Читать книгу Kindheit D - Ines Krüger - Страница 5
ОглавлениеAm Richterberg
Wir zogen mit Hund, Meerschweinchen und allem, was wir hatten, in die Gegend von Karlsruhe in ein kleines Schwarzwalddorf. Angeblich war das neue Haus ganz sicher. Vier bewaffnete Polizisten mit Funkgeräten standen rund um die Uhr vor unserer Haustür, für ihre Ruhepause hatten sie einen kleinen Wohnwagen. Alle Scheiben im Haus waren aus Panzerglas. Die Molotowcocktail-sichere Markise war rot, man konnte sie so weit herunterfahren, dass der Balkon als sicher galt. Stacheldraht hatten wir auch bekommen, und kein einziger Baum stand im Garten, dafür schenkte mir meine Mutti ein Schaukelgerüst.
Trotzdem hatte ich Angst, und meine Eltern hatten auch Angst. Deshalb waren bei uns alle Türen abgeschlossen, und in der Schublade im Flur lag die Pistole.
Sonst änderte sich nicht viel: Mein Papa war weiterhin fast nie zu Hause. Wenn er vom Büro kam, wurde er von einem Personenschützer mit MP bis vor die Haustür gebracht. Dann hatte er Hunger und nur sehr selten Zeit, sich mit mir zu unterhalten. Er fragte meine Mutti über meinen Kopf hinweg, ob seine „puella“ auch brav gewesen sei. Das war Latein und hieß Mädchen. Er versicherte meiner Mutter, wie schön sie sei, und ignorierte mich. Wenn ich ihn ansprach, hörte er nie wirklich zu. Er hatte oft Kopfschmerzen.
Bei meiner Mutter erkundigte er sich jeden Tag, ob etwas Besonderes passiert sei. Es gab immer wieder Nachbarn, die verdächtige Personen in unserer Straße wahrgenommen hatten und diese Informationen an die Polizisten vor unserer Haustür weitergaben: Etwa ein einzelner Mann mit einer großen Plastiktüte in der Hand oder ein Auto, das besonders langsam an unserem Haus vorbeigefahren war. Mein Vater gab die Personenbeschreibungen, die die Nachbarn ihm gegeben hatten, an die Behörden weiter.
Ein paar Wochen nach unserem Einzug war unser Haus eindeutig von zwei verdächtigen Männern beobachtet worden, die ziemlich unvorsichtig waren. Nachbarn entdeckten sie und konnten sie ziemlich genau beschreiben. Die Ermittler vermuteten, dass es zwei Terroristen vom Fahndungsplakat waren.
Wenig später bekamen wir einen Riesenschreck: Ein kleines Flugzeug war auffällig lange über unserem Häuserblock hin und her geflogen. Das BKA wurde eingeschaltet. Tatsächlich hatte jemand in dem Flieger Luftaufnahmen angefertigt. Mein Vater war entsetzt. Wir hatten nicht daran gedacht, dass auch aus der Luft heraus ein Attentat auf uns verübt werden könne. Auf so etwas waren die Sicherheitsmaßnahmen nicht ausgelegt.
Gleich über die Straße gab es einen kleinen Spielplatz. Anfangs durfte ich dort spielen, aber nach der Geschichte mit dem Flugzeug war es damit vorbei. Ich durfte draußen nur noch direkt vor den Polizisten oder im Garten spielen. Sonst wurde meine Mutter hysterisch. Einmal war ich mit den Rollschuhen einfach weggefahren, denn bei uns in der Nähe gab es eine tolle Abfahrt. Sofort gab es Alarm: Nummer fünf war weg! Es dauerte nicht lange und ich wurde geortet und wieder eingefangen. Meine Mutti heulte, und ich bekam entsetzlichen Ärger: Sie hatte mich doch so lieb und wollte nicht, dass mir etwas zustieß – dass die bösen Männer kommen und mich in ein Auto zerren und entführen. Ich weinte vor Schreck. Ich hatte doch nur mit den Rollschuhen fahren wollen.
Meine Mutter beruhigte sich nur langsam. Sie fragte eine Nachbarin, ob ich vielleicht bei ihr zu Hause manchmal mit ihren Kindern spielen dürfe. Die Nachbarin stimmte zu – wenn ich mich nur von ihrem Baby fernhielte: „Hände weg vom Baby!“, schärfte sie mir ein. „Den Kinderwagen fasst du nicht an!“ Das Baby interessierte mich überhaupt nicht. Man sah sowieso nichts von der Kleinen im Kinderwagen außer einer rosa Mütze und einer Strickdecke.
