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2. Kapitel Was sich in Visby, der Stadt der Verdammnis, zutrug
ОглавлениеMairas Eltern verbrachten jeden Sommer ein paar Wochen in einem Haus in Visby auf der Insel Gotland. Sie teilten das Haus mit anderen Verwandten und dieses Jahr hatten sie endlich das Glück, während der Mittelalterwoche dort sein zu können. Und weil sie glaubten, Maira und ich seien immer noch »die beiden Kletten«, durfte ich mitkommen.
Vor ungefähr sieben Jahren war ich zum letzten Mal auf der Mittelalterwoche gewesen, seither hatten meine Eltern andere Dinge bevorzugt. Allerdings hatte ich schon als Zehnjährige ein sauertöpfisches, verschlossenes Naturell, daher erinnere ich mich vor allem daran, dass es mir in Visby viel zu voll gewesen war und ich die Erwachsenen albern fand. Gewiss muss es auch damals ein paar Lichtblicke gegeben haben, aber ehrlich gesagt, ist mir mein ganzes zehntes Lebensjahr als eine Art Nebel in Erinnerung geblieben, der durchlitten werden musste. Zu jener Zeit hatte ich noch keine speziellen Interessen. Spice Girls oder andere Popgruppen lagen mir nicht. Ich weiß noch, dass ich eine wachsende Anzahl scheußlicher kleiner Hunde und Hamster häkelte, vermutlich, weil ich mich nach echten Haustieren sehnte. Die konnte ich aber nicht haben, weil vor kurzem festgestellt worden war, dass sich zu den vielen lästigen Eigenschaften, die ich bereits besaß, auch noch eine Pelztierallergie gesellt hatte.
In kürzester Zeit häkelte ich eine ungeheure Menge wolliger Tiere in grellen Farben, die ich taufte und miteinander paarte. Ich führte über ihre Stammbäume und Nachfahren Buch, kleine pingelige Heftchen, die der Mutterkuchen immer noch in einer Schachtel aufbewahrt (als Monument nostalgischer Gefühle, die aus einer Zeit herrühren, als die Mutter-Tochter-Beziehung noch einfacher funktionierte, weil meine Wenigkeit noch keine spürbare Persönlichkeit entwickelt hatte).
Wie dem auch sei – da waren wir nun in Visby und endlich begriff ich, was eigentlich der Witz des ganzen mittelalterlichen Spektakels war! Es lief auf genau das Gleiche hinaus wie das Dasein meiner gehäkelten Tierchen, nämlich auf die Paarung. D. h. alle paarten sich, nur ich nicht. Ja, und dann gab es da noch etwas Wesentliches, das im Leben meiner gehäkelten Tierchen gar nicht vorkam, und das war, sich möglichst bis zum Exzess zu betrinken. Eine Tätigkeit, der ich mich ebenfalls nicht zu widmen pflegte (auch mit Drogen hatte ich nichts im Sinn, obwohl der Mutterkuchen sich manchmal einbildete, mein eigenartiges Verhalten müsse von irgendeiner Droge herrühren, die es zu ihrer Zeit noch nicht gab).
Maira und ich hatten uns zwei unglaublich mittelalterliche Kleider genäht, in die gewandet wir nun durch die Gassen zogen. Wir hatten den ganzen Sommer daran genäht und gestickt. Mairas Kleid war mitternachtsblau und meins schwarz, mit dazugehörigen Umhängen aus Synthetiksamt.
Maira hatte schon mehrmals damit gedroht, in den Tolkienverein einzutreten, obwohl sie wusste, dass mich nichts auf der Welt dazu bringen würde, dort Mitglied zu werden – denn wer will schon den Spuren seiner Väter folgen? Im Tolkienverein hatten sich meine Eltern nämlich anno 1982 unter den Namen Glorfindel und Goldberry kennen gelernt – ein schicksalhaftes Ereignis für mich und meine Schwester.
Bei mir steht Folgendes fest: 1. Keine Vereine. 2. Keine Rollenspiele. 3. Auch keine Life-Rollenspiele. 4. Kein Chorgesang. 5. Bitte, keine Schulaufführungen mehr! (Ich habe in der Achten in Ein Mittsommernachtstraum die Mauer gespielt und außerdem im Märchentunnel den Kleinen Bären mit so überzeugendem Gebrüll dargestellt, dass einer der Väter, die durch den Tunnel krochen, noch wochenlang danach einen Herzkasper hatte. Doch das ist eine andere Geschichte).
