, be­son­ders nicht in Ma­the. Ein­mal stauch­te mich mei­ne Leh­re­rin vor der gan­zen Klas­se zu­sam­men. Wir lern­ten ge­ra­de das gro­ße Ein­mal­eins, und sie frag­te aus­ge­rech­net mich: „Wie viel ist neun­zehn mal vier­zehn?“

Ich schau­te wie im­mer aus dem Fens­ter und dach­te an mei­ne Mut­ti, wie sie ge­ra­de ein­kauf­te: die Sa­lat­gur­ke für mein Meer­schwein, die To­ma­ten für Pa­pas To­ma­ten­sa­lat und für Evi den ge­misch­ten Auf­schnitt, den sie so ger­ne aufs Brot moch­te. Mein Schwein und ich hat­ten das­sel­be Lieb­lings­es­sen: rohe Gur­ke. Ich leg­te sie mir in dün­nen Schei­ben aufs Brot. Ich sah mei­ne Mut­ti vor mir, wie sie den Ein­kaufs­wa­gen durch den Su­per­markt schob. Wenn jetzt die­se Ter­ro­ris­ten ka­men und mei­ne Mut­ti aus dem Su­per­markt ent­führ­ten ... Ich hat­te sie doch so lieb.

„Also“, sag­te die Leh­re­rin und blick­te mich böse an. „Hal­te ich den Un­ter­richt hier ohne dich ab?“

Ich schwieg. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, was sie mich ge­fragt hat­te.

„Ja, bist du zu dumm?“ Die Leh­re­rin blick­te in die Klas­se. „Wer weiß es sonst?“ Ein Mit­schü­ler hin­ter mir wuss­te im­mer al­les.

„Ines, das hat Kon­se­quen­zen“, droh­te die Leh­re­rin. „Du schaust im­mer nur aus dem Fens­ter. Ich will dei­ne Mut­ter spre­chen.“

Auch das noch.

Es wur­de kein schö­nes Tref­fen für mei­ne Mut­ti. An­geb­lich war ich nie bei der Sa­che. Stän­dig ver­ließ ich das Klas­sen­zim­mer un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand. So oft konn­te doch ein klei­nes Mäd­chen gar nicht auf die Toi­let­te müs­sen. Mei­ne Mut­ter sol­le lie­ber mal mit mir zum Arzt ge­hen.

Von we­gen Bla­sen­pro­blem. Ich such­te nach ei­ner Ge­le­gen­heit, weg­zu­lau­fen. Mut­ti kann­te das von Bonn und wur­de sehr un­an­ge­nehm. „Mäd­chen, die Leh­re­rin kann uns nicht lei­den. Die lässt dich sit­zen­blei­ben. Da be­kommst du Pro­ble­me.“

„Und jetzt?“, frag­te ich un­ter Trä­nen.

„Üben wir erst mal das Ein­mal­eins“, mein­te sie ru­hig.

Beim Abend­es­sen hör­te sie sich ganz an­ders an. Wir sa­ßen zu viert am Tisch, Vati, Mut­ti, Hel­ga und ich. Wäh­rend mein Va­ter sei­ne To­ma­te in Schei­ben schnitt und ich am Gur­ken­brot kau­te, er­klär­te mei­ne Mut­ti:

„Die­se Leh­re­rin ist eine Aso­zi­a­le. Das ist So­zi­al­neid. Sie gönnt un­se­rer Klei­nen nicht, dass sie es bes­ser hat.“

„Du ar­mer Mol­li“, trös­te­te mich mein Va­ter. „Die­se Aso­zi­a­le kann et­was er­le­ben. Du gehst aufs Gym­na­si­um, so si­cher, wie ich hier sit­ze.“

„Ja, Papa.“ Ich nick­te.

Als Evi ein­traf, hat­ten sich mei­ne El­tern schon im Wohn­zim­mer aufs Sofa ge­setzt. Mei­ne Schwes­ter er­fuhr von mei­ner Ein­mal­eins-Ka­ta­s­tro­phe und mein­te, dass das sehr schlecht sei. Aus der Grund­schu­le käme ich nicht her­aus. Ich sol­le um Him­mels Wil­len nicht so oft aus Klo ge­hen.

Ich nick­te.

Evi pack­te sich dick Auf­schnitt aufs Weiß­brot und kau­te zu­frie­den vor sich hin. „Ich glau­be, ich will nicht mehr in die Schu­le. Da wer­de ich ent­führt.“

Sie sag­te gar nichts und aß.

