Читать книгу Der Beschützer - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 8

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Johnny Karlsson taten alle Glieder weh. Er hatte das Gefühl, als wäre eine Erkältung im Anzug. Er war morgens direkt nach Hause gefahren und ins Doppelbett geschlüpft, das von Lottas Körper noch warm war. Sie machte das Bett nie, wenn er nachts gearbeitet hatte, stopfte nur die dicke Daunendecke fest, sodass die Wärme sich drin halten konnte. Manchmal lag ein eilig geschriebener Zettel auf seinem Kopfkissen. »Küsschen, ich liebe dich.«

Aber nicht an diesem Morgen.

Sie war vor einer halben Stunde gegangen. Die Kinder waren in der Schule. Das Haus war leer. Er suchte im Badezimmerschrank nach Lottas Sobril, fand aber keine, nur die Folienpackung mit den Antibabypillen. Er nahm zwei Fiebertabletten und kroch ins Bett. Es pochte wie von Fieber hinter seiner Stirn. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, kam die Nacht zurück. Engen, der da im Schnee lag, seine weißen, von der Trockenheit aufgerissenen Lippen.

Und dann Almis. Ohne Helm. Die Atemmaske herunterhängend, schaukelnd wie ein Jojo, als sie ihn trugen.

Er war tot. Da gab es keinen Zweifel.

Der Feuerwehrmann Stefan Almgren, sein Kollege seit elf Jahren, war nicht mehr am Leben.

Johnny drehte sich auf den Bauch, als ob er sich nicht in der gleichen Position wie der tote Stefan Almgren befinden wollte, die Toten liegen immer auf dem Rücken, den Mund offen. Es war schwarz von Ruß um seine Nase gewesen, das typische Zeichen für Rauch in der Lunge, der Rußkuss des Todes.

Almis. Er musste in Panik geraten sein.

»Wir werden drüber reden, wenn wir zurück auf der Wache sind«, hatte LB, der Gruppenleiter gesagt. Immer ganz cool und unberührt. Als ob es darum ging, die Sauerstoffflasche bei einer Uniform auszutauschen.

»Nein«, hatte Johnny erwidert. »Ich fahre nach Hause und hau mich aufs Ohr. Mir steckt ’ne Grippe in den Knochen.«

Wo war Almis jetzt?

Vermutlich in irgendeinem Untersuchungszimmer im Södersjukhuset. Frisch gewaschen von Krankenschwesternhänden. Mit irgendwelchen blöden Rosen auf der Brust. Friedlich. Als schliefe er. Er sollte nicht schlafen. Das war ungerecht. Almis war jung. Er sollte vielmehr leben.

Und LB würde anrufen, das gehörte zu den Aufgaben des Gruppenleiters. Oder wohl eher hinfahren. Zu den Angehörigen. Wenn er es schaffte. Vielleicht mussten es auch welche von der Polizei übernehmen. Die waren das eher gewohnt.

Eine blöde Geschichte fiel Johnny dabei ein. Von dem Priester, der eine Todesnachricht überbringen sollte. »Entschuldigen Sie, sind Sie die Witwe Almgren?« »Die Witwe? Nein.« »Oh doch. Wollen wir wetten?«

Nein, verdammt noch mal. Almis lebte ja in Scheidung. Maria war abgehauen. Maria mit dem großen Busen.

Johnny fror. Er hatte sich nur in Unterhose hingelegt, jetzt musste er aufstehen und etwas Warmes suchen. Die Wolldecke aus Gotland hing über dem Bettpfosten, er setzte sich auf, zog sie zu sich heran, rollte sich wie eine Puppe darin ein. Zog die Bettdecke und die Wolldecke über sich und kroch noch tiefer darunter.

Seine Mutter hatte es so gemacht, wenn er fror, als er noch klein war. Filzhöhle hatte sie es genannt. Nach einer Weile wurde man darin immer warm, klebrig heiß und verschwitzt. Dann musste man alles von sich werfen und sich abkühlen.

Engen war aus der blauen Tür herausgekommen, nein, er war herausgestürzt, direkt Tuborg in die Arme gefallen. Der hatte ihm geholfen, die Maske abzuziehen.

