Читать книгу Der Beschützer - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 5
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ОглавлениеFranki mochte keine Kirchen. Sie hatten etwas Strenges an sich, etwas Hartes, Abstoßendes. Außerdem war da etwas mit dem Geruch, ein gedämpfter, mit Kalk gesättigter Geruch ohne jede Andeutung von Gefühlen. Sobald er unter diese Kuppeln trat, fühlte er sich klein, als würden sie sich über ihn senken und ihn einfangen. Wie bei einer Mausefalle, kam ihm in den Sinn, eine Mausefalle.
Seiner Mutter sagte er davon nichts.
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich habe keine Zeit.«
Sie hatte Karten für ein Konzert bekommen. Mozarts Requiem. Sie hatte sie von einer Kundin geschenkt bekommen, und es waren gute Plätze, in der Storkyrkan, ganz vorn. Sie bat ihn, doch mit ihr hinzugehen, es sei so erbärmlich, allein zu gehen.
»Wieso erbärmlich?«
»Ach, du verstehst schon, was ich meine.«
Doch ja, er verstand es.
Schließlich versprach er doch mitzukommen.
Das war im Dezember gewesen. Draußen in den Vororten hatte grauer, schmutziger Schnee gelegen. Als er zur U-Bahn ging, wäre er fast an einer vereisten Stelle ausgerutscht, der Schmerz schoss ihm hoch bis ins Rückgrat.
Mutter wartete vor dem Kiosk auf ihn. Sie trug einen dunkelbraunen Pelz und einen Hut mit einem kleinen Schmuck daran. Sie sah sonderbar fremd aus. Aus der Handtasche zog sie das Geld. Sie gingen zur Sperre.
»Zweimal bis Gamla stan«, sagte sie, und ihre Stimme war ruhig und kräftig. Sein Gefühl der Unlust verging.
Der Zug stand mit geschlossenen Türen am Bahnsteig. Sie gingen zu einem der mittleren Wagen. Franki drückte auf den Türöffner, und die Türen glitten auseinander. Mutter setzte sich ans Fenster. Er selbst blieb eine Weile stehen, tat so, als schaute er sich den Anschlag mit dem Streckennetz an. Als der Zug anfuhr, machte er ein paar unsichere Schritte und sank auf dem fleckigen Sitz ihr gegenüber nieder. Jemand hatte etwas mit einem schwarzen, dicken Filzschreiber darauf geschmiert.
Sie betrachtete ihn. Ihre Augenlider waren grün, der Mund gerade und rot.
»Letzte Woche bin ich mit dem neuen Zug gefahren«, sagte sie mit langsamer, fast eifriger Stimme. »Am Mittwoch war das. Ich wollte in die Stadt. Bist du schon mal mit dem neuen Zug gefahren, Franki, ja?«
Er schüttelte den Kopf.
»Aber ich. Das war richtig schön. Es war am Mittwoch, als ich mich mit Mimi getroffen habe. Da bin ich mit einem gefahren. Wie leise der ist. Und so sauber und schön. Und an jeder Haltestelle rufen sie den Namen durch Lautsprecher aus, so deutlich, dass es alle verstehen können. Und vorher kommt immer eine kleine Melodie, das ist einfach schön.«
»Haben sie euch auch noch was zu trinken angeboten?«, bemerkte er trocken.
»Nein. Aber es war so eine Art Zugbegleiter dabei.«
»Ach. Und was hat der gemacht?«
»Nichts. Stand nur so da. Für die Sicherheit. Falls was passiert, nehme ich an.«
»War er hübsch? Bist du scharf auf ihn gewesen?«
»Aber Franki!«
Er schwieg und starrte aus dem Fenster. Sie kamen gerade an Johannelund vorbei, der einzigen Haltestelle mit dem Bahnsteig auf der anderen Seite.
Mutter erzählte weiter.
»Du solltest auch mal mit einem fahren, Franki, dann wirst du schon sehen.«
»Ja, ja, das werde ich sicher irgendwann mal tun.«
Sie beugte sich vor, legte einen Finger auf sein Knie. Sie roch gut, ein Frauenduft nach Puder und fetten Cremes.
»Es ist lieb von dir, dass du mitkommst.«
Und dann sagte sie noch einmal:
»Es ist irgendwie so ein erbärmliches Gefühl, wenn man allein kommt.«
Er hob seine Hand, legte sie auf den pelzgekleideten Arm. Machte Scherze.