Mir blieb nichts wei­ter üb­rig, als wei­ter zur Schu­le zu ge­hen. Ma­the war mir ver­dor­ben. Ich übte zu Hau­se mit mei­ner Mut­ter. Eine Zeit­lang ging es ei­ni­ger­ma­ßen, bis die Ter­ro­ris­ten in Hun­ger­streik gin­gen und ir­gend­ein Maul­wurf aus der Sze­ne einen Hin­weis ge­ge­ben hat­te, dass sie es auf die Kin­der ab­ge­se­hen hat­ten. Ich ging fünf Wo­chen gar nicht zur Schu­le und durf­te nicht drau­ßen spie­len. Aber ich blieb trotz­dem nicht sit­zen, weil mei­ne Mut­ter sich beim Di­rek­tor be­schwert hat­te. Ich sol­le aufs Gym­na­si­um, hat­te sie ihm ge­sagt, und sie las­se es sich nicht bie­ten, dass man ihr Kind schlecht be­han­del­te. Wir ver­lang­ten kei­ne Ex­tra­wurst und kei­ne Son­der­be­hand­lung, aber wir sei­en eben in Ge­fahr.

Die gro­ße Pau­se war im­mer be­son­ders ge­fähr­lich. Auf dem Schul­hof frei her­um­to­ben, wie es die an­de­ren Kin­der ta­ten, war für mich un­mög­lich. Ich muss­te im­mer bei der Pau­sen­auf­sicht blei­ben, und es kam so­gar vor, dass ich aus Si­cher­heits­grün­den in ir­gend­ei­nen Auf­ent­halts­raum ein­ge­schlos­sen wur­de.

Der Di­rek­tor war im­mer ganz höf­lich zu mir, nach­dem mein Va­ter ihm er­klärt hat­te, dass ich so vie­le Pro­ble­me habe und die Kin­der im Dorf nicht mit mir spie­len woll­ten. Das stimm­te ja auch: Die El­tern mei­ner Schul­ka­me­ra­den hat­ten Angst da­vor, dass ih­rem Nach­wuchs et­was pas­sie­ren könn­te.

Ich muss­te al­lei­ne zu Hau­se spie­len, weil es drau­ßen für mich zu ge­fähr­lich war. Meis­tens saß ich bei mei­ner Mut­ti. Ich war noch kei­ne zehn Jah­re und be­nahm mich wie eine klei­ne Er­wach­se­ne.

Auch mit Hel­ga gab es im­mer wie­der Är­ger in der Schu­le. Sie woll­te spä­ter ein­mal Me­di­zin stu­die­ren, aber ihre No­ten wa­ren so schlecht, dass sie wahr­schein­lich nicht das Ab­itur er­rei­chen wür­de. Sie wech­sel­te das Gym­na­si­um, der Di­rek­tor der neu­en Schu­le galt als we­ni­ger streng. Glück für sie, wenn sie nach­mit­tags nach Hau­se kam, war sie nun nicht mehr so ge­reizt.

Aber sie schwänz­te oft die Schu­le, und mei­ne Mut­ter dul­de­te es. An ei­nem Mor­gen im Herbst hat­te sie nur zwei Schul­stun­den, und sie woll­te un­be­dingt zu Hau­se blei­ben. Mei­ne Mut­ter über­re­de­te sie, doch mit der Po­li­zei zur Schu­le zu fah­ren, denn es stand eine Klas­se­n­a­r­beit an. Also ging sie ziem­lich schlecht ge­launt los.

Was dann pas­sier­te, war wie in ei­nem scheuß­lich-trau­ri­gen Film. Kaum eine hal­be Stun­de nach­dem sie los­ge­fah­ren wa­ren, klin­gel­te ein Po­li­zist an un­se­rer Haus­tür. In der Hand hielt er Hel­gas Lama-Woll­pon­cho, der mit Blut be­fleckt war. Er brach­te es mei­ner Mut­ter scho­nend bei: Der Po­li­zist am Steu­er hat­te auf der mit Laub be­deck­ten, re­gen­nas­sen Stra­ße die Kon­trol­le über das Fahr­zeug ver­lo­ren. Das Auto hat­te sich mehr­fach über­schla­gen und war schließ­lich auf dem Dach ge­lan­det. Mei­ne Cou­si­ne leb­te, aber sie war schwer ver­letzt. Sie war in die Un­fall­kli­nik ge­bracht wor­den.

