Читать книгу Der Bote - Inger Edelfeldt - Страница 8
Оглавление3. Kapitel
Die Zeit der Wunder ist möglicherweise noch nicht vorbei
Das Gefühl, eine kleine Rotznase zu sein, die zu einer Skitour gezwungen worden ist, hielt an. Ich fühlte mich wie in einem nicht endenden Alptraum, als ich an jenem ersten Schultag im Klassenzimmer saß. Wenn mir alles wirklich zuwider ist, höre ich manchmal auf zu atmen und merke es erst, wenn ich fast ohnmächtig werde. So schlimm war es auch diesmal. Ich musste mich zum Atmen zwingen, damit das Klassenzimmer nicht zu kreisen begann und ich unnötige Aufmerksamkeit auf mich zog, indem ich vom Stuhl kippte.
Wir hatten eine neue Klassenlehrerin. Unsere alte, von mir geschätzte Lehrerin hatte Mutterschaftsurlaub. Die neue hatte eine Namensliste, auf der ich als ARWEN Björklund verzeichnet stand. Ich weiß nicht, was ich mit diesem Namen anfangen soll. Inzwischen wissen die meisten wenigstens, woher er kommt.
Trotz meiner jämmerlichen Verfassung gelang es mir, darauf hinzuweisen, dass ich Arri genannt werde, aber die Neue zwitscherte einfach drauflos, wie schön dieser Name sei und wie sehr sie die Bücher liebe, in denen meine Namensschwester vorkomme (ja, inzwischen gibt es mich ja sogar als Plastikfigur).
Ich fing einen Blick von Maira ein, der unverhohlene Verachtung ausdrückte. In der Pause konnte ich trotz all meiner Vorsätze nicht umhin, ihr eine SMS zu schicken: »Können wir nicht wenigstens miteinander REDEN?«
Sie simste zurück: »ARTUR.«
Ich wusste, was das bedeutete. Sie hatte früher mal einem Jungen, auf den sie sauer war, per SMS mitgeteilt, was sie von ihm hielt, doch das wohlerzogene, kleine Hühnerhirn des Handys kannte dieses Wort nicht und machte »ARTUR« daraus.
»ARSCH«, bedeutete das. Nie hätte ich geglaubt, dass dieses Wort mich bezeichnen würde.
Obendrein mussten alle natürlich zu mir herkommen und fragen: »Hast du dich mit Maira verkraaacht?«
Als ob das nicht genug wäre, würde unsere erste Epochenarbeit sich mit sphärischer Trigonometrie befassen, ein Thema, das mich kaum zum Jubeln brachte.
Arsch Arwen Artur machte das einzig Wahre, sie wartete, bis sie Migräne bekam, und verließ die Schule nach der Mittagspause.
Die klägliche, kleine Rotznase trottete die Straße hinunter und warf einen zufälligen Blick auf den Hof vor dem Freizeitheim der Schule. Und dann geschah es. Ich sah . . . ja, wie soll ich ihn nennen? Alles wird unbedeutend im Vergleich, es gibt Sachen, die lassen sich nicht beschreiben. Nicht dass ich nicht beschreiben könnte, wie er aussah: eine schmale, schwarz gekleidete Gestalt, blass, ohne geschminkt zu sein. Dunkle Augen, schmale schwarze Augenbrauen (zugegeben, die waren wahrscheinlich geschminkt). Ich glaube, er trug ein schwarzes Samthemd. Seine Haare waren auch schwarz, lang und gerade. Sie flatterten im Wind. Er hatte silberne Ohrringe und um den Hals auch etwas Silbernes (was, das erfuhr ich später). Und ich weiß nicht, warum, aber als ich vorbeiging – vermutlich stand mir das Wort »suizidal« auf die Stirn geschrieben –, lächelte er, und das war das wundervollste, persönlichste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Als wüsste er etwas über mich, und zwar augenblicklich. Als würde er etwas sehen, was alle anderen nicht entdeckten.
Und dann war ich vorbeigegangen. Kein Wort hatte er gesagt.
