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Kapitel 2
Vier Frauen im Nebel

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In der Abflughalle wartete bereits eine Vielzahl von Reisenden.

„Macht’s gut, Mädels“, sagte Franca und küsste den vier Golden Girls der Reihe nach, ganz frankophil, dreimal die Wangen – links–rechts–links. Keine der üblichen Luftküsschen, sondern ein Abschied von Freundinnen, die eine tiefe Sympathie füreinander empfanden.

„Du auch“, kam es im Chor zurück, und Marie, Cécile, Julie und Eleni machten sich auf den Weg zum Transferbus.

„Fliegt vorsichtig“, rief Franca noch hinter ihnen her, „und lasst euch unterwegs von niemanden ansprechen. Ihr wisst doch, heute kann man keinem Kerl mehr trauen!“

„Das sagt die Richtige“, lachten die anderen zurück und winkten noch einmal zum Abschied mit allem, was sie in den Händen hielten.

Marie richtete sich auf ihrem Fensterplatz ein und freute sich, dass sie den Atlantik zum ersten Mal aus der Vogelperspektive betrachten durfte. Eleni hatte in ihrer Dreierreihe nur den Außenplatz erwischt und machte ein enttäuschtes Gesicht. Marie beugte sich zur ihr hinüber und sagte tröstend: „Nachher tauschen wir dann mal die Plätze, d’accord?

Hinter den beiden saßen Cécile und Julie und links außen von den beiden ein Mann, der bereits zu tief in den Rotwein gestiegen war, bevor er am Flughafen ankam, und den Rest der Passagiere lautstark mit seinen angeblich amourösen provençalischen Abenteuern unterhielt.

Nicht alle Mitreisenden freuten sich über sein Mitteilungsbedürfnis, vor allem diejenigen nicht, die lesen, am Laptop arbeiten oder eine Mütze Schlaf nehmen wollten, so wie Cécile und Julie.

„Pardon, Madame. Können Sie ihre Tasche da runternehmen? Das ist mein Platz.“ Ein junger Mann, dessen eleganter Zweireiher im krassen Gegensatz zu seinem Dreitagebart stand, deutete mit dem Zeigefinger auf den Mittelsitz zwischen Eleni und Marie. Hastig holte Letztere ihre große Reisetasche nach unten und klemmte sie sich vor die Beine.

Kaum hatte der Typ sich niedergelassen, begann zwischen seinen Ellbogen und denen der beiden Golden Girls ein Kampf um die Armlehnen rechts und links. Ergeben zogen Marie und Eleni schließlich ihre Arme zurück. Der Sieger breitete zufrieden grinsend eine Zeitung aus und begann zu lesen, ohne auf die beiden Damen zu seinen Seiten Rücksicht zu nehmen, die im Bemühen, den Papierseiten vor ihren Gesichtern zu entkommen, krampfhaft versuchten, nach rechts und links auszuweichen. Gleichzeitig dröhnte die Stimme des Passagiers mit den amourösen Abenteuern hinter ihnen, der sich einer alten Dame auf dem Außenplatz der Dreierreihe links von ihm vorstellte: „Miller, Mike Miller aus San Francisco. Ich bin waschechter Amerikaner, und Sie?“

Geschockt von so viel lauter Anbiederung in einem Flugzeug, stellte diese sich allerdings taub. Das hielt den Typen, der sich offensichtlich noch immer in den Reben des Herrn befand, aber nicht davon ab, eine Unterhaltung zu beginnen. Ob sie Französin wäre, aus Nizza oder Umgebung käme … Die Provençalinnen seien ja so was von sexy … Und dann galant: selbst im höheren Alter noch.

Ein irritiertes. „Mon Dieu!“

Oh, dann habe sie sicher ihre Kinder besucht oder flöge etwa nur zu einem Shopping-Trip in die USA …

„Ich fliege nach Hause.“ Die alte Dame fühlte sich langsam äußerst belästigt durch seine aufdringliche Art, drehte sich zur Seite und zeigte ihm die hochgezogene kalte Schulter.