Im Übrigen neige ich nicht dazu, anthroposophische Wachskerzen zu ziehen und zu dekorieren, Federmäppchen aus Filz herzustellen, Papierlaternen zu basteln oder in Eurythmieaufführungen Herbstlaub darzustellen.
Hoppla, da bin ich aber weit vom Thema Visby abgekommen. Das hat wohl damit zu tun, dass mir immer noch leicht übel wird, wenn ich daran denke, was sich dort abgespielt hat.
Anfangs war es zugegebenermaßen gar nicht so schlecht. Wir flanierten über den Deutschen Markt und zum Turnierplatz und stellten uns zur Schau. Natürlich wurde vor allem Maira von den Jungs angemacht: Zu ihrem mittelalterlichen Gewand trug sie alte Nikesportschuhe – ein geschickter Schachzug, weil interessierte Jungs dann jederzeit das Gespräch mit der intelligenten Beobachtung eröffnen konnten, im Mittelalter hätte es aber noch keine Turnschuhe gegeben.
Maira war ziemlich wählerisch, wenn es um Jungs ging, daher wunderte ich mich etwas, als sie plötzlich Krethi und Plethi zu der Fete einlud, die wir fürs kommende Wochenende geplant hatten. Dann würden ihre Eltern zu Freunden nach Farö fahren und wir würden das Haus für uns allein haben. Zum Beispiel lud sie ein paar Angeber ein, die sie erst seit kurzem kannte und die Dudelsack und Trommel spielten, und dann noch zwei, drei unförmige Mädchen in Lodengewändern, wahrscheinlich nur, weil die garantiert hässlicher waren als sie selbst. »Bringt ruhig noch jemanden mit!«, forderte sie alle großzügig auf. »Und auch was zum Essen und Trinken!«
Am Abend dieses ersten Tages wurden wir selbst von einer Gruppe mittelalterlicher Handwerker dazu eingeladen, auf einer eiskalten Wolldecke zu sitzen und sauren Rotwein zu trinken. Ich brachte keinen Ton heraus, hockte bloß da und starrte wie eine großäugige Ratte einen der schönsten Jungen an, die ich je gesehen hatte, einen Zauberkünstler und Jongleur mit langen blonden Locken und spöttischem Gesicht. Leider sah ich auch, wie sich zwischen ihm und einer Wikingertochter von natürlicher Schönheit eine Romanze entspann. Die Wikingertochter hatte eine Haarmähne so dicht wie die von Berenike und ein Lachen so klangvoll wie Harfenspiel.
Schließlich ging ich einfach weg, mein schwarzes Herz übernahm die Kontrolle über meine halb erfrorenen Füße. In der Dunkelheit sah ich allerdings kaum, wohin ich Letztere setzte. Alle waren betrunken, überall. Auf der Brücke über dem Wallgraben standen Pagen, die übers Geländer spien. Ich spürte deutlich, wie sehr ich die Menschheit verabscheute.
Dass ein gedunsener, sternhagelvoller Typ mich mit »Goth« anpflaumte, machte die Sache auch nicht besser. »He, du Goth-Tussi«, lallte er daher.
Ich trage ja nicht deshalb Schwarz, weil ich in eine dieser Kategorien gehöre (oder überhaupt in irgendeine Kategorie!), ich finde Schwarz einfach gut. Darum muss man noch lange kein Gothic-Fan sein.
Aber wo sollte ich hin? Es war Mitternacht. Mairas Eltern würden es bestimmt nicht schätzen, dass ich Maira auf dem Turnierplatz zurückgelassen hatte, allein im Finstern auf der Decke, umgeben von schwankenden, lallenden Pagen und Rittern und selbst sauren Wein trinkend (nach dem ich bestimmt ebenfalls stank). Das Handy – das in einem extra angefertigten Samtbeutel lag, da Aucassin und Nicolette sich wohl kaum per Handy verständigt hatten – hatte inzwischen einen leeren Akku. Ich glaubte eine beginnende Blasenentzündung zu spüren. Im Holzschuppen fand ich eine stark mottenzerfressene Wolldecke, in die ich mich einwickelte, während ich auf Maira wartete.
Als sie um zwei Uhr ankam, befand sie sich in einer anderen Welt. Sie hatte einen Elben getroffen, der sie zum Abschlussfest eines Life-Rollenspiel-Camps eingeladen hatte, das weit außerhalb der Stadt lag. Das Fest fand ausgerechnet an dem Tag statt, an dem wir unsere Fete geplant hatten. Was jetzt?