»Obwohl – sehr erbärmlich siehst du nun nicht gerade aus. Das kann man kaum behaupten. Und wenn jetzt so ein militanter Vegetarier kommt und dich mit roter Farbe bespritzt. Was machst du dann?«
»Ach, das ist doch nur Imitation.«
»Was für eine Imitation?«
»Imitierter Pelz. Kunstpelz. Sie hatten ihn im Sonderangebot in einem kleinen Laden in der Drottninggatan. Im letzten Frühling, die wollten wohl ihr Lager räumen. Ich habe ihn für fünfhundertneunundneunzig Kronen gekriegt.«
»Ach so.«
»Wovon sollte ich mir denn einen richtigen leisten können? Spinnst du, Junge, der kostet doch mindestens zwanzigtausend.«
»Auf jeden Fall sieht man das nicht, der sieht ganz echt aus.«
Sie lächelte ihn an, auf ihren Wangen zeigten sich unzählige kleine, weiche Fältchen.
Aber plötzlich wurde er ganz unruhig.
»Geh nur nicht zu nahe an etwas Brennbares. An Kerzen oder so. Wie der aussieht ... Der wird in null Komma nichts in Flammen aufgehen.«
Wieder lachte sie.
»Du bist wirklich süß, Franki!«
Er bekam den Namen Franki, nach Frank Sinatra. Der war das Idol seiner Mutter. Er war noch irgendwie anders getauft worden, aber niemand benutzte den Namen, nicht einmal, als er noch ein Kind war und daheim auf dem Hof in Hässelby spielte. Franki hieß er. Franki ohne ›e‹ am Ende, ins Schwedische übertragen, damit es passte. Das Idol seiner Mutter, ihr Leben lang.
Er war hoch gewachsen und ein kräftiger Mann, der dick wirken würde, wenn er nicht so viel Zeit mit Bodybuilding verbrächte. Fast alles war groß an ihm, die Ohrläppchen, die Lippen und die gekrümmte Falte zwischen den Augenbrauen. Das Haar trug er kurz, aber nicht rasiert, er war sich seiner Würde wohl bewusst und wollte nicht mit Skinheads oder anderem Gesindel verwechselt werden. Mit dem Abschaum der Gesellschaft.
Sie stiegen in Gamla stan aus und gingen durch den unterirdischen Gang. Ein Mann mit einer Pudelmütze saß in der Hocke und zupfte an einem Saiteninstrument. Am Aufgang stand ein Typ mit einem Packen Zeitschriften.
»Situation Stockholm! Unterstützt uns! Kauft die Zeitschrift der Obdachlosen!«
Das war unangenehm, Franki wusste nie, in welche Richtung er gucken sollte. Die Leute bettelten und drängten sich auf. Sie erzeugten jedes Mal Schuldgefühle bei ihm.
»Ich bin arbeitslos«, fauchte er manchmal. »Ich habe selbst kaum Geld fürs Essen.«
Dann starrten sie ihn jedes Mal an, als wären sie es nicht gewohnt, angesprochen zu werden. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und gingen ein paar Schritte weiter.
Mutter hakte sich bei ihm ein, und sie suchten sich ihren Weg durch die schmalen Gassen zum Stortorget. Er spürte, wie er fror. Ganz intensiv bereute er in diesem Augenblick, mit ihr gegangen zu sein.
Der Geruch war der gleiche, genau wie er ihn in Erinnerung hatte. Ein Mann im schwarzen Anzug kontrollierte ihre Eintrittskarten. Er machte eine Geste zum Mittelgang hin. Sie fanden ihre Plätze, zwei Stühle mit gepolsterten Sitzen, nebeneinander, fast ganz vorn. Mutter setzte sich auf den inneren.
»Du mit deinen langen Stelzen«, flüsterte sie. »Du brauchst ja Platz, um dich auszustrecken.«
Ein hohes Stativ mit einem Mikrofon stand im Gang, dicht neben ihnen. Er musterte es. Die Füße des Stativs waren mit rotweißem Klebeband an den Boden geklebt. Er dachte an Absperrungen. Dann stellte er fest, dass etwas auf dem Band stand: »baggage« und die Worte »American Airlines«. Er wunderte sich noch über diese Beschriftung, als die Musik plötzlich dröhnend sein Ohr erreichte. Betörend und ganz nah.
Wann war er das letzte Mal in der Kirche gewesen? Doch, ja. Bei Vaters Beerdigung. Er erinnerte sich nicht mehr an das Datum, nicht an das Jahr. Aber es hatte die Nacht zuvor geschneit, und die Sohlen seiner Schuhe waren rutschig wie auf Seife gewesen. Er war nicht mehr sicher gewesen, wann er da sein sollte. Als er zur Kirche kam, wurde gerade der Sarg aus dem Auto geholt. Aus einem silbernen Wagen. Er hatte gedacht, er müsste schwarz sein.
Der Sarg stand auf einem dünnen, klapprigen Metallgerüst. Franki trat hinzu und stellte sich vor.
»Wir sind uns ja schon begegnet«, sagte einer der Männer, und da fiel ihm das Beerdigungsinstitut ein.
Der Sarg war braun, hatte kleine Füße. Unter dem Deckel lag sein Vater.
»Wir müssen das nur noch ein bisschen in Ordnung bringen«, sagte der Mann vom Bestattungsinstitut. »Das dauert eine Weile. Aber noch ist es ja nicht so weit. Erst in ein paar Stunden.«
Franki musste reingehen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Außerdem musste er dringend pinkeln. Der Mann vom Bestattungsinstitut versperrte ihm den Eingang.
»Wollen Sie mit reinkommen?«, fragte er und seine Augenbrauen waren dunkel und hochgezogen. »Während wir alles vorbereiten, meine ich.«
»Nein, nein«, wehrte er schnell ab.
Er war hinter die Kirche gegangen und hatte dort gepinkelt. Als er den Reißverschluss seiner Hose hochzog, hörte er ein Kichern. Zwei quietschbunte Kindermützen tauchten hinter einem Stein auf. Er starrte gegen die Kirchenmauer, dachte sich, dass es zu glatt war, um hinterherzulaufen.
Eine kräftige, durchdringende Frauenstimme durchschnitt den Raum. Franki hob den Kopf. Die Mutter wandte sich ihm zu, zeigte mit einem langen, rot lackierten Fingernagel auf den Programmzettel. Er las einen Namen. Sah seine Mutter an. Sie spitzte die Lippen, formte lautlos den Namen.
»Waltraut Engen!«
Die singende Frau sah noch jung aus, ihr Hals war dünn und gepudert. Eine Kette mit einer hellblauen Perle hing darum. Franki musste an einen Wassertropfen denken.
Dann erkannte er sie plötzlich wieder. Die kleine Waltraut. Sie war die Schwester von einem der Jungs. Sie war die Schwester von Engen, von Mats Engen.
Sie hatten daheim bei Mats am Küchentisch gesessen und Eishockey gespielt. Sie hatten weiche Brotscheiben gegessen, die sie zunächst mit Margarine bestrichen und dann mit Zucker und Vogelfutter bestreut hatten. Etwas bewegte sich im Flur, Mats’ Vater stand plötzlich in der Tür. Es knirschte unter seinen Schuhen, er hob einen Fuß und starrte sie an.
»Was macht ihr denn da?«
»Nichts, wir machen es uns nur gemütlich.«
»Habt ihr das Futter der Vögel genommen?«
Mats wurde ganz rot im Gesicht.
»Wir wollten das mal probieren ...«
»Und – schmeckt es gut?«
»Oh ja?«
»Dann passt nur auf, dass euch keine Federn am Hintern wachsen!«
Mats saß da und hielt den Torwartschläger in der Hand, war aber nicht richtig bei der Sache. Franki schoss den Puck.
»Tor!«, sagte er leise.
Mats’ Vater sagte:
»Ich habe Mama abgeholt. Du kannst jetzt kommen und deine kleine Schwester angucken.«
»Du«, sagte er. Nicht »ihr«. Franki stand dennoch auf. Sie gingen ins Wohnzimmer, die Gardinen waren vorgezogen, kein Licht angeknipst. Mats schaltete die Deckenlampe ein. Da sahen sie seine Mama halb auf dem Sofa liegen, in Mantel und Kopftuch. Sie war verändert, er wusste aber nicht genau, wieso. Auf dem Teppich stand ein hellblauer Babysitz. Mats’ Papa öffnete ihn, kniete sich mit seiner guten Hose hin. Ein leises Piepsen ertönte aus dem Sitz. Franki dachte an die Katzenjungen in der Scheune von Riddersvik.
Mats’ Papa hob die neugeborene Schwester hoch. Sie war ganz rot im Gesicht, ihre kurzen Arme ruderten.
»Sie hat wohl Hunger«, erklang es matt vom Sofa.
Mats’ Papa stand auf, hielt Mats das Kind hin.
»Das ist deine Schwester«, sagte er. »Das hier ist Waltraut.«
Was für ein hässlicher Name! Ja, was für ein hässlicher Name.
Es dauerte eine Weile, bevor er sie wiedersah. Es wurde ihnen gesagt, sie sollten lieber draußen spielen, Mats’ Mama sei müde, und es ginge ihr nicht gut. Manchmal weinte die Schwester, dass es bis auf den Hof hinaus zu hören war.
Mit der Zeit wurde sie ein hässliches, nerviges Kleinkind, das überall mit dabei sein wollte. Voller roter Flecken im Gesicht. Sie schlichen sich von ihr fort, sperrten sie zu den Schuhen in die Garderobe ein. Sie petzte natürlich, und ihr schmales Gesicht strahlte, wenn ihre Mutter die Jungs ausschimpfte.
Wann hatte er sie das letzte Mal gesehen? Als sie konfirmiert wurde? Franki konnte sich nicht mehr erinnern. Als erwachsene Frau jedenfalls nicht.
Er betrachtete sie blinzelnd, sie stand mit halb geschlossenen Augen da. Wie konnte sie nur so hoch singen, wo sie doch so dünn, platt und ohne jegliche Form war. Sängerinnen, die stellte er sich dick und mit Brüsten wie eingezwängte Würste vor.
Waltraut Engens Hände waren schmal und geballt. Er sah im Gegenlicht ihr Kinn, er sah einige abstehende Haarsträhnen. Als der Chor sang, machte sie eine halbe Drehung und trippelte zu ihrem Stuhl. Mutter deutete auf sie.
»Hast du sie wieder erkannt?«, flüsterte sie.
Er nickte mit zusammengekniffenem Mund.
»Wir hätten vielleicht eine Blume mitnehmen sollen!«
Die Leute um sie herum warfen ihnen böse Blicke zu. Franki wünschte sich, dass seine Mutter aufhöre zu flüstern, dass sie sich einfach wieder zurücklehnte und die Augen schlösse. Aber sie beugte sich stattdessen nach links vor, um Waltraut sehen zu können. Die junge Frau saß mit dem Gesangbuch auf dem Schoß da. Sie hielt den Kopf gebeugt, schweigend und in sich verschlossen. Er überlegte, dass sie sich sicher auf ihren nächsten Einsatz vorbereitete.
Er hob den Blick und betrachtete die großen vergoldeten Kronen, die über ihnen hingen, gehalten von fliegenden Engeln. Wie lange schwebten die schon so da? Wie viele Jahre oder Jahrhunderte mit ausgestreckten, stützenden Armen. Er ließ seinen Blick dort oben ruhen, um nicht von der Sängerin verunsichert zu werden, ihre Nähe beunruhigte ihn auf eine vage, bohrende Art.
Sie hatten sich über ihren Namen gewundert und zunächst Probleme gehabt, ihn auszusprechen. Aber mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt. Sie war nie der Typ von Kind gewesen, der Spitznamen an sich zieht, nein, es blieb bei Waltraut – ohne jede Abkürzung. Mats’ Vater war Opernfan. Er hatte ein ganzes Zimmer nur für die Musik, an den Wänden Samttapete, darin Röhrenverstärker, einen Sessel, dessen Rücken man verstellen konnte. Dort schloss er sich abends ein, blieb stundenlang da drinnen. Aber manchmal öffnete er die Tür und lud ein einzutreten. Niemand wagte Nein zu sagen.
»Wollt ihr ein wenig mithören, Jungs?«, fragte er und zog sie über die Türschwelle.
Die Lautsprecher standen in den Ecken. Sie waren groß wie Kindersärge. Er strich über das glatte braune Holzgehäuse.
»Wollt ihr was hören, Jungs? Wollt ihr wirklich schöne Musik hören?«
Mit wirklich schöner Musik meinte er Wagner. Den Ritt der Walküren und Rienzi. Sie mussten dort stehen und zuhören. Seine Tochter sollte eines Tages in der Oper singen. Das war so vorherbestimmt, und es stellte sich heraus, dass Waltraut tatsächlich eine ganz reine und gute Stimme hatte. Sie kam in die Musikklasse, danach sahen sie sie kaum noch.
Es war vorherbestimmt. So war es.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass sie von ihrem Stuhl aufstand und ins Licht trat. Direkt vor ihm stand sie, der Mund glänzte, sah irgendwie klebrig aus. Franki sah, wie sie atmete, Anlauf nahm und die Luft einsog. Sekunden bevor sie anfing zu singen, richtete sie ihren Blick direkt auf ihn. Sie erkannte ihn wieder. Ihm schien, als lache sie.