„Na, so was“, sagte er enttäuscht. „Eine echte Landsmännin.“

„Ich möchte bloß mal wissen“, lamentierte Eleni etwas ängstlich, „warum wir immer noch nicht gestartet sind. Seit fast einer Stunde sitzen wir nun im Flieger und der Vogel hebt einfach nicht ab.“

Doch bevor Marie etwas Beruhigendes antworten konnte, kam im gleichen Augenblick eine Durchsage aus der Pilotenkanzel: „Mesdames et Messieurs, entschuldigen Sie bitte unseren verspäteten Abflug. Wir hatten ein kleines Problem mit der linken Turbine, weshalb ein gewissenhafter Check vorgenommen werden musste. Doch nun ist alles in Ordnung. Schnallen Sie sich an, s’il vous plaît, es geht gleich los.“ Und dann wünschte die Stimme noch, offenbar sehr zuversichtlich, einen guten Flug.

„Also, das mit dem Problem an der Turbine hätten die auch für sich behalten können“, sagte Eleni empört.

Julie beugte sich über die Rückenlehne zu ihr nach vorn. „Du hast recht, chérie, so genau wollte das keiner von uns wissen!“

Dann leierte eine Stewardess die üblichen Darstellungen der Sicherheitsvorkehrungen runter, und niemand hörte noch zu. Man war schon vor dem Abflug gehörig bedient und mit den Nerven am Rande eines Zusammenbruchs.

Sie rollten zur Startbahn, die Motoren dröhnten und ließen den Rumpf des großen Vogels erzittern. Der Flieger nahm schnell Fahrt auf, erhob sich in die Lüfte, und bald blinkten die Lichter unter ihnen nur noch als kleine Punkte.

Kaum waren sie ein paar Minuten in der Luft, vernebelte plötzlich weißer Rauch die Sicht der Passagiere. Marie schaute Eleni an, die eine ganz spitze Nase bekam, und beide sahen sich nach Cécile und Julie um, die besorgt aus dem Fenster schauten.

„Wir befinden uns tatsächlich hoch über den Dächern von Nizza“, sagten sie unisono, und Julie leicht sarkastisch: „Der Zufall kann das zufallen doch einfach nicht lassen, n’est-ce-pas, Marie? Hitchcock lässt grüßen … hahaha.“

Die so Angesprochene grinste etwas schief, und die Stimme des großen Liebhabers krächzte verstört: „Wieso fliegen wir, wenn wir Nebel in der Kabine haben? Das kann doch nicht normal sein!“

Die Stewardessen liefen wie aufgeschreckte Hühner nach vorne zum Cockpit. Doch dann verzogen sich die Nebelschwaden, bis nichts mehr von ihnen übrig war, die nervöse Anspannung unter den Flugreisenden aber blieb.

Maries unrasierten Nebenmann drängte es plötzlich, sich mitzuteilen: „Das könnte zum Beispiel ein ‚Fume Event‘ sein …“

„Was soll das heißen?“ Eleni wurde leichenblass. „Wollte die Fluggesellschaft uns etwa damit nur unterhalten? Auf einen Joke dieser Art kann ich gerne verzichten!“

Julie legte ihr von hinten beruhigend die Arme um die Schultern. „Wie kommst du denn darauf?“

„Na, wegen Event und so …“

„Non, non“, mischte sich Cécile da ein, „ein ‚Fume Event‘ ist nicht gerade ein Fest. Es bedeutet: Alle Verkehrsflugzeuge ziehen ihre Frischluft für die Kabine mittels einer Zapfluftanlage aus den Triebwerken …“

„Ja“, fuhr Marie fort, „und ich habe gelesen, dass sich dabei das Öl im heißen Luftstrom erhitzen und so in seltenen Fällen in die Atemluft der Kabinen geraten kann. Allerdings nur in ganz geringen Mengen …“

„Ist das gefährlich?“, fragte die alte Dame in der Dreierreihe links von Cécile und Julie, die ihre Hände wie zum Gebet im Schoß gefaltet hatte.

„Mais non“, beruhigte sie Cécile.