Ich war oft bei den Nachbarn. Die Schwarzwälderin backte Dampfnudeln, ich spielte mit den Kindern, und in kurzer Zeit lernte ich den badischen Dialekt.
Meine Mutter konnte den Dialekt nicht ausstehen. Wenn ich zu Hause Badisch sprach, bekam sie sofort schlechte Laune. „Das heißt nicht: ‚Du hasch’, sondern ‚Du hast’! Gewöhn dir das bloß nicht an!“ Sie ließ mich die Sätze auf Hochdeutsch wiederholen und schimpfte mit mir ohne Ende. „Wenn du später nicht mehr im Schwarzwald wohnst, denken die Leute, du bist ungebildet“, sagte sie und kniff mich wütend in den Arm. „Gebildete Menschen sprechen keinen Dialekt.“
Ich war den Tränen nahe. Es war wohl besser, Hochdeutsch zu sprechen, sonst hatte mich die Mutti nicht mehr lieb.
Die Straße, in der wir wohnten, hieß bei allen im Dorf bald nur noch „Der Richterberg“. Meine Mutter mochte den Schwarzwald nicht, Karlsruhe war „finsterste Provinz“. Es gab dort nicht diese schicke Mode wie im Rheinland.
Die schlechte Laune meiner Mutter hing auch damit zusammen, dass die Nachbarinnen im Dorf ihr tatsächliches Alter herausgefunden hatten. Denn meine Mutti schummelte sich gerne mal zehn Jahre jünger. Sie legte sehr viel Wert auf ihr Aussehen, verbrachte Stunden vor dem Spiegel, schminkte sich und stylte an sich herum. Das Schlimmste, was meiner Mutter passieren konnte, war, dass jemand erfuhr, wie alt sie wirklich war. Sie schärfte es mir immer wieder ein: „Denk dran, deine Mutti ist erst sechsunddreißig Jahre alt.“ Ich erzählte das brav den Nachbarskindern. Ein kleines Mädchen, das ich eigentlich besonders gern hatte, sah mich kurz an und meinte nur: „Dann muss deine Mutti die Evi schon mit achtzehn Jahren bekommen haben.“ Ich zuckte die Achseln. Warum denn nicht?
Ja, Schönheit war meiner Mutti wichtig. Sie hatte früher gemodelt und achtete immer sehr auf ihr Gewicht. Während wir Kinder mittags Pommes mit Ketchup oder Nudeln oder Kartoffelbrei mit Erbsensuppe aßen, saß sie daneben und stocherte in ihrem Teller mit rohem Spinat herum.
Meine Mutti litt auch darunter, dass ihre Freundin aus Bonn nicht mehr da war. Wenn wir allein waren, fing sie an zu erzählen, Mutti hatte ja niemanden außer mir. Sie erzählte von früher, als sie selbst noch ein Kind war. Wie sie im Bunker gesessen hatten in Kiel, weil die Stadt von den Feinden mit Bomben beworfen wurde. Wie ihr Elternhaus völlig ausbrannte. Ihr Vater war Zahnarzt gewesen, und nach dem Krieg hatten sie sich alles wieder neu aufbauen müssen. Sie hatte ihren Vater sehr geliebt. Er war daran gestorben, dass er nach dem Ziehen eines Zahns eine Sepsis nicht überlebt hatte, ausgerechnet er als Zahnarzt! Meine Mutti erklärte mir, dass es im Krieg ganz schwer gewesen sei und dass man noch nicht mal Butter aufs Brot gehabt habe. Ich fragte sie ganz viel, sie wusste ja immer alles. Ich saß stundenlang bei ihr und hörte ihr zu.
Sie erzählte mir auch, dass sie meinen Papa nicht mochte, weil er immer nur Terroristen jagte. Wenn sie gute Laune hatte, durfte ich mir die Fingernägel mit rosa Lack anmalen. Meine Mutti sah mich an und sagte, dass sie mich lieb habe.
Ich wurde wieder eingeschult. Die Dorfschule, auf die ich im Schwarzwald gehen musste, war für mich genauso angsteinflößend wie die Schule in Bonn, es war wie in der Geisterbahn. Jeden Morgen wurde ich im Polizeiauto zur Schule gefahren. Im Polizeiwagen war alles voller Funkgeräte, und es roch nach Zigarettenqualm. Die beiden Männer in ihren grünen Uniformen waren mein Schutz. Einer von ihnen brachte mich bis zur Eingangstür der Schule. Dann stand ich mit den anderen Kindern auf dem Schulflur und wartete auf den Gong. Und ich dachte immer nur an meine Mutti. Dass ihr bloß nichts passierte. Ob ich sie noch einmal wiedersehen würde?