»Stefan«, hatte er gemurmelt, mit heiserer, fremder Stimme. »Stefan ist noch drinnen und ich weiß nicht, wo er ist.«

Stefan. Niemand benutzte den Namen. Alle sagten nur Almis. Bald kam Verstärkung. Und Almis’ Körper wurde herausgetragen. Er hatte sich die Maske abgerissen. War wohl in Panik geraten. Johnny hatte das selbst schon erlebt. Genau dieses Gefühl der Kapitulation. Ich gebe auf, scheiße auf alles. Aber es war was anderes, das dann wirklich zu tun. Schließlich hatte er Lotta und die Kinder. Sie waren es wert, für sie den Kampf aufzunehmen. Und was hatte Almis, seit es Maria nicht mehr gab? Nicht den geringsten Dreck.

Als er an Maria dachte, packte ihn die blanke Wut. Es schnürte ihm fast die Kehle zu. Er sah sie vor sich, sah, wie ihre hundeähnlichen Augen sich mit Tränen füllten, wie sie sich gegen die Wand warf und heulte, als sie die Todesnachricht erhielt. Wie sie zusammenbrechen würde und alles bitter bereuen. Aber jetzt war alles zu spät. Wie sehr sie es auch bereute und wie gern sie alles ungeschehen machen würde – Almis war tot.

Er erinnerte sich an ein Fest, das sie unten im Partykeller der Feuerwache gefeiert hatten. Einige hatten ihre Frauen mitgebracht. Almis war einer davon. Lotta war auch dabei. Sie hatte die Musik lauter gedreht, und sie hatten getanzt. Johnny hatte Maria aufgefordert. Sie war klein, sein Kinn ragte ein gutes Stück über ihren Kopf, er sah die weiße Kopfhaut, und er spürte ihre Brust durch den dünnen Blusenstoff.

Sie hatte ein wenig getrunken, und sie schob ihre Hand zu seinem Gesicht hoch und strich ihm über die Lippen.

»Ich mag Männer mit Schnurrbart«, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen. »Männer mit Schnurrbart sind sexy.«

»Meinst du?«

»Ja. Und außerdem sollen sie ein bisschen rundlich sein um den Bauch, so wie du.«

Er lachte, legte ihr seine Hand auf den Mund. Brachte sie zu ihrem Tisch mit den Chips. Drückte sie auf einen Stuhl und sagte, er müsse mal pinkeln.

Als sie nach Hause fuhren, war Lotta sauer.

Er fror immer noch. Dieser verdammte Vermieter. Der war zu doof, um richtig einzuheizen, schließlich war es mitten im Winter. Er musste schlafen. Er musste versuchen, sich zu entspannen, er überlegte, ob er Schafe zählen sollte, oder irgendeinen anderen Trick versuchen, obwohl die doch sowieso alle nicht funktionierten.

Da schlug die Wohnungstür.

»Hallo!«, rief er mürrisch.

»Hallo.«

Es war Jessie, Lottas Tochter, die sie in die Beziehung mit hineingebracht hatte. Sie war fünfzehn Jahre alt und ging in die neunte Klasse.

Johnny stellte die Füße auf den Boden und stand auf. Die Decke um den Leib gewickelt, ging er in die Küche. Das Mädchen stand am Herd, eine Platte war eingeschaltet. Sie guckte ihn feindselig an.

»Bist du schon zu Hause?«, fragte er.

»Ja, glaubst du das nicht?«

Eine fürchterliche Wut stieg ganz langsam in ihm auf.

»Was ich glaube? Ich glaube, dass du eigentlich in der Penne sein solltest«, sagte er und seine Ohrläppchen juckten und wurden heiß.

Ihr Haar glänzte, es war in einem Knoten im Nacken zusammengefasst. Ihr Gesicht war rund und ungeschminkt. Sie trug enge, leicht ausgestellte dunkelblaue Jeans und einen Pullover, der die Taille aufblitzen ließ.

»Mir geht es nicht gut«, sagte sie nur kurz.

»Was ist denn mit dir los?«

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Meine Tage. Wenn du weißt, was das ist.«

»Solltest du in dem Fall nicht lieber etwas Wärmeres anziehen? Am Bauch. Wenn es so schlimm ist, dass du von der Schule nach Hause gehen musst.«

Sie glotzte ihn an, mit einem Blick voller Verachtung.

»Das geht dich doch einen Dreck an!«

Da schlug er zu. Die Ohrfeige traf sie genau auf der Wange, nicht gerade hart, aber es reichte, dass sie einen Abdruck hinterließ. Sie öffnete den Mund. Sie schrie.

»Oh Scheiße, du spinnst ja, du bist ja ein Monster, und so jemand wohnt in unserem Haus ...«

Dann weinte sie.

Aus dem Topf auf dem Herd begann Dampf hochzusteigen.

Johnny schaltete die Platte ab.

»Wolltest du was kochen?«

Sie gab keine Antwort, hielt sich die Hände vors Gesicht.

Er fasste sie vorsichtig am Arm. Sie riss sich los.

»Entschuldige, dass ich dir eine geklebt habe. Aber du schaffst es, mich zur Weißglut zu bringen!«

»Tatsch mich nicht an!«

Seine Hände packten ihre Oberarme, schüttelten sie. Der Kopf rollte vor und zurück, eine Haarnadel fiel auf seinen Fuß. Sie schrie laut auf.

»Verflucht, Jessie! Beruhige dich!«

Da riss sie sich aus seinem Griff los und lief in ihr Zimmer, warf die Tür hinter sich zu, dass es in der ganzen Wohnung dröhnte.

Das Mädchen war vier Jahre alt gewesen, als er mit Lotta zusammenzog. Er hatte nie Probleme gehabt mit anderen Menschen zurechtzukommen. Die Leute mochten ihn eigentlich immer, Kinder und Hunde auch. Und natürlich die Frauen. Aber mit Jessica war es schwierig gewesen. Von Anfang an.

Johnny ging zurück ins Schlafzimmer, doch es hatte gar keinen Sinn, sich wieder schlafen zu legen. Er spürte das, er war viel zu aufgewühlt. Und das lag nicht nur an dem Mädchen. Sobald er die Augen schloss, sah er Almis vor sich, Almis mit dem kantigen Kopf und dem etwas wehmütigen, müden Blick. Hatte er jemals Almis richtig laut und herzhaft lachen gehört? Nein. So ein richtiger Spaßvogel war er nie gewesen, auch nicht, als er noch mit Maria zusammen gewesen war. Es war, als lebte er in einer anderen Welt, ein wenig in sich gekehrt, nicht richtig anwesend.

Johnny lag eine Weile im Bett und lauschte. Normalerweise dröhnte die Musik aus Jessies Zimmer durch die Wand. Jetzt war es still. War sie abgehauen? Nein. Das hätte er gehört. Sie hockte wohl da drinnen und schmollte.

Er hatte wirklich versucht, nett zu ihr zu sein und ihr Vertrauen zu gewinnen. Und er hatte zu Lotta gehalten, obwohl die Götter Zeuge waren, dass es an seiner Geduld gezehrt hatte, dass er es sich niemals so richtig zusammen mit ihr gemütlich machen konnte. Das Kind musste immer dabei sein. Nun ja. Vielleicht nicht wirklich immer. Denn schließlich hatten sie ihr ja Geschwister verschafft. Henke, der nun zwölf war und Klein-Pelle von zehn Jahren.

Ihren richtigen Vater hatte Jessie nie kennen gelernt. Er existierte nicht. Lotta kicherte immer etwas peinlich berührt und meinte, es hätte sich um eine Jungfrauengeburt gehandelt.

Ehrlich gesagt war es wohl so, dass sie es selbst nicht genau wusste. Sie hätten dem Mädchen ja sagen können, dass er, Johnny, ihr Vater war. Aber als er ins Gespräch kam, war sie schon groß genug, um zu verstehen, wie es sich wirklich verhielt. Dumm im Kopf war sie nie gewesen.

»Nein! Denn mein Papa ist Zauberer, und er wird dich wegzaubern!« Genauso hatte sie sich ausgedrückt, und damals war sie viereinhalb gewesen und Lotta hatte ihr erzählt, dass sie zusammenziehen wollten.

»Jetzt wird Johnny dein Papa!«, hatte sie gesagt, und da war sie noch schlank gewesen und hatte das kurze schwarze Kleid getragen, das ihre hübschen Beine zeigte. Sie waren zum Fängan gegangen, hatten dort Kaffee getrunken und die Wespen hatten über dem Saft des Mädchens gekreist.

Er konnte sich noch erinnern, was er gedacht hatte.

Wenn sie jetzt eine in den Mund kriegt. Und die sticht zu ...

Nein, es hatte keinen Sinn, länger im Bett zu bleiben. Johnny stand auf und zog sich an. Er machte das Bett und legte die Tagesdecke darüber, darauf die beiden rosa Zierkissen, eines auf jede Seite. So leise er konnte, schlich er in den Flur. Jessies Tür war zu. Er stellte sich dicht davor und horchte, kein Geräusch zu hören.

Mistkind, dachte er.

Er zog sich seine Jacke an und ging nach draußen.

Es war fast zwölf Uhr. Er bürstete ein wenig Schnee von der Windschutzscheibe und stieg dann in das eiskalte Auto. Er war nicht gläubig, ging nie in die Kirche, aber in diesem Augenblick, an diesem bleichen, eiskalten Dezembertag, spürte er den Wunsch nach irgendeiner Art geistigem Trost oder Nähe.

Sie hatten eine Wohnung in der Härjedalsgatan in Vällingby. Da waren etwas verwohnte Vierzimmerwohnungen in Klinkerhäusern aus den Fünfzigern. Immer wieder hatten sie darüber diskutiert, ob sie nicht in ein Reihenhaus umziehen sollten, waren aber nie weiter gekommen.

Eigentlich war die Wohnung auch ganz in Ordnung, das einzige Problem war, dass sie ziemlich hellhörig war. Johnny hatte immer schon in Wohnungen gelebt, ihn störte das nicht so sehr. Aber Lotta war in Norra Ängby aufgewachsen, in einem der kleinen, puppenhausähnlichen Eigenheime, die in den Dreißigern von wohlsituierten Arbeitern und einfachen Beamten gebaut worden waren. Vor allem sie war an einer Veränderung interessiert. Und Tatsache war, dass ein Zimmer mehr auch nicht schlecht wäre, wenn die Jungs größer wurden.

Er fuhr linker Hand an der alten Mühle vorbei und rechts an dem bleichen Wasser von Lillsjön. Oder war schon Eis auf dem See? Er konnte es von der Straße aus nicht sehen, aber das war schon möglich, der See war klein. Hier unten gab es ein Gelände mit Kleingärten noch vom Anfang des Jahrhunderts. Einer der Männer auf der Wache, aus einer anderen Gruppe als Johnnys, hatte von einem alten Verwandten eine Hütte geerbt, und im Sommer hatten sie unter Obstbäumen Krebsschnittchen gegessen. Das war ein schöner Abend gewesen. Almis und Maria waren auch dabei gewesen. Niemand hatte irgendwelche Zeichen der bevorstehenden Trennung bemerkt. Alles war wie immer gewesen.

An der Ampelkreuzung am Ulvsundavägen musste man immer lange auf Grün warten. So auch diesmal. Johnny hatte es nicht eilig, dennoch wurde er nervös, ertappte sich, dass er mehrere Male auf die Uhr schaute. Er dachte an Sirenen, hatte das Radio eingeschaltet, fühlte sich aber von der hämmernden Musik gestört. Endlich konnte er weiterfahren und erreichte schließlich sein Ziel, den Haga Norra Friedhof.

Das Gelände war riesig groß, man musste die Grabnummer wissen, um zu finden, was man suchte. Aber Johnny war schon früher hier gewesen. Er fuhr durch das westliche Tor hinein und parkte am Straßenrand. Ein schwarzer Mercedes aus den 60ern, geputzt und gut erhalten, glitt an ihm vorbei zum Friedhof hin. Er sah Gesichter, gezeichnet von der Trauer. Er stellte sich aufrecht hin und verneigte sich hastig. Dann überquerte er die Straße und suchte seinen Weg zwischen den Gräbern.

Abschnitt Dreizehn C. Da war es, das Grab der Feuerwehrleute. Der Stein war hoch und schmal und von einem mit Grünspan angelaufenen Helm und dem Feuerwehremblem gekrönt. Hier lagen die Feuerwehrmänner begraben, die im Dienst verunglückt waren, und ihre Namen waren in Stein gehauen, damit sie nie, niemals vergessen wurden. Die Grabstätte lag direkt neben der Straße, nur durch einen schwarzen, gespreizten Eisenzaun abgetrennt. Dort draußen donnerte der Verkehr vorbei, ein friedlicher Ruheort war das kaum, und er konnte sich schon denken, warum viele Angehörige es ablehnten, ihre Männer oder Söhne hier zwischen den Abgasen begraben zu lassen. Aber gleichzeitig war es ja logisch, irgendwie blieben sie dort, wo sie auch im Leben hingehört hatten: Zwischen den Autos, der Hetze, dem Puls der Großstadt.

