Читать книгу Der Bote - Inger Edelfeldt - Страница 10
5. Kapitel Nie darf man in Ruhe die Kaninchen anschauen
ОглавлениеDie Oscar-Situation war unverändert. Es hatte absolut keinen Sinn, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen. Wenigstens versuchte ich mir das zu sagen. So zu tun, als ob man etwas nicht braucht, was man vermutlich ohnehin nicht bekommen kann – ist das wohl ein gutes Prinzip? (Wie weit kann man mit diesem Prinzip gehen – eine interessante philosophische Frage! Letzten Endes redet man sich vielleicht erfolgreich ein, dass man überhaupt nichts mehr braucht, und dann siecht man endgültig dahin . . .)
Ich setzte meinen Abstieg in die pechschwarze Depression fort, da ich gewisse Tatsachen einsehen musste: 1. Ich kann nicht aufhören ekelhaft verliebt in ihn zu sein. 2. Er gehört Amanda. 3. Amanda sieht aus wie ein Golden Retriever. 4. Ich sehe nicht wie ein Golden Retriever aus. 5. Er fühlt sich auf perverse Art ausschließlich zu Mädchen hingezogen, die wie Golden Retriever aussehen.
Ich mochte in den Pausen kaum auf den Schulhof gehen, weil es so unerträglich schmerzhaft war, ihn mit ihr dastehen zu sehen! Und ich wollte ja unter keinen Umständen, dass er merkte, wie sehr ich ihn anstarrte, was ich ja nicht lassen konnte – also war es besser, sich anderswo aufzuhalten.
Jenes Lächeln damals musste ein Versehen seinerseits gewesen sein, vielleicht hatte er auch ganz einfach gefunden, dass ich komisch aussah!
Es war wie ein Rückfall in meine Zeit als Dreizehnjährige. Ich ging in die Schule und saß den Unterricht ab, völlig in meine eigene Welt versunken (mit anderen Worten: eine klägliche, kleine Rotznase in einer gläsernen Kugel), dann ging ich nach Hause, machte freudlos und roboterhaft meine Hausaufgaben, stickte oder pusselte mit meinen Fotos und Cernit-Figuren herum. Nicht einmal Musik vermochte mich zu trösten, weder meine alten Bänder und die Platten mit mittelalterlicher Musik, die Mairas Vater für mich gebrannt hatte, noch meine Platten mit Dead Can Dance, Portishead und Loreena McKennitt.
Im Werkunterricht sollten wir Stoffmuster drucken. Die renommierte, extra angeheuerte Textilkünstlerin, die uns unterrichtete, fand meinen Vorschlag für ein kompliziertes Totenkopfmuster »interessant, aber nicht sehr originell«.
Ich fühlte mich wie ein Automat, tot. In mir schien eine Art Hass zu schwelen, der in Geschwüre aufzubrechen drohte. Als wäre ich vergiftet.
Anfang September gelang es mir dann tatsächlich, echt krank zu werden. Ich bekam einen so bösartigen Virus, dass ich nicht in die Schule konnte. Das bedeutete natürlich, dass ich Probleme mit meinem Epochenheft für sphärische Trigonometrie bekommen würde, aber mir ging es so schlecht, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Um die anderen Fächer machte ich mir keine Sorgen. Ich hatte sowieso keine Lust mehr, mich leistungsorientiert zu verhalten, obwohl ich natürlich auch nicht wollte, dass man sich um meinen Geisteszustand Gedanken machte. Bloß keine engagierten Entwicklungsgespräche über mich, besten Dank!
Typisch für mich ist: Für Fächer, die mich interessieren (wie Sprachen und, ehrlich wahr, Religion), brauche ich kaum zu lernen, und alles, was mich nicht interessiert (Mathe und ähnlich nützliche Dinge), kriegt man nicht mal mit einem Hammer in meinen Schädel rein. Daher begreife ich eigentlich nicht, warum jemand wie ich überhaupt eine Schule besuchen soll; das, was mich interessiert, kann ich ohnehin schon, wie z. B. jedes noch so schwierige Buch auf Englisch lesen und Fotos machen. Manchmal habe ich daran gedacht, einfach aufzuhören.
Maira hatte sich demonstrativ mit Jessy zusammengetan, einer patchouliduftenden Person mit Dreadlocks, die ihre eigenen Kleider nähte, Gitarre spielte und verdächtigt wurde lesbisch zu sein.
Ich kann also nicht behaupten, dass es irgendetwas in der Schule gab, das mich verlockte – bis auf Oscar.
Andererseits war es daheim ziemlich einsam und verlassen. Der Mutterkuchen hatte (ungewöhnlicherweise) ein paar Tage freigenommen und traf sich mit ihren Freundinnen im Café, garantiert vor allem, um die Fehler und Mängel in ihrer Beziehung zum Bibliothekar zu analysieren. (»Du fühlst dich doch hoffentlich nicht im Stich gelassen, wenn ich mal kurz ausgehe, Arri?«)
Sophie glänzte meistens durch Abwesenheit. Sie hatte sich plötzlich einen zwei Jahre älteren Freund zugelegt, der dem inzwischen so verachteten Ricky Martin lächerlich ähnlich sah und unglückseligerweise sogar Rico hieß, aber ich durfte ihn unter keinen Umständen Ricky nennen (wie sollte ich mir das verkneifen können?). Sie wohnte mehr oder weniger bei ihm, wenn sie nicht gerade eine der anderen Geklonten besuchte.
An einem dieser Tage, als ich unter einer warmen Decke auf dem Sofa lag und wieder mal »Watership Down« guckte, wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Der Mutterkuchen kam total verweint hereingestürzt und schrie: »Sie haben das World Trade Center gesprengt! Warum gehst du nicht ans Telefon?«
Ich hatte einfach keine Lust gehabt, ans Telefon zu gehen, weil ich ja ungestört Video gucken wollte.
Sie befand sich im Auflösungszustand. Der Kaninchenfilm musste den Nachrichten weichen. Und sie rief immer wieder Sophie an, die aber bei ihrem Freund bleiben wollte. Der Bibliothekar kam nach Hause und war, ausnahmsweise, genauso erregt, obwohl er versuchte männlich zu sein und Trost und Ausgewogenheit zu verbreiten.
Und was war mit mir? Wie reagierte ich?
Der Mutterkuchen bezeichnete meinen Zustand als »Schock«. Ich selbst würde eher behaupten, dass ich nicht überrascht war. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum. Aber die Welt dort draußen ist doch eigentlich nie besonders viel versprechend gewesen, oder? Oder ich hatte tatsächlich einen Schock und habe ihn immer noch.
Aber irgendwie habe ich mir nie ein langes, sicheres Leben vorstellen können. Kaum überhaupt ein Leben. Ich habe den Glauben, dass die ganze Chose nicht zum Teufel gehen wird, schon immer für naiv gehalten.
Ich hörte ihre Gespräche, als sie glaubten, ich schliefe: »Wenn ich gewusst hätte, wie diese Welt einmal aussehen wird, hätte ich niemals auch nur ein einziges Kind auf die Welt gebracht.«
So, so.
Und ich verkroch mich unter der Decke und stellte mir vor, wie alles verging, in Flammen aufging, explodierte.
Vor einiger Zeit war mir vage bewusst geworden, dass ich irgendwann etwas anderes als ein so genannter »Teenie« sein würde. Ich würde irgendeiner Arbeit nachgehen, irgendwo wohnen und irgendeine Art von erwachsenem Leben führen müssen. Das kam mir zwar unendlich fern vor und ich hatte auch keine Lust, daran zu denken, aber ganz konnte ich doch nicht davon absehen. In Hinblick darauf, dass die Welt ohnehin früher als gedacht untergehen würde, fand ich diese Überlegungen plötzlich ziemlich einfältig.
Und erstaunlicherweise kam mir der bevorstehende Weltuntergang gar nicht so entsetzlich vor, wie man hätte erwarten können. Als ich so unter meiner Decke lag, empfand ich zum ersten Mal tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich nicht viel mehr zu verlieren hatte als – mein Leben. Dieses Leben, das mir sowieso als Illusion erschien. Wer konnte schon wissen, ob der Tod nicht eine Rückkehr zu diesem tiefsten Ernst war, der mir schon immer als die einzige Wahrheit erschien?
Ich kroch aus meinem Nest, holte den tragbaren CD-Player, »The Mirror Pool« und den Kopfhörer. Ich ließ die Musik in mich eindringen und mich füllen wie einen Becher voll Wein. Und plötzlich konnte ich nicht mehr widerstehen: Ich sah sein Gesicht vor mir, die schwarzen wehenden Haare, die Augen, das Lächeln in dem Moment, als er mich zum ersten Mal erblickte.