Am liebsten hätte ich kehrtgemacht, doch das ging natürlich nicht. Ich wagte nicht einmal einen Blick über die Schulter zu werfen. Ich weiß nicht, wovor ich Angst hatte – vielleicht davor, in Stücke zu zerspringen. Aber sein Bild blieb mir vor meinem inneren Auge. Dort verwahrte ich es wie in einer mit Edelsteinen verzierten Schatztruhe, dort stellte ich es auf einen Altar und zündete kostbaren Weihrauch davor an. Und ich schrieb mit Goldstift auf rotes Papier:
DER ABGESANDTE
Wie lange hat das Wunder gewährt? Das Wunder: sein Lächeln, das mir galt. Als würde er mich wirklich sehen, direkt in die Tiefe meiner Seele blicken. Als würde er meine Seele berühren. Ein magischer Akkord, der alle Schlösser öffnete.
Wer ist er? Ist er gesandt worden, um mich zu retten? Hat eine unbekannte Macht irgendwo beschlossen mir mitzuteilen: Das Leben muss nicht wie eine unfreiwillige Skitour sein. Es gibt auch andere Dimensionen.
Er stand wirklich da, wie aus einem meiner Träume getreten.
Daher tanzte ich an diesem ersten Schultag dieselbe Straße hinunter, die ich mich zuvor hinaufgeschleppt hatte. Und ich tanzte den ganzen Weg nach Hause zu meiner besorgten Mutter, die seufzend am Schreibtisch saß und ein Buch über Schlangen übersetzte.
Und sie sagte: »Was ist denn mit dir los?«
Und ich sagte: »Ich hab Migräne«, und schloss mich mit Lisa Gerrard in meinem Zimmer ein. Die Mutter hämmerte an die Tür und sagte: »Du hast überhaupt keine Migräne, dann würdest du nämlich keine Musik hören!«
Also holte ich tief Luft und ließ sie gegen besseres Wissen herein.
»Was ist denn mit dir?«, fragte sie. Und dann sah sie mich lange an und sagte: »Sehr eigenartig, aber ich glaube tatsächlich, dass du froh aussiehst. So froh wie schon lang nicht mehr.«
Das war ja einfühlsam. Vor lauter peinlicher Rührung hätte ich fast losgeheult. Aber ich hatte wirklich keine Lust, ihr zu verraten, warum. Es war einfach zu groß. Stattdessen versprach ich ohne jegliche Überwindung am nächsten Tag und an allen anderen Tagen zur Schule zu gehen.
Am nächsten Tag jedoch schaute er mich nicht an – alas! Er lächelte mir nicht zu. Er stand da und unterhielt sich ausgesprochen intim und engagiert mit einem Mädchen aus der Zwölften, die Amanda hieß und sehr proper aussah. Mir wurde außerdem klar, dass ich ihn schon früher gesehen hatte; er hatte sich im Laufe des Sommers nur grundlegend verändert. Ich fand ihn im Jahrbuch vom vergangenen Schuljahr; hübsch zwar, aber keineswegs exotisch. Jetzt war er ein ganz anderer. Nur sein Name war gleich geblieben: Er hieß Oscar Axelsson.
Obwohl ich einsah, dass es besser wäre, ihn ganz und gar zu vergessen, fügte ich noch einiges auf dem roten Bogen hinzu:
Ich habe nie mit ihm gesprochen und doch ist es, als würden wir uns kennen. Als könnte ich ihn an die Hand nehmen und mit ihm in die tiefste Tiefe wandern.
Als könnte ich ihn in alles einweihen, was ich denke und fühle. Sowohl in alles Helle als auch in alles Grausame. In all die unterschiedlichen Räume und Zeitalter. In die magischen Gärten, die unterirdischen Reiche. In alles, was eine uralte Seele enthalten kann.
Gleichzeitig war es ja extrem schwierig, diese Amanda zu ignorieren. In den folgenden Tagen sah ich ihn so oft in ihrer Gesellschaft, dass ich umgehend in eine totale kohlpechrabenschwarze Depression versank.
Und genau in dieser ersten, von Hoffnungslosigkeit geprägten Zeit wachte ich eines Nachts mit dem deutlichen Gefühl auf, beobachtet zu werden. Die Dunkelheit erschien mir irgendwie geladen, als würde jemand mich suchen. Vom Bett aus blickte ich ins Zimmer und aus irgendeinem Grund jagte der Spiegel mir Angst ein. Mir war, als würde er auf neue, seltsame Weise schimmern, fast so, als wäre er eine Art Bildschirm, der eine Eingabe erwartet. Was für eine Eingabe denn?, dachte ich und wurde von plötzlichem Schreck durchzuckt. Einer Panik nahe machte ich Licht, und als der Wecker mich weckte, brannte es immer noch.
Und dabei hatte ich mir eingebildet, ich könnte mich nie mehr vor der Dunkelheit fürchten.