Wir fuh­ren so­fort hin. Mei­ne Cou­si­ne lag mit ei­ner Hirn­quet­schung auf der In­ten­sivsta­ti­on. Sie wür­de nicht ster­ben, das war si­cher, aber sie muss­te in der Kli­nik blei­ben. We­nig spä­ter er­fuh­ren wir, dass sie auf ei­nem Auge einen Teil ih­rer Seh­kraft ver­lo­ren hat­te.

Der Fah­rer des Wa­gens be­haup­te­te, mei­ne Cou­si­ne hät­te aus Spaß und Über­mut Brems­übun­gen ab­sol­viert, die Po­li­zis­ten ver­nein­ten das aber. Es wur­de eine Un­ter­su­chung des Vor­fallsver­an­lasst, die im San­de ver­lief. Für uns war das Wich­tigs­te, dass mei­ne Cou­si­ne am Le­ben war.

Als sie wie­der nach Hau­se kam, mach­te sie mei­nen El­tern Vor­wür­fe. Wenn mei­ne Mut­ter sie an je­nem Tag hät­te schwän­zen las­sen, wäre sie nicht ver­un­g­lückt. Mein Va­ter hat­te an­geb­lich eben­falls Schuld an dem Un­g­lück, denn we­gen ihm habe sie im Po­li­zei­au­to fah­ren müs­sen. Hel­ga klag­te über un­er­träg­li­che Kopf­schmer­zen. Sie wur­de von Gut­ach­tern un­ter­sucht, ob blei­ben­de Schä­den ent­stan­den wa­ren. Wo­chen­lang lag sie mit Schmer­zen auf dem Sofa, und als mei­ne El­tern sie wie­der zur Schu­le schick­ten, be­stand sie dar­auf, nur noch mit mei­ner Mut­ter im Auto zu fah­ren. Die Po­li­zei fuhr im Auto hin­ter­her.

Die Kopf­schmer­zen be­ein­träch­tig­ten das Ler­nen. Am Ende gab es eine Un­ter­re­dung mit dem Schul­lei­ter. Sie ging mit Haupt­schul­ab­schluss von der Schu­le ab, zog bei uns aus und be­gann ein so­zi­a­les Jahr in ei­nem Be­hin­der­ten­heim. Mein Va­ter hat­te al­les ver­sucht, sie dazu zu brin­gen, auf der Schu­le zu blei­ben. Er war Ter­ro­ris­ten­jä­ger und sei­ne Nich­te ver­ließ die Schu­le mit Haupt­schul­ab­schluss! Aber er hat­te kei­ne Chan­ce, jetzt war es Hel­gas Ziel, Kran­ken­schwes­ter zu wer­den. Die Ar­beit in dem Be­hin­der­ten­heim war schwer, aber sie ließ sich durch nichts in der Welt da­von ab­brin­gen. We­nigs­tens konn­ten mei­ne El­tern be­ru­higt sein, dass Hel­ga einen bür­ger­li­chen Be­ruf er­lern­te, der ihr Freu­de mach­te und von dem sie le­ben konn­te. Nach al­lem Kum­mer und Är­ger, den sie un­se­rer Fa­mi­lie be­rei­tet hat­te, blieb das Ver­hält­nis zu ihr je­doch di­stan­ziert und der Kon­takt re­du­zier­te sich auf das Al­ler­not­wen­digs­te.

Evi wie­der­um hat­te gro­ßen Är­ger mit mei­nem Va­ter, weil sie kei­nen Per­so­nen­schutz auf dem Weg zur Uni­ver­si­tät woll­te. Ihre ver­beul­te Ente war gras­grün an­ge­sprayt und über und über mit Son­nen­blu­men- und Anti-AKW-Auf­kle­bern ver­ziert. Sie ging auf De­mos ge­gen Atom­kraft und ge­gen das Waldster­ben, sie or­ga­ni­sier­te In­fo­stän­de und häng­te abends Pla­ka­te auf. Die gan­zen Atom­kraft­wer­ke müss­ten so­fort ab­ge­schal­tet wer­den, er­klär­te sie. Evi war fest da­von über­zeugt, dass ihr kein Ter­ro­rist et­was tun woll­te. Sie sei für die Ter­ro­ris­ten un­in­ter­es­sant, sag­te sie. Sie hat­te Ka­ra­te ge­lernt, und da­mit wür­de sie je­den um­hau­en. Au­ßer­dem kön­ne sie ja schlecht mit Po­li­zei­schutz bei den Grü­nen an­rü­cken. Mein Va­ter konn­te nur den Kopf schüt­teln über so viel Leicht­sinn. Er woll­te nicht, dass sei­ner Lieb­ling­s­toch­ter et­was pas­sier­te.