Johnny stand vor der Gedenkstätte und fror. Kleine, körnige Schneeflocken rieselten auf ihn herab und puderten den Helm auf dem Stein.

Almis, dachte er. Würde Almis’ Namen ganz unten eingemeißelt werden unter denen, die schon da standen? Oder würde er woanders beerdigt werden? Wer würde das entscheiden? Seine Eltern? Johnny musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo Almis’ Eltern geblieben waren.

Johnny und Almis hatten als Kinder zusammen gespielt, Almis wurde schon damals Almis genannt. Johnny erinnerte sich an die kleine rundliche Mama, sie kam aus Polen, und er hatte Schwierigkeiten gehabt zu verstehen, was sie sagte. Weshalb er ihr nur selten antworten konnte, und er fühlte sich angespannt und unsicher, wenn er bei Almis zu Hause war, hatte jedes Mal panische Angst, dessen Mutter könnte ihn ansprechen. Der Vater arbeitete in der Wäscherei. Abends kam er mit einem alten Wäschekarton auf dem Lenker schaukelnd nach Hause geradelt. Manchmal lagen Dinge in dem Karton, die er in der Schmutzwäsche gefunden hatte. Einmal hielt er der polnischen Mama eine kleine goldene Armbanduhr entgegen. Sie schüttelte abwehrend den Kopf und verschwand mit festem Schritt in der Küche.

Es war übrigens lange her, seit das Grab das letzte Mal in Anspruch genommen worden war. Der Letzte, der hier begraben worden war, das war H. H. Fritz, 1923–1975. Er war über fünfzig, als er starb.

Almis war jung. Erst fünfunddreißig.

Johnny hatte gehört, wie sie über Hugo Fritz gesprochen hatten. Er war bei einem Feuer in Blasut umgekommen, in einer Werkstatt, die zu den Nahverkehrsbetrieben von Großstockholm gehörte. Er arbeitete auf der Wache von Kungsholm und war an dem Tag Brandbekämpfer, zusammen mit einem anderen Feuerwehrmann von derselben Wache. Anfangs waren noch zwei andere Wachen alarmiert worden, Katarina und Farsta. Später war Verstärkung aus Kungsholm angefordert worden. Wenn Hugo H. Fritz an dem Tag freigehabt hätte, wäre er vielleicht jetzt noch am Leben. Aber er hatte nicht frei, und das Schicksal wollte, dass sein Leben genau wie das von Stefan Almgren endete.

Johnny wünschte sich, er hätte etwas dabei, was er neben den Kranz aus Tannenzweigen hätte legen können, etwas Lebendigeres. Ein Zittern durchfuhr seine Muskeln, er musste eine Weile den Kopf beugen. Während er so dastand, dachte er, dass das wohl übertrieben ehrfurchtsvoll aussehen musste, falls ihn jemand zufälligerweise hier stehen sehen würde.

Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Eine Schar Dohlen flog über die Gräber. Johnny durchfuhr ein Schauer, und er kehrte zum Auto zurück.

Obwohl es erst zwei Uhr war, fuhr er zur Wache. Die Wagenhalle lag leer da, die Leute waren wohl bei irgendeinem Brand. Er ging in die große Küche und begrüßte Svempa, Sven-Inge Lindgren, der seit Urzeiten die Wache putzte. Er war ein Mann in den Sechzigern, hochgeschossen und immer auffallend freundlich. Sein Haar war weiß und gelockt, nicht schütter, wie man sich denken konnte, sondern richtig dicht. Es sah fast künstlich aus.

»Hast du eine Perücke?«, hatte jemand mal gefragt. Johnny erinnerte sich, dass es Tuborg gewesen war, Anker Hahn. Der konnte manchmal so schrecklich plump sein.

Svempa hatte sich umgedreht, seine durchsichtige Haut wurde ganz rosa.