»Du kannst unmöglich in Nikeschuhen zu dem Life-Camp rausfahren, die ziehen dir die Haut ab und werfen dich den Trollen zum Fraß vor«, bemerkte ich.
»Dann kaufe ich mir eben Schuhe auf dem Markt«, sagte Maira hektisch. »Oder ich geh barfuß.«
»Übrigens gab’s früher auch keinen Synthetiksamt«, bemerkte ich.
»Jetzt hör doch auf zu meckern! Dieser Junge ist ein Elbe, ich sag’s dir! Mit oder ohne Ohren!«
»Na klar doch.«
»Sei doch nicht ständig so negativ!«, beharrte sie und versprach, ich dürfe auch mitkommen.
»Ich denk ja nicht daran, in irgendwelchen Zelten rumzuliegen, Met zu trinken und peinliche Lieder zu singen. Und was ist mit dem Fest, zu dem du halb Visby eingeladen hast?«
»Aber Arri, das hier KANN ich einfach nicht verpassen, lieber schneid ich mir den Hals ab!«
»Dann musst du deine Fete eben absagen.«
»Mensch, sei doch nicht so supernegativ! Diese Sache im Camp fängt erst ziemlich spät an. Um zehn würden ein paar Gaukler mich . . . uns hinfahren. Also können wir bis dahin bei uns feiern. Und anschließend wissen die meisten bestimmt noch andere Feten, wo sie hinkönnen. Das klappt schon!«
Also überredete sie mich. Zuerst wollten wir mit diesen Krethi und Plethi, die sie eingeladen hatte, feiern, danach würden bestimmt viele zu dem Life-Camp mitkommen. Ich musste versprechen sie auf jeden Fall dorthin zu begleiten und dafür wollte sie mir ihre Original Loreena-McKennitt-Platte schenken plus den Choker mit den schwarzen Steinen und vielleicht ihre Strumpfhose aus London, die mit dem Drachenmuster. Aufräumen und sauber machen könnten wir dann am nächsten Tag, irgendwie würden wir garantiert in die Stadt zurückkommen. Der ohrenlose Elbe wohnte normalerweise in Halmstad, dies sei also die letzte Chance, am Sonntag würde er nämlich nach Hause fahren.
Doch dann passierte Folgendes: Als die Gäste im Laufe des Abends ins Haus zu tröpfeln begannen, erwartete mich der größte Schock der Woche: Der Zauberkünstler mit den langen blonden Locken tauchte auf. Ohne die Wikingertochter. Und ER SPRACH MIT MIR. (»Arri, was ist das denn für ein Name?« – »Eine Abkürzung von Arwen.« – »Aha, aber wie heißt du tatsächlich?« – »Ich heiße so.« – »Das ist doch wohl ein Pseudonym?« – »Nein, ich bin so getauft.« – »No kidding! Krass!«)
Dies vergrößerte meine Abneigung dem Camp gegenüber, zumal inzwischen Regen eingesetzt hatte. Außer Personen, die lächerlich geil auf ohrenlose Elbenknaben sind, fährt doch kein Mensch freiwillig bei Regen in durchweichte Life-Rollenspiel-Camps, die weit draußen in der Dunkelheit liegen.
»Okay«, sagte Maira beherrscht, als wir uns auf der Toilette darüber unterhielten, »du bleibst hier und sorgst dafür, dass alle sich menschlich aufführen und das Haus nicht demolieren, und ich fahr zum Camp. Der mit dem Auto wollte uns um zehn beim Kapitelhaus einsammeln.«
Unter dem großen schwarzen (mittelalterlichen?) Schirm ihres Vaters machte sie sich auf den Weg und mir wurde plötzlich mit einem gewissen Schauder klar, dass ich jetzt eine Verantwortung für das Haus trug. Und falls ich alle zum Gehen aufforderte, würde der Zauberkünstler ebenfalls verschwinden. Ich konnte ihn ja schlecht bitten zu bleiben, wenn alle andern sich verabschieden mussten; so weit war es dann doch noch nicht gediehen.
Nun hatten aber die infernalischen Weber am Webstuhl des Schicksals noch eine Überraschung für mich parat: Simsalabim – und plötzlich steht die Wikingertochter da und will zu ihrem Zauberkünstler eingelassen werden! Sie hat nämlich bis jetzt an einer Tanzaufführung teilgenommen! In ihr goldenes Haar hat sie Rosen gesteckt. Ich lächle liebenswürdig und lasse sie eintreten, während ich mich auf der Stelle in einen Mutanten verwandle, zu gleichen Teilen aus enttäuschtem Kleinkind und Pitbullterrier bestehend. Die Wikingertochter marschiert schnurstracks auf den schönen Zauberkünstler zu und führt den Beginn der Schlafzimmerszene aus Romeo und Julia auf.
