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4. Kapitel

Ein Erdmännchen erteilt mir eine Lektion, und anderes mehr

Amandas Existenz brachte mich dazu, über eine Frage nachzudenken, der ich eigentlich grundsätzlich ausweiche, weil ich einsehe, dass sie meine Integrität bedroht. Nämlich: Wie wird man beim anderen Geschlecht beliebt? Zwar widerstrebte es mir, Oscar mit einer so banalen Bezeichnung in eine Kategorie einzuordnen (denn natürlich war er einmalig und kein Repräsentant irgendeiner Gruppe), aber trotz meiner festen Entschlossenheit, sowohl meine Persönlichkeit als auch meine Selbstachtung zu wahren, habe ich selbstverständlich auch meine schwachen Momente.

Als warnendes Beispiel hat das Schicksal mir eine zwei Jahre jüngere Schwester beschert. Bis zu dem Moment, als sie einen Freund fand, der ihr Leben ausfüllte, hatte sie stets in allem, was mein Dasein ausmachte, herumschnüffeln müssen, obwohl ihr Bestreben vor allem in den letzten Jahren darauf gerichtet war, sich so stark wie möglich von mir zu unterscheiden. Auf den Namen Isolde getauft, war das arme Kind bis zu seinem dreizehneinhalbten Lebensjahr Solli genannt worden, dann aber hatte sie gefordert Sophie gerufen zu werden, weil sie sich einen »echten Mädchennamen« wünschte. Innerhalb kürzester Zeit legte sie sich eine Menge peinlicher Verhaltensweisen zu, die sie aus allen möglichen Soaps abgeguckt hatte. Ihr Zimmer war rosa gestrichen und an den Wänden hingen Poster mit Popstars. Als sie zwölf war, verehrte sie Ricky Martin und A Teens, doch eines Tages waren die in Ungnade gefallen und sie hängte stattdessen Eminem und Tupac Shakur auf (mit einem blutenden Blumenkreuz daneben). Überall lagen Mädchenzeitschriften herum, auf deren Titelseiten Fragen wie »Warum schmeckt Sperma so komisch?« gestellt wurden.

Als ob das nicht schlimm genug wäre, sind alle ihre kleinen Freundinnen beinahe identisch mit ihr und scheinen ständig damit beschäftigt zu sein, 1. in unerträglich affektiertem Ton zuckersüß miteinander zu reden, 2. über die Freundinnen, die momentan abwesend sind, herzuziehen und sie mit Vorliebe »Nutte« oder Ähnliches zu nennen.

Ich hatte gute Gründe für den Verdacht, dass meine peinliche soap-geklonte Schwester, die zu Beginn des neuen Schuljahres kaum das zarte Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte, erfahrener war als ich selbst.

»Weißt du, warum niemand mit dir Sex haben will?«, fragte sie mich bei einer Gelegenheit. »Weil du nicht richtig lächelst!« Dann erteilte sie mir eine Lektion, wie man sich bewegen muss, wie man den Kopf schief legt und wie man gucken soll.

»Du siehst aus wie ein Erdmännchen«, sagte ich.

»Big deal«, sagte sie mit affiger Stimme, spreizte die Finger und machte einen Schmollmund.

»Eins kann ich dir sagen, Sophie«, sagte ich. »Die Jungs, die auf so was abfahren, mit denen will ich auch keinen Sex haben.«

»Du hast garantiert noch nicht mal jemand geküsst«, sagte Sophie.

»Hoffentlich wirst du schwanger«, sagte ich.

Da schaute sie mich unter schweren Augenwimpern hervor an, ihre Lippen blank, als wären sie aus Glas, und dann sagte sie: »Es gibt einiges, was man tun kann, ohne davon schwanger zu werden. You know?«

In diesem Moment beschloss ich erst wieder ernsthaft mit meiner kleinen Schwester zu kommunizieren, wenn sie aufgehört hatte diese geklonte Soapdarstellerin zu sein und sich wieder in eine reale Person zurückverwandelt hatte – in hundert Jahren oder so.

Außerdem hatte ich wie alle anderen einiges an Pornofilmen im Fernsehen gesehen und sagte mir manchmal, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, ganz ohne Sex auszukommen.