„Und das nennt man dann ‚Event‘?“, empörte sich Eleni. „Das ist doch nix zum Feiern!“

„Ist es auch nicht“, bestätigte Marie. „Bei einem ‚Fume Event‘ würde es nicht nebeln. Das würden wir überhaupt nicht mit den Augen erkennen. Allerdings mit der Nase …“

„Du veralberst uns!“

„Aber nicht doch, das stinkt einfach scheußlich nach alten Socken, Öl und Kerosin.“

„Mon Dieu, da bin ich aber erleichtert“, atmete die alte Dame auf und entfaltete ihre verknoteten Hände. „Ich rieche nämlich überhaupt nichts.“

In diesem Moment kam eine zweite Ansage aus dem Cockpit, die allerdings nicht zur weiteren Entspannung beitrug: „Mesdames et Messieurs, bleiben Sie bitte angeschnallt, wir kehren nach Nizza zurück!“

Es wurde sehr still in der Kabine. Der Typ zwischen Marie und Eleni holte eine Flasche Champagner aus seiner Reisetasche zwischen den Füßen. „Echter Schampus aus der Champagne für einen besonderen Augenblick. Wenn das hier keiner ist, dann weiß ich nicht, ob ich überhaupt noch dazu komme, ihn zu trinken!“ Er fummelte nervös am Verschluss und dann schoss mindestens die Hälfte des köstlichen Gesöffs nach rechts und links über die beiden Golden Girls.

Nach einem langen, kräftigen Schluck, den er direkt aus der Flasche nahm, bemerkte Marie sarkastisch: „Jetzt nur noch ein paar frisch gepflückte Erdbeeren dazu, n’est-ce pas?“

Der Mann überlegte einen kurzen Moment und wandte sich schließlich mit der fast leeren bouteille an sie und Eleni. „Wollen Sie auch? Die Bordbar ist ja wohl vorübergehend geschlossen …“

„Mercidanke“, wehrten die beiden erheitert ab, „wir hatten ja schon, und zwar von oben bis unten“, und sie wiesen auf ihre durchnässte Kleidung.

Im gleichen Augenblick nebelten sie wieder ein. Marie warf einen beunruhigten Blick zwischen den Sitzlehnen hindurch in die Reihe hinter ihr. Dort hielt sich der erfahrene Liebhaber provençalischer Damen an Julie fest, und die alte Dame hatte erneut die Hände gefaltet und sang mit zittriger Stimme: „Näher mein Gott zu dir“.

Eleni beugte sich zu Marie nach vorne und fragte verschreckt: „Warum kommen denn keine weiteren Durchsagen mehr? Und wo sind die ganzen Stewardessen geblieben? Warum lässt man uns so allein mit unseren Ängsten?“

Die Freundin hörte gar nicht zu. Sie dachte, man hatte ja schon in den Nachrichten von Flugzeugabstürzen gehört und in Zeitungen gelesen … Immer so viele Tote. Dabei war ihr Sohn, der ständig aus beruflichen Gründen über den Wolken durch die Weltgeschichte schwebte, der Meinung, Flugzeuge seien das sicherste Verkehrsmittel, um von a nach b oder c zu kommen. Nun hatten sie den Salat! Marie drehte sich zu Cécile um.

„Wie lange kann es noch dauern, bis wir auf der Erde zerschellen?“

„Wenn wir abstürzen, dann wird es schnell gehen“, formten die Lippen der Freundin, und Marie flüsterte zurück: „Aber es soll nicht wehtun, bitte, vorm Wehtun fürchte ich mich nämlich.“

„Sie werden uns anhand unserer Gebisse identifizieren“, sinnierte Julie, und Eleni schluchzte: „Merde! Alle meine Röntgenaufnahmen befinden sich in der Praxis von Dr. Soulas, einem Zahnarzt in Athen, und der ist schon seit Jahren unter der Erde!“

„Flugzeugabsturz?“, konnte Julie sich nicht verkneifen.

„Nee, Suff!“

Marie dachte an ihre Kinder. Ich hoffe, sie werden mich in guter Erinnerung behalten … Was für ein Glück, dass sie beim Umzug in die Golden Girls-WG wenigstens ihr Haus ausgemistet hatte. So konnten ihre Kinder samt Anhang ungestört um sie trauern. anstatt die Unordnung zu verfluchen, die sie ihnen sonst hinterlassen hätte. Der Rest ihrer Habe wurde einfach gleichmäßig verteilt. Sie hatte ganz bewusst kein Testament gemacht. Ihr steckte immer noch das ihrer Mutter in den Knochen, sozusagen als posthumer Vorwurf: Wann Marie sich nicht um sie gekümmert hatte, wie unzufrieden sie mit der Art ihrer Tochter zu leben war … Immer das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinaus, nur weil sie, als die Enkel aus dem Gröbsten heraus waren, nicht weiter Hausmütterchen spielte, sondern lieber ihrer brotlosen Kunst, der Schriftstellerei, erneut nachging. Offenbar hatte ihre Mutter Reue erwartet, aber damit im Gegenteil der herzlichen Trauer ihrer Tochter ein abruptes Ende bereitet. Man sollte eben kein Monitum hinterlassen!

Im selben Moment ging eine weitere Wolke auf die Passagiere nieder, während gleichzeitig die herbeigesehnte Durchsage aus dem Cockpit kam: „Bitte bleiben sie ruhig sitzen, es kann etwas holprig werden. Wir setzen jetzt zur Landung an.“ Marie schaute vorsichtig aus dem Fenster. Die glitzernden Lichter von Nizza kamen immer näher – es war in der Zwischenzeit Nacht geworden.

Julie lachte erleichtert auf. „Na wenigstens waren sie so geschmackvoll und haben auf den sonst üblichen Zusatz ‚wir hoffen, Sie hatten einen guten Flug‘ verzichtet!“

Wie aus dem Nichts tauchten auch die Stewardessen wieder auf, eilten zu ihren Sitzen, und mit den Worten „es ist alles in Ordnung, nur keine Panik“ schnallten sie sich ebenfalls an. Die Maschine setzte auf, der große Vogel bebte, Bremsen quietschten, die Passagiere wurden gegen die Rücklehnen gedrückt, dann rollte der Flieger langsam aus. „Bleiben Sie weiter auf ihren Plätzen, s’il vous plaît“, kam noch einmal die Stimme aus der Flugkanzel.

„Effronté, warum verdonnert man uns dazu, noch sitzen zu bleiben“, kreischte Eleni plötzlich hysterisch. „Ich will hier raus, verdammt noch mal!“

Julie umarmte die Freundin erneut beruhigend von hinten. „Man befürchtet sicher einen panikartigen Ansturm auf den Ausgang, Schätzchen. Mach es wie wir anderen und reiß dich zusammen, auch wenn dich deine Fluchtgedanken im Allerwertesten übermannen.“

Das Begreifen des Glücks, noch einmal davongekommen zu sein, setzte allerdings erst richtig ein, als die Golden Girls mit dem Rest Passagiere – von zweihundert waren nur noch sechzig übriggeblieben, die anderen hatten es vorgezogen, in Nizza und Umgebung zu übernachten – in der Erste-Klasse-Lounge auf das Eintreffen der Ersatzmaschine warteten. Die Stimmung schäumte geradezu über, Champagnerkorken knallten und papierene Trinkgefäße stießen aneinander.

„Hoch die Becher!“ – und Cécile setzte noch hinzu: „Wisst ihr, was das Beste an unserem Fehlstart ist?“

„Nein, was denn?“, kam es fröhlich und dreistimmig von den Freundinnen zurück.“

„Dass wir nun keine Möglichkeit mehr haben, bei der Zwischenlandung in New York das ominöse Rue La Rue der TV-Girls zu besuchen, weil unsere Ankunft um drei Uhr nachts sein wird, wegen der Zeitumstellung, und wahrscheinlich selbst in Manhattan um diese frühe Stunde die Bürgersteige noch hochgeklappt respektive die Cafés geschlossen sein werden.“

Julie und Eleni lachten, nur Marie war richtig sauer. „Vous êtes très bêtes, mes amies, richtig gemein und kein bisschen golden!“

Die Lavendelgang III

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