Читать книгу Der Beschützer - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 6
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ОглавлениеZuerst bekam er den Wagen nicht an, das