Um ausführlicher aufzuzeigen, wie kleinkariert unser Familienleben zu jener Zeit war (also: bevor ich Oscar traf), kann ich nicht umhin noch weitere Einzelheiten über Sophies Verhalten anzuführen:

Eines Abends entdeckte ich, dass einer der gelungensten Cernit-Elben meiner Szenerie, Prince Scarabee, eine alberne Mütze in Form eines farbigen Kondoms mit Erdbeerduft und entsprechendem Geschmack auf dem Kopf hatte, offensichtlich aus der Sammlung der Geklonten. Mit abgeklärter Überlegenheit widerstand ich dem Impuls, in ihr Zimmer zu stürzen und ihre Popstars mit Schnurrbärten zu verschönern. Stattdessen entfernte ich nur das Kondom, tat so, als wäre nichts geschehen, machte die erfreuliche Entdeckung, dass meine Zimmertür sich auch mit dem Schlüssel der Kleiderkammer im Flur abschließen ließ, und suchte dann ein Foto aus, das ich neulich von der Geklonten gemacht hatte und auf dem sie glaubte, fast wie Cameron Diaz auszusehen. Dieses Foto manipulierte ich anschließend so im Computer, dass die unvorteilhaften Züge im Gesicht meiner Schwester ein wenig, aber nicht zu sehr, übertrieben wurden: die Nasenlöcher ein wenig stärker geweitet, die Wangen ein wenig aufgeplusteter und die Unterlippe ein wenig schlaffer herabhängend. Darunter schrieb ich mit knallrosa Schrift »Cameron Diaz« und hängte dann den Ausdruck an das Nachrichtenbrett unten im Hauseingang.

Diese kleine Aktion sorgte tatsächlich dafür, dass meine Schwester endlich aufhörte mit mir zu reden; von ihrer Seite vielleicht kein allzu großes Opfer, da sie zwei perfekt geklonte Freundinnen hatte, mit denen sie sich kichernd in ihrem Zimmer einschließen konnte. Andererseits bewirkte das, dass ich meine Sachen ebenfalls ständig einschließen musste. Das Einzige, was ihr anzustellen gelang, war, eine Tube Zahnpasta in einen meiner Stiefel auszudrücken, woraufhin eine Familienkonferenz einberufen wurde, bei der man mit ernster Miene sämtliche Verästelungen dieses Dramas zerpflückte und zerredete. (Mussten die Töchter einen tiefenpsychologischen Konflikt ausleben, der seinen Grund darin hatte, dass sie sich in der »Familie« nicht genügend respektiert fühlten, oder handelte es sich um normalen Geschwisterzank, gegen den es scharf durchzugreifen galt? Ja, benötigten die streitenden Parteien in Wirklichkeit mehr elterliche Autorität; müssten die Eltern in ihrer Rolle deutlicher sein, war die Kommunikation zwischen den Generationen zu verschwommen?)

Diese ganze Diskussion ging sowohl der Geklonten als auch mir derart auf die Nerven, dass wir versprachen unsere kindischen Spielchen zu beenden. Meine Tür schloss ich aber dennoch weiterhin ab.

»Wenn jemand Phantasie und Humor hat, das ist ja schön und gut«, hatte der Bibliothekar (unser Vater) gesagt, »aber deshalb braucht man ja nicht gleich gemein zu werden!« Und das saß. Gemein? Ich hatte mich doch bloß verteidigt. Außerdem wollte ich im tiefsten Innern nur das Beste für die Geklonte; ihre neue Identität als Barbie deprimierte mich, ich machte mir Sorgen um ihre Zukunft. Ich selbst hatte ein für alle Mal beschlossen, um keinen Preis der Welt eine affektierte weibliche Rolle zu spielen, weder als »bitch« noch als »babe«. Ich wollte mir selbst treu bleiben, auch wenn dies ewige Jungfräulichkeit zur Folge hätte.

Allmählich glaube ich, dass ich jetzt, bevor ich mit wichtigeren Angelegenheiten fortfahre, ein detaillierteres Bild der übrigen Familienmitglieder liefern muss. Here it goes:

DER BIBLIOTHEKAR

gegen den ich eigentlich nicht allzu viel einzuwenden habe. Er war und ist ziemlich harmlos. Man könnte ihn vielleicht sogar einfach als lieb bezeichnen. Allerdings habe ich den Verdacht, dass der Mutterkuchen nie richtig in ihn verliebt gewesen ist. Der einzige ernsthafte Einwand, den ich gegen den Bibliothekar erhebe, ist, dass er ziemlich oft irgendwie nicht vorhanden ist (ganz im Gegensatz zu manchen anderen Vätern, die immer die Superkumpel sein wollen und stets voller Ermunterung sind oder so sehr an einer »Kommunikation über die Generationsgrenzen hinweg« interessiert sind, dass sie ihre Töchter als eine Art Gratistherapeuten betrachten, siehe Mairas anschmeißerischen Vater). Na ja, manchmal kriegt er einen Anfall und schlägt vor, dass wir ins Kino gehen, bloß er und ich, aber das klappt fast nie. Stattdessen leiht er irgendein Video aus, das wir uns dann angucken und bei dem wir vorzugsweise Chips futtern, während der Mutterkuchen übersetzt und die Geklonte eine der anderen Geklonten besucht.