Meine Mutter wusste, dass ich die Schule nicht mochte. Sie erzählte meiner Klassenlehrerin, dass ich in Bonn immer aus der Schule weglaufen wollte. Deshalb passten die Lehrer jetzt ganz genau darauf auf, dass ich nicht verschwand.
Mutti fragte mich, ob ich in der großen Pause auf dem Hof auch immer schön in der Nähe meiner Lehrerin bliebe. Ich war ehrlich und sagte: „Nein, wir Mädchen spielen immer mit den Jungs mit einer Cola-Dose Fußball.“ Meine Mutter verbot es mir und ging gleich am nächsten Tag zu meiner Klassenlehrerin: Ihre Tochter solle besser beaufsichtigt werden. Ich blieb von nun an immer ganz nah bei der Pausenaufsicht.
Eines Abends kam mein Papa mit einem Plakat zu mir und machte ein sehr ernstes Gesicht. Auf dem Plakat waren die Terroristen abgebildet mit ihren Namen. Ich erschrak, denn ich wusste nicht, dass auch Frauen Terroristen sein konnten. Ich dachte immer, das seien nur Männer mit Bart.
Mein Papa sagte mir, ich solle mir die Fotos genau ansehen. Ich kannte niemanden von ihnen. „Wenn du einen von diesen Menschen siehst, rennst du weg, so schnell wie möglich“, schärfte mir mein Vater ein. Ich nahm es mir fest vor.
Er erklärte mir auch noch andere Dinge: Wenn ich irgendwo auf dem Gehweg lief und ein Auto neben mir halten würde, solle ich – egal wer darin saß, und egal, was diese Person erzählen würde – sofort wegrennen. Auch wenn mich jemand nach dem Weg fragte oder angeblich Hilfe brauchte: Nichts wie weg. Ich durfte von niemandem Süßigkeiten annehmen, mich mit niemandem anfreunden und niemandem etwas über unsere Familie erzählen. Auf keinen Fall durfte ich Geschenke annehmen – und auch keine Post oder Pakete. Mit schwirrte der Kopf, das konnte man sich alles ja gar nicht auf einmal merken.
Auch aus der Schule sollte ich mich von niemand anders abholen lassen, außer genau den Polizisten, die mich hingebracht hatten. „Wenn dir jemand sagt, dass deiner Mutti etwas passiert sei und du deshalb mitkommen sollst, dann tust du das nicht! Du rufst immer sofort die Polizei mit einem Erwachsenen an.“
„Meinst du, Mutti passiert was?“, fragte ich halb heulend.
Mein Papa schüttelte den Kopf: „Nein, das sind Lügen, die sich jemand ausdenkt, um dich irgendwohin zu locken.“
Ich nickte. Jetzt hatte ich alles verstanden. Ich warf noch einmal einen ganz genauen Blick auf die Fahndungsbilder. Ich musste doch auf meine Mutti aufpassen.
Meine Mutter hatte die Fotos auch schon gesehen, und auch Helga, die die meiste Zeit in ihrem Zimmer saß. Meine Cousine hasste den Schwarzwald noch mehr als meine Mutter. Sie ging aufs Gymnasium und war dort die Einzige, die mit einem Polizeiauto in die Schule fahren musste. Es gab in ihrer Schule eine Gruppe Mädchen, die sie andauernd ärgerten. Weil sie nicht Badisch sprach, weil sie so lange Haare hatte, weil sie nicht gut in der Schule war. Sie hatte keine richtige Freundin, und als sie mit anderen Mädchen mit dem Bus in die Kreisstadt fahren wollte, durfte sie es aus Sicherheitsgründen nicht. Meine Cousine fing an, die Schule zu schwänzen, und meine Mutti ließ es ihr durchgehen, weil sie auch alles scheußlich fand.
Ich hatte demgegenüber noch Glück mit meiner Klassenlehrerin. Sie wohnte im selben Dorf wie wir und hatte das Polizeiaufgebot vor unserer Tür gesehen. Sie hatte Mitleid mit mir. Meine Mutter bekam dies mit, als ich einmal im Aufsatz eine Zwei bekam, obwohl ich so viele Wörter falsch geschrieben hatte.