»Perücke?«, hatte er wiederholt, und Johnny sah noch genau die sehnigen, mageren Hände vor sich. Hör auf, hatte er gedacht, hör auf, den armen Teufel zu ärgern!

Tuborg packte Svempas Haarmähne und zog daran, nicht hart, aber mit dem sonnenklaren Ziel, ihn zu kränken.

»Die hast du ja verdammt gut festgeklebt, ist das Sekundenkleber oder was?«

Svempa trat einen Schritt zurück, seine Augen waren blutunterlaufen, das waren sie eigentlich immer, aber in dem Moment sah es aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Entweder war jemand hereingekommen, oder sie hatten einen Alarm gekriegt, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es geendet hatte. Er dachte mit großem Unbehagen daran, hatte Lust, Svempa etwas zu sagen, etwas Tröstliches, Kameradschaftliches.

Svempa war dabei, den Linoleumfußboden zu wischen, er rieb emsig auf den schwarzen Streifen herum, die die Stahlrohrstühle hinterließen.

»Das nützt nichts«, sagte Johnny. »Du vergeudest deine Kraft, Svempa. Diese Streifen sitzen bombenfest.«

»Nun ja. Hartnäckigkeit siegt. Man kann es jedenfalls versuchen.«

Johnny zuckte mit den Schultern.

»Okay. Das ist dein Problem.«

»Ich habe Kaffee aufgesetzt, wenn du welchen willst.«

»Danke.«

Johnny holte sich einen Becher und schenkte sich ein. Der Kaffee war schwach und nicht richtig heiß. Johnny blätterte ein paar Zeitungen durch, nein, es stand nichts drin. Eine ganzseitige Anzeige zeigte Kleidung für Teenager. Das Mannequin war ein mürrisches Mädchen in Jessicas Alter, ihr gar nicht so unähnlich.

Der Putzmann ging mit dem Eimer hinaus, kam aber gleich zurück.

»War der Kaffee zu kalt?«, fragte er. »Ich habe noch ein bisschen Wasser nachgekippt.«

»Ist schon in Ordnung.«

Der weißhaarige Mann nahm sich auch einen Becher und ließ sich am Tisch nieder.

»Hast du Kinder?«, fragte Johnny.

Svempa starrte ihn an.

»Kinder?«

»Ja.«

»Ich hatte mal welche. Aber wir haben keinen Kontakt mehr.«

»Nein?«

»Na, wenn sie klein sind, dann sind sie so ... ja, man gibt für sie sein Leben hin. Aber dann wachsen sie sich zurecht. Und dann ...«

Johnny dachte an die Jungs, an Henke und Klein-Pelle.

»Na, das muss ja nicht immer so sein«, sagte er langsam.

»Ich weiß nicht. Aber irgendwie fährt man auf verschiedenen Gleisen.«

Eine Weile blieb es still. Svempa drehte seinen Kaffeebecher.

»Almis ... er hatte keine Kinder«, sagte er dann.

»Nein.«

»Dann gibt es also keine Kinder, die trauern.«

Sein Hals war dünn und faltig, plötzlich stand er auf und ging zu einer Topfpflanze, die am Fenster stand. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er ein Blatt ab.

»Es tut mir Leid«, sagte er leise.

»Mir auch.«

»Was soll man dazu sagen?«

»Es gibt nichts zu sagen. Es ist nun mal so.«

Von der Straße her war ein Motorengeräusch zu hören, ein Diesel. Johnny zog sich halb hoch und schaute aus dem Fenster. Die Einsatztruppe kam zurück. Es war wohl wie üblich ein falscher Alarm gewesen. Ein Rauchmelder, der verrückt gespielt und losgejammert hatte.

»Ich hau mich für ’ne Weile aufs Ohr«, brummte er. »Ich will meine Ruhe haben.«

Er legte sich in seinen Kleidern hin. Sein Kopf platzte fast, und ein paar tiefe Risse in den Fingerspitzen schmerzten. Die Dämmerung setzte bereits ein, er hörte die Geräusche der anderen, Stimmen aus dem Stockwerk unter ihm. Jemand war auf dem Klo, Toilettenpapier wurde abgewickelt, eine Runde nach der anderen.

Er hatte das Gefühl, als hätte er Sägespäne in den Augen.