Wenn ich behaupte, der Bibliothekar sei irgendwie nicht richtig anwesend, meine ich damit, dass er sich ganz und gar in seine Hobbys Lesen und Laufen verwandelt hat. Vor allem im Winter senkt sich ein unangenehm matter Schleier über seine Augen, möglicherweise von der mangelnden Liebe des Mutterkuchens erzeugt. Außerdem muss ich gestehen, dass er, weil er eigentlich keine erkennbare Persönlichkeit hat, zu den gleichen Phantasiegeschichten einlädt wie zum Beispiel die Ken-Barbiepuppe es tut. Ich habe ihn demnach der Reihe nach folgender Vergehen verdächtigt: 1. Prostituierte zu besuchen. 2. Auf Kinderporno abzufahren. 3. Sich an mir vergangen zu haben, was ich aber vergessen oder verdrängt habe. 4. Eigentlich homosexuell oder Transvestit zu sein. Weil jemand, der im Alltag so beherrscht ist, sich doch irgendwo ausleben muss. Aber vielleicht kriegt er ja seine nötige Entspannung beim joggen. Ab und zu hat er außerdem kindische Wutanfälle, die man nur belächeln kann.

Diese sicherlich ungerechte Beschreibung muss vorerst genügen. Jetzt gehen wir lieber zu etwas anderem über, nämlich zum

MUTTERKUCHEN

Gegen den Mutterkuchen habe ich eine ganze Reihe von Einwänden, die viele meiner Freundinnen, die mich besucht haben (hm, nun ja, allzu viele waren es nicht) nicht verstehen konnten. Sie waren der Meinung, ich hätte eine interessante Mutter. »Und warum nennst du sie Mutterkuchen?«, fragen sie voller Anklage.

Nun, weil sie krankhaft auf den weiblichen Körper fixiert ist. Ich weiß nicht, wie alt ich war, als sie mir eine Abbildung des Mutterkuchens zeigte und sagte: »Ist das nicht phantastisch? Es sieht genau so aus wie ein Baum!« Und dann wollte sie einen Wandbehang weben, der den Mutterkuchen darstellte, aber nie vollendet wurde. Sie hat die Gabe, einen nervös zu machen. Sie will einem viel zu nah auf den Leib rücken und sie versprüht Unruhe und Symbiose, sie will in mich eindringen und checken, dass alles okay ist, etwas, was sie immer bezweifelt. Vor zwei Jahren ungefähr führten wir ein vertrauliches Gespräch über eine Sache, die ich ihrer Meinung nach wissen sollte. Sie habe gelesen, dass, wenn die Mutter während der Schwangerschaft sehr gestresst sei, dieser Stress sich auf das Kind übertrage. Das wolle sie mir deshalb erzählen, weil es ihr so wahnsinnig schlecht gegangen sei, als sie mich erwartete. In der Zeit habe sie nämlich eingesehen, dass ihre Doktorarbeit nichts taugte und dass sie in ihrem Leben lauter Fehlentscheidungen getroffen hatte (vermutlich meinte sie damit auch den Bibliothekar), ja, ihr ging es damals wirklich schlecht, und falls ich je das Gefühl haben sollte, ein schwieriges Naturell zu haben, könne es vielleicht hilfreich sein, zu wissen, dass ich ausgerechnet damals ausgerechnet in ihrem Bauch gelegen sei und meine Schwierigkeiten daher natürliche Gründe hätten.

Das hatte sie wahrscheinlich in einem dieser Psychologiebücher gelesen, die sie andauernd kauft. Bücher, in denen es immer um die Kunst des Liebens geht oder die Kunst der Selbsterkenntnis oder darum, das Wesen des Mannes zu verstehen, oder um Sternzeichen und wie sie zueinander passen oder um Sachen, die mit der Psyche der Frau zu tun haben – Göttinnenaspekte z. B. oder Abhandlungen namens »Wie möchte die Frau geliebt werden« oder »Der Zorn der Frauen«.

Einmal habe ich sie gefragt, ob sie und der Bibliothekar nie daran gedacht hätten, sich scheiden zu lassen. Das hat sie fürchterlich gekränkt. Wahrscheinlich ist sie der Ansicht, dass sie die Ehe mir und Sophie zuliebe aufrechterhalten hat, obwohl sie eigentlich etwas viel, viel Besseres hätte haben können. Da möchte ich mich doch am liebsten übergeben.

Der Bote

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