Evi hat­te sich in einen Stu­den­ten ver­liebt, der mit ihr Che­mie stu­dier­te, doch es gab kein Hap­py End. Evi, die so ger­ne Wurst auf Brot aß, war ziem­lich dick, und von der Schup­pen­flech­te hat­te sie Aus­schlag am gan­zen Kör­per. Mei­ne Schwes­ter hat­te al­len Mut zu­sam­men­ge­n­om­men und ih­rem Schwarm vor­ge­schla­gen, zu­sam­men ins Kino zu ge­hen. Er kam mit, aber zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Stu­den­ten. Kurz dar­auf hat­te er eine an­de­re Freun­din, die war dünn und hat­te ma­kel­los schö­ne Haut. Mein Va­ter schimpf­te, dass die­ser Stu­dent ja das Letz­te sei und wie er dazu kom­me, sei­ne tol­le Toch­ter zu ver­schmä­hen. „Es sind doch die in­ne­ren Wer­te, die zäh­len“, sag­te er sicht­lich ent­täuscht. Mein Va­ter war sehr stolz auf Evi und im­mer sehr be­sorgt um sie. Sie glänz­te an der Uni und war eine von den Stu­den­tin­nen, die al­les im­mer so­fort ver­stan­den.

Mei­ne Mut­ter ver­such­te zu trös­ten. Evi hat­te ganz schön Ober­wei­te, und mei­ne Mut­ti mein­te zu ihr: „Das ist ein Plus­punkt. Zieh mal einen tie­fen Aus­schnitt an. Viel­leicht gibt es bei den Grü­nen einen, dem du ge­fällst.“

Ich sag­te dazu lie­ber nichts. Wenn man nicht wuss­te, dass die Haut­fle­cken von der Schup­pen­flech­te ka­men, hät­te man den­ken kön­nen, es sei an­ste­ckend. Das war aber nicht so, denn wir hat­ten es nicht. Die Heil­prak­ti­ke­rin mei­ner Mut­ter hat­te Evi Rin­gel­blu­men­sal­be ver­schrie­ben, aber die half nicht. Sie hat­te sie wo­chen­lang auf­ge­tra­gen, aber die ro­ten Fle­cken wur­den nicht bes­ser. Das Tote Meer kön­ne hel­fen, hieß es, ein Bad dar­in wür­de sie hei­len; aber das war zu weit weg. Ich sag­te zu mei­ner Schwes­ter, dass ich sie sehr lieb hät­te, und sie lä­chel­te ein biss­chen.

Aus Ent­täu­schung aß mei­ne Schwes­ter noch mehr und wur­de noch di­cker. Mei­ne Mut­ti mach­te sich Sor­gen um ih­ren Ge­müts­zu­stand. Zum Trost schenk­ten mei­ne El­tern ihr das Rei­se­geld für eine Zelt­tour durch Eng­land. Sie kam be­geis­tert zu­rück, und ihr Lie­bes­kum­mer war vor­bei.

Ich be­te­te zum lie­ben Gott, dass er uns hel­fen und ihr einen Freund schi­cken sol­le. Schließ­lich wuss­te er doch ganz ge­nau, wer mei­ne Schwes­ter war.

An der Uni kam für mei­ne rund­li­che Schwes­ter mit den di­cken Brüs­ten un­ter ih­rem grü­nen T-Shirt nie­mand in­fra­ge. Aber un­ter un­se­ren Per­so­nen­schüt­zern vor der Haus­tür war ein jun­ger Po­li­zist mit ei­nem be­son­ders hei­te­ren Ge­müt, er lach­te im­mer über al­les. Er war blond, dünn und nicht sehr groß, und er moch­te mei­ne di­cke Schwes­ter. Wir brach­ten den Per­so­nen­schüt­zern je­den Tag Ge­trän­ke vor die Tür, im Win­ter hei­ße und im Som­mer kal­te. Meis­tens schick­te mei­ne Mut­ti mich los, oder eben mei­ne Schwes­ter. Und da­bei hat­te sich das fro­he Ge­müt vor un­se­rer Haus­tür in die di­cke Evi mit der Schup­pen­flech­te im Ge­sicht und auf den Ar­men ver­liebt.