Der Raum in diesem dunklen Dezemberlicht, er kannte ihn eher im elektrischen Lichtschein, jetzt sah er fremd und anders aus, wie ein Zimmer in einer Hütte, das vermietet wurde. Die abgenutzte Birkenkommode mit ihren Schubladen, der Radiowecker, die gestreiften Standardgardinen. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Zeitschriften, Der Feuerwehrmann, Feuer und Feuerschutz, eine Zeitungsbeilage vom Sommer und ein Taschenbuch ohne Einband. Er teilte das Zimmer mit drei anderen. Hoffte, das keiner hereinkommen würde.

Er hatte sich auf die Seite gedreht, als sein Handy klingelte.

Scheiße, dachte er. Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Es war Lotta. Sie rief aus dem Friseursalon an, in dem sie arbeitete. Er konnte sofort hören, dass sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte.

»Wo bist du?«, fragte sie.

»Auf der Wache.«

»Wieso, du fängst doch nicht vor halb sechs an.«

»Nein, ich weiß.«

»Ich möchte mit dir über etwas reden.«

»Können wir das nicht später, Lotta. Ich kann das im Augenblick nicht.«

»Wieso kannst du das nicht? Aber Jessica misshandeln, dass konntest du offenbar!«

»Hat sie das gesagt? Hat sie gesagt, dass ich sie misshandelt habe?«

»Du hast sie geschlagen, hat sie gesagt. Und sie war total erschüttert. Sie ist noch nie vorher geschlagen worden, Johnny, noch nie. Begreifst du das? Noch nie hat jemand die Hand gegen sie erhoben. Du bist der Erste, der das gemacht hat. Der Mann, den ich liebe ...«

»Lotta!«

»Und vielleicht war das ja gar nicht das erste Mal.«

»Nun hör aber auf!«

»Man kann ja nie wissen. Das war jedenfalls dumm, mit Gewalt richtet man gar nichts aus. Ich dachte, du als Feuerwehrbeamter würdest das am besten wissen.«

»Feuerwehrmann, Lotta. Nicht Beamter.«

»Nun häng dich nicht an Worten auf!«

»Okay, okay. Ich gebe ja zu, dass das dumm war. Ich habe ganz einfach die Nerven verloren. Sie hat mich provoziert ... bis ich geplatzt bin. Du weißt doch, wie sie ist.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Verzeih mir.«

»Johnny ... Wir müssen jetzt vorsichtig mit ihr sein, sie ist in einem empfindlichen Alter. In dem mit den Kindern alles schief gehen kann. Ich meine, wenn sie sich zu Hause nicht wohl fühlen. Dann können sie abhauen und auf die schiefe Bahn geraten. In schlechte Gesellschaft kommen. Mit allem, was damit zusammenhängt.«

Es ist dein Kind, dachte er. Aber er sagte es nicht.

»Johnny, ich will das nicht so haben, ich möchte, dass wir es schön miteinander haben.«

»Aber das will ich doch auch.«

»Außerdem hat sie Bauchschmerzen, sie hat ihre Menstruation. Wir müssen ein bisschen Geduld mit ihr haben. Mädchen sind so empfindlich.«

»Okay. Ich werde mir Mühe geben.«

»Ich habe noch zwei Kundinnen, dann fahre ich nach Hause. Hast du was eingekauft?«

»Sollte ich das?«

»Ich habe einen Zettel geschrieben und ihn an den Kühlschrank geklebt.«

»Den habe ich nicht gesehen, hier ist so viel passiert, Almis ist tot. Wir hatten einen Alarm heute Nacht, und er ist aus dem Feuer nicht wieder rausgekommen.«

»Tot! Was sagst du – Almis ist tot?«

»Ja.«

»Mein Gott, Johnny! Das kann doch nicht wahr sein!«

»Doch, leider stimmt es.«

»Aber warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Und warum haben sie nichts im Radio gebracht? Ach nein, wir haben heute ja gar kein Radio gehört, da ist irgendwas kaputt mit dem Apparat, wir müssen einen neuen kaufen, der alte funktioniert nicht mehr.«

Er schwieg.

»Johnny«, sagte sie, und ihre Stimme klang angespannt und schrill. »Du musst doch heute Nacht nicht arbeiten, oder?«

»Doch«, sagte er. »Doch. Ich werde arbeiten.«

Der Beschützer - Psychothriller

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