Und mir war klar, dass eine bestimmte Sache in meinem Leben stattfinden musste – nicht nur in der Phantasie, sondern in der Wirklichkeit –, bevor ich bereit wäre die Welt zu verlassen. Ich musste seine Nähe erleben, ich musste ihn küssen. Amanda hin oder her, ich musste ihn küssen. Das war das Einzige, das absolut Einzige, was mir wichtig erschien.
Aus Cernit kann man sich keine Menschen formen.
Als ich nach überstandener Virusinfektion wieder in die Schule kam, fühlte ich mich immer noch total matt. Ich hinkte hinterher, das war ja klar. Mein Epochenheft in Trigonometrie durfte ich in den Herbstferien nachholen, mithilfe bestimmter Bücher und, wie die Lehrer sagten, »mit der Unterstützung von Freunden« (was denn für Freunde, bitte schön?).
Das meiste holte ich schnell auf – abgesehen von Mathematik. Die nächste Epochenarbeit bestand darin, Parzival und Hamlet zu lesen und zu besprechen, und das würde mir ja keine Probleme bereiten, zumindest Hamlet nicht, denn das Stück hatte ich schon gelesen (auf Englisch!). Und zwar aus purer Neugier und Dickköpfigkeit und um mich besonders zu fühlen.
Oscar schien nicht zu bemerken, dass ich wieder da war, obwohl ich mich tollkühn gut sichtbar in eine entfernte Ecke des Schulhofs stellte. Das Golden-Retriever-Mädchen dagegen starrte mich hasserfüllt an, als verdächtigte es mich, Voodoo zu praktizieren. Und ich, ich brauchte bloß Oscars Rücken zu sehen, um geradezu elektrisch von ihm angezogen zu werden, als wäre er ein Magnet. Vom magnetischen Standpunkt aus hätte er eigentlich genauso auf mich reagieren müssen, doch das tat er offensichtlich nicht.
Wenn ich wenigstens ein anständiges Foto von ihm gehabt hätte!
Im Licht des bevorstehenden Weltuntergangs hätte ich natürlich couragiert genug sein müssen, um in einem der wenigen, von Amanda unbewachten Augenblicke auf ihn zuzumarschieren, aber so mutig – oder idiotisch – zu sein wagte ich dann doch nicht.
Maira hatte sich in der Zwischenzeit die Haare abrasiert und schaute jedes Mal demonstrativ in eine andere Richtung, wenn ich in ihre Nähe kam. Sie und Jessy waren jetzt fundamentalistische Veganer. Lesbische, fundamentalistische Veganer, allem Anschein nach. Hätte ich sie nicht so sehr gehasst (oder eher sie mich; und noch hatte ich das Jesus- oder Gandhi-Stadium nicht erreicht), hätte ich zugegeben, dass sie unglaublich cool aussah. Aber jetzt zwang ich mich zu dem Gedanken: »Hilfe, jetzt hat sie sich auch die Haare abrasiert, genau wie alle andern«. Obwohl ich gestehen muss, dass diese »alle andern« in unserer braven, exklusiven Schule nicht sehr zahlreich waren.
Emma, Mega-Loser der Schule, kam zu mir her und sagte: »Ich hab gehört, dass du diesen SCHRECKLICHEN Virus gehabt hast; ich erhole mich auch gerade von seinen Folgen.
Und in ihren Augen las ich ein Flehen: Geh mit mir zum Naturkostladen und lass uns dort wie zwei Freundinnen Vitamintabletten kaufen! Und dabei war es total peinlich, auch bloß mit ihr zusammenzustehen! Daher sagte ich, Krankheiten würden mich nicht sonderlich interessieren, es sei denn, es handle sich um etwas Ernsthafteres wie Aussatz oder Lycantropie. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: »Eigentlich hab ich Aids«.
Sie verzog sich und ich blieb mitten auf dem Schulhof stehen. Der Wind war kalt und ich fühlte mich irgendwie unangenehm durchsichtig. Vielleicht hatte ich tatsächlich irgendeine ernsthafte Krankheit, vielleicht hatte ich Aids, ohne es zu wissen?
In der Hoffnung, noch irgendwo auf Oscar zu stoßen, zwang ich mich dazu, bis zur letzten Stunde zu bleiben. Dann ging ich nach Hause, aber langsam, und ich fühlte mich wirklich sehr matt.