Weil der Mann dach­te, dass man so ein Per­so­nen­schutz­fa­mi­li­en­mit­glied nicht ein­fach so an­spre­chen kön­ne, wand­te er sich an mei­ne Mut­ter und frag­te sie, ob er viel­leicht mal abends mit mei­ner Schwes­ter aus­ge­hen dür­fe. Da gab es doch die­sen gro­ßen Jahr­markt, wo man Ka­rus­sell fah­ren konn­te.

Mei­ne Mut­ti war ganz an­ge­tan. Sie ver­sprach dem net­ten Po­li­zis­ten, Evi zu fra­gen.

Wir hat­ten alle ge­dacht, dass Evi sich dar­über freu­en wür­de. Aber nein, sie woll­te auf kei­nen Fall mit ihm aus­ge­hen.

Mein Va­ter war ver­är­gert. „War­um gibst du dem net­ten jun­gen Po­li­zis­ten nicht eine Chan­ce? Der steht je­den Tag stun­den­lang vor un­se­rer Tür, und du gibst ihm einen Korb?“

Doch Evi gab nicht nach. Sie hat­te ab­so­lut kein In­ter­es­se.

Mei­ne Mut­ti ver­such­te es auf ihre Wei­se: „Über­leg doch mal, dass du die­sen schlim­men Aus­schlag hast und so dick bist. Da ak­zep­tiert dich je­mand, so wie du bist, und dann sagst du ab?“

Evi brach in Trä­nen aus, weil mei­ne Mut­ti sie be­lei­digt hat­te. Auch ich re­de­te ihr zu, dass sie doch mit dem Po­li­zis­ten auf die Kir­mes ge­hen sol­le. Schließ­lich war der Mann im­mer sehr nett zu mir, wenn ich vor der Haus­tür spiel­te. Doch sie schüt­tel­te nur den Kopf.

Mein Va­ter konn­te es ein­fach nicht fas­sen. „Wie kannst du nur so hoch­nä­sig sein? Über­leg doch mal, du hast kei­nen Freund. War­um bist du so dumm und ver­schmähst je­mand, nur weil er Po­li­zist ist?“

Sie sag­te, sie wol­le gar kei­nen Freund.

Mei­ne Mut­ter war ge­nau­so ent­setzt wie mein Va­ter. Sie wuss­ten nicht, wie sie dem net­ten Po­li­zis­ten vor der Tür ab­sa­gen soll­ten. „Jetzt gib ihm doch eine Chan­ce“, ver­such­te ich mei­ne Schwes­ter zu über­re­den. Der Mann war so nett zu mir ge­we­sen, als ich vor der Haus­tür spiel­te.

Mei­ne Mut­ti hat­te die pein­li­che Auf­ga­be, dem Ver­eh­rer mei­ner Schwes­ter ab­zu­sa­gen. Sie er­klär­te es ihm ganz di­rekt. Sie hät­ten nichts da­mit zu tun, sie hät­ten ihn ger­ne an der Sei­te von Evi ge­se­hen.

Es dau­er­te nicht lan­ge, und der Po­li­zist stand nicht mehr vor un­se­rer Tür. Mein Va­ter war sehr böse auf mei­ne Schwes­ter. „Weißt du, was mich so är­gert?“, sag­te er zu ihr. „Dass die­ser Mann jetzt denkt, dass er für uns nicht gut ge­nug ist, weil er kein Aka­de­mi­ker ist. Mei­ne Güte, Evi, viel­leicht hat die­ser Mann nur die mitt­le­re Rei­fe und kann kein La­tein, aber er ist doch ein eh­ren­wer­ter Mensch. Wie scha­de, Evi. Er war in dich ver­liebt.“

Mei­ne Schwes­ter sag­te zu all­dem nichts. Sie war nicht ver­liebt. Sie fühl­te sich wohl bei den lang­haa­ri­gen Grü­nen und leg­te all ih­ren Ehr­geiz in ihr Stu­di­um an der Uni­ver­si­tät.

Mir tat die gan­ze Sa­che leid. Der Mann mit dem freund­li­chen Ge­sicht vor un­se­rer Haus­tür in sei­ner hell­grü­nen Uni­form hat­te es nicht ge­schafft, mei­ne Schwes­ter zu er­obern. Falls er sie sehr ge­liebt hat, ist es viel­leicht ein Trost für den tap­fe­ren jun­gen Mann am Rich­ter­berg im Schwa­rz­wald: Evi hat nie ge­hei­ra­tet und sie hat­te auch nie einen Freund. Im gan­zen Le­ben nicht.

Kindheit D

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