Mehrmals war es vorgekommen, dass ich einfach in der Stunde aufgestanden war und gesagt hatte: „Mir ist übel. Ich gehe jetzt nach Hause.“ Dann wurde ich in der Schule festgehalten. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, aber ich war gut in Religion und Musik. Ich mochte das Fach Schönschrift, weil ich so gerne malte. Ich malte die Buchstaben nach und bekam die Note eins. Mutti konnte es kaum glauben.
Ich wurde von der Musiklehrerin für den Schulchor empfohlen. Aber ich durfte nicht hingehen, weil der Singunterricht in der Sporthalle stattfand, und da konnte die Polizei nicht mitkommen. Meine Mutti sagte, ich solle doch zu Hause mitsingen, wenn die Schallplatte von Cindy und Bert lief. „Das ist doch viel schöner als Chor.“ Das machte ich dann auch.
Aber bald gab es wieder Ärger mit Helga. Mein Vater hatte im Keller unseres Hauses ein kleines Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch, alles war voller Akten und Papiere. Die Papiere waren nicht geheim, aber in fremde Hände geraten sollten sie auch nicht.
Ich traute mich gar nicht in den Keller, weil ich Angst vor dem Dunkeln hatte. Außerdem war da unten die Heizung, die machte so komische Geräusche. Ich dachte, sie könne explodieren, wenn man davorsteht. Aber meine Cousine hatte sich dorthin getraut, und zwar heimlich. Helga hatte Kontakt zu terroristischen Kreisen aufgenommen. Sie hatte in den Akten Adressen in Hamburg gefunden und dorthin heimlich Briefe geschrieben. Sie wolle Terroristin werden, erklärte sie darin. Helga wurde zur Rede gestellt und gab es zu. Mein Vater war fassungslos: Meine Cousine setzte das Leben unserer Familie aufs Spiel, um sich vor Terroristen aus Hamburg schönzutun. Gott sei Dank hatte sie keinen Zugriff auf wirklich brisantes Material, solche Akten blieben sicher im Bundesgerichtshof verwahrt.
Der Verfassungsschutz fragte meine Schwester aus, und mein Vater, der Terroristenjäger, musste um seinen Job fürchten. Die Verfassungsschützer bedauerten meinen Vater. Seine Nichte habe wohl ausgeprägte Teenagerfantasien, erklärten sie.
Mein Vater behielt seinen Job, aber er wurde eine Zeitlang schief angesehen. Als eine Beförderung anstand, wurde er übergangen. Seine pubertierende Nichte hatte ihm eine noch glänzendere Karriere verdorben.
Mein Vater achtete jetzt mehr auf mich. Er sagte mir, dass man im Leben nicht lügen solle. Die Wahrheit sei vielleicht manchmal unbequem, aber immer besser. Er sagte, dass ich später nicht Juristin werden müsse. Vielleicht wolle ich ja auch Heilpraktikerin werden, wie die nette Therapeutin, die meine Mutter jetzt behandelte. Sie hatte mir ein paar leere Plastikspritzen geschenkt, und ich pikste meine Puppen damit. Mein Papa sagte, ich solle ihm immer die Wahrheit sagen. Und dass ich die Akten in seinem Arbeitszimmer nicht anrühren solle, das sei sonst Spionage. Ich nickte. Der Keller war mir ohnehin zu gefährlich wegen der Dunkelheit und der Heizung.
Papa sah mich ernst und traurig an. „Meine liebe Molli“, sagte er, „wenn mir mal etwas passiert, musst du ganz tapfer sein und zu deiner Mutter halten. Das ist ganz wichtig. Merkst du dir das?“
Ich nickte wieder. „Meinst du, dir passiert was, Papa?“
Er zuckte die Achseln. „Du arme kleine Molli. Da draußen ist es gefährlich, aber wir haben den Personenschutz. Das liegt in Gottes Hand.“
„Wir haben Schutzengel”, sagte ich. „Ich habe sie gesehen.“
Mein Vater nickte. „Ja, wir haben Schutzengel. So, liebe Molli, jetzt gehst du hoch und fütterst dein Meerschwein.“
Ich machte mich sofort auf den Weg. Astrid bekam Radieschenblätter, die lagen schon in der Küche bereit. Ich stiefelte treppauf und gab sie dem Schweinchen. Es machte „oink-oink“. Astrid sprach mit mir. Sie aß alles ganz schnell auf, und ich blieb bei ihr oben und knipste den Globus an.