Und was tue ich, Arri, die Tüchtige? Nun, alles verflüchtigt sich aus dem Kopf der tüchtigen Arri, alles bis auf die große Trauer (an die ich mich eigentlich schon gewöhnt haben müsste, weil alles immer in ihr zu münden scheint).
Ich hätte erwähnen müssen, dass sich in dem Haus eine gewisse Anzahl Flaschen mit alkoholhaltigem (in mehreren Fällen sehr alkoholhaltigem!) Inhalt befand. Schau an, Arri trinkt Schnaps! Schau an, Arri trinkt noch mehr Schnaps! Schau an, Arri schert sich den Teufel um den ganzen Quatsch und schläft stockbesoffen auf dem groß geblümten Bettüberwurf im Bett von Mairas Eltern ein! Und, schau an, schau an, natürlich wacht Arri am Vormittag in einem leeren, unverschlossenen Haus auf und ihr ist speiübel!
Und das Ganze wurde auch nicht davon besser, dass 1. der Glastisch vor dem Sofa zerbrochen war, 2. das Sofa und der Teppich vor Wein und Chips klebten und das ganze Zimmer wie ein Saustall aussah, 3. es sich später herausstellte, dass aus der Schublade im Eingangsflur Geld, aus dem Regal im Zimmer Videokassetten und aus dem Badezimmerschrank Schmuck geklaut worden waren.
Maira kam mit Knutschflecken am Hals zurück, besah sich das Chaos und machte mich für alles verantwortlich, worauf ich sowohl traurig als auch wütend wurde. Außerdem verbot sie mir ausdrücklich zu erwähnen, dass sie diejenige gewesen sei, und zwar sie ganz alleine, die einen Haufen Leute eingeladen hatte, um sich dann einfach aus dem Staub zu machen.
Aber weil ich mich nicht wie eine gekuschte Ratte fühlen wollte, erzählte ich Mairas Eltern als Erstes, dass sie genau das getan hatte. Mairas Version – die wir gemeinsam hätten auftischen sollen – lautete dagegen, wir hätten nur ein paar wenige ausgesuchte Freunde eingeladen, dann sei aber ein eifersüchtiger, betrunkener Freund mitsamt Spießgesellen aufgetaucht und habe den wilden Mann gespielt. Maira dachte sich das Ganze blitzschnell aus: Der unidentifizierbare ehemalige Freund eines der sittsamen Mädchen, die an unserem Kinderfest teilnahmen, sei ein Deutscher namens Hans (oder vielleicht Wolfgang?) gewesen und inzwischen sei er spurlos verschwunden. Außerdem sei er schwarz geschminkt gewesen und seine ehemalige Freundin wisse nicht einmal, wo in Deutschland er überhaupt beheimatet sei. (Vermutlich hatte er sich in voller Rüstung auf den Glastisch gesetzt und zornentbrannt mit der Hellebarde Chipstüten gespalten.)
Wie gesagt – ich berichtete Mairas Eltern den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, worauf mich Maira kurzerhand exkommunizierte. Ich hatte auch noch angeboten die entstandenen Schäden mit meinen mageren Ersparnissen zu beheben, doch die Eltern waren der Ansicht, die Hauptschuldige sei vor allem Maira. Dieser Ansicht war ich ehrlich gesagt auch.
Was keineswegs verhinderte, dass ich Maira seither vermisste.
Ja, so war das also. Das heißt natürlich nicht, dass ich mich in Gedanken unablässig mit Maira und ihrem Verhalten beschäftigte. Ich hatte nicht einmal versucht mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich fand, es sei ihre Sache, einzusehen, dass ich unschuldig war.
Wie der aufgeweckte Leser gewiss schon ahnt, mangelte es mir nicht an Fähigkeiten, mich allein zu amüsieren. Natürlich müsste ich jetzt endlich auf die Ereignisse des ersten Schultages zu sprechen kommen, aber um meine Persönlichkeit noch eingehender zu beleuchten und um anzudeuten, wie meine Gemütsverfassung war, bevor das eigentliche Drama sich entfaltete, möchte ich vorher noch zwei Texte anführen, die zum Inhalt des verschlossenen Schreins gehören und ungefähr zu jenem Zeitpunkt im Herbst entstanden sind.
Der erste ist mit roter Tinte auf hellgrauem Papier geschrieben: