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Bekanntschaft mit der Sitte
ОглавлениеMit 20 verließ ich das Elternhaus: mit Einwilligung meiner Eltern, vor allen Dingen meiner Mutter, die endlich eingesehen hatte, dass sie mich nicht mehr halten konnte. Allerdings war sie alles andere als erfreut darüber, dass ich Leine zog.
Nachdem meine Eltern meinem Auszug zugestimmt hatten, fand ich schon bald über Freunde ein sehr hübsches, preisgünstiges Separatzimmer in einem Jugendstilhaus in Schwabing. Alle Nationen waren in diesem Haus vertreten. Es herrschte eine gute Kameradschaft. Ich wohnte in einer 5ZimmerWohnung mit vier jungen Damen zusammen. Jede hatte ein eigenes Zimmer. Wir waren ein gutes Team und verstanden uns auf Anhieb. Es gab ein gemeinsames Bad, eine kleine Küche und eine separate Toilette – und ich konnte alle Lokale in Schwabing zu Fuß erreichen. Ein vollkommen neues Lebensgefühl ergriff von mir Besitz. Ich war glücklich und fühlte mich frei wie ein Vogel.
Eines Abends, Iris und ich marschierten einträchtig, ein wenig mit den Hüften wackelnd, im Gespräch vertieft, die Arcisstraße entlang. Da hielt plötzlich ein alter VW neben uns und zwei mittelalterliche Herren sprangen heraus. „Oh, die beiden Herren haben sicher Interesse an einem Vierer“, raune ich in meiner Naivität Iris leise zu. Sie strahlte begehrlich. Von wegen! Hat sich was mit Kuchen! Den flotten Dreier konnten wir uns abschminken. Zumindest mit diesen beiden vermeintlichen Freiern: Es waren ausgerechnet Herren von der Sitte! Sie wiesen sich mit strenger Miene aus, Iris und ich waren wie vor den Kopf geschlagen; unsere gerade noch so strahlenden Mienen machen sehr schnell betretenen Gesichtern Platz. Und da brauchen wir nicht einmal zu schauspielern, wo wir beide es darin schon fast zur Meisterschaft gebracht hatten! Die beiden bieder gekleideten Herren verlangen unseren Ausweis. Iris nestelt nervös in ihrer Handtasche. Sie hat Mühe, ihn in ihrem Kruscht zu finden. Allerdings hatte Iris das große Glück, ihren Ausweis dabei zu haben, denn ich hatte meinen ausgerechnet heute zu Hause vergessen – das passiert mir eigentlich nie. Erst recht nicht, wenn ich auf die Pirsch ging.
Ich wurde puterrot: „Tut mir echt leid, ausgerechnet heute habe ich meinen Ausweis nicht dabei.“ Der Beamte sah Iris und mich mit eisiger Miene an. „Wir beobachten euch beide schon seit einiger Zeit und haben uns natürlich so unseren Reim gemacht.“
„Aber ganz bestimmt haben Sie sich einen falschen gemacht. Wir sind nämlich zwei anständige junge Damen, die einen alten Bekannten, der Türsteher vom ‚Eve’ ist (einem ehemaligen Cabaret), gerne besuchen und einen kleinen Ratsch mit ihm halten. (Zum Glück kennen wir den Kerl wirklich.) Sie können den jungen Mann fragen. Er hat auch heute Dienst.“ Ich rollte, um das Gesagte noch zu unterstreichen, kräftig mit meinen Kulleraugen. Die Beamten mussten beide lachen. („Du hast wirklich lustig ausgesehen, wie du ganz entrüstet dagestanden bist mit deinen rollenden Augen“, erzählte mir Iris später.) Na Gottseidank! Wenn Menschen lachen, sind sie viel gelöster und alles sieht gleich viel farbenfroher aus.
Der eine Beamte meinte: „Jetzt geben Sie mir Ihre Anschrift und ich frage schnell nach, ob Sie auch gemeldet sind. Wenn ja, dann geben Sie mir Ihre Telefonnummer, wo ich Sie tagsüber erreichen kann, und dann geben Sie mir die Nummer Ihres Ausweises durch. Reden Sie dann einfach so, als gäben Sie mir eine Telefonnummer. Ich werde mich bestimmt nicht zu erkennen geben und wir werden auch ein wenig reden, sodass das Gespräch einen privaten Charakter hat“, beruhigte er mich freundlich, als er meinen verschreckten Gesichtsausdruck sah. Nicht, dass er bei mir im Büro anruft und sich vielleicht noch mit „Sitte“ meldet. Da könnte ich gleich meine Papiere nehmen! Freundlich verabschiedeten sich dann die beiden. „Dies ist ein heißes Pflaster. Trabt hier nicht mehr so offensichtlich auf und ab. Ihr könntet beide zu leicht verwechselt werden“, schmunzelten die beiden Herren noch, bevor sie losdampften. Ich war mir ganz sicher, sie hatten uns beide längst durchschaut.
An diesem Abend lief nichts mehr. Iris und ich rauschten auf dem schnellsten Wege zu unserem Türsteher Heino, dem wir aufgeregt wie zwei gackernde Hühner von dem gerade Erlebten berichteten. Und was tat die Knalltüte von Kerl? Er wollte sich nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen. Also, so lustig fanden Iris und ich unsere Geschichte nun auch wieder nicht!
Unser nächster Weg führte uns schnurstracks in unser Stammcafé, wo wir uns beide einen Kaffee und einen Doppelstöckigen bestellten. Jetzt mussten wir uns für die nächsten Wochen unbedingt eine neue Flanier-Meile suchen, denn es war damit zu rechnen, dass die beiden Sittenwächter in den nächsten Tagen erneut nach uns Ausschau hielten. Es wäre doch wirklich zu fatal, wenn wir ihnen bei nächster Gelegenheit wieder über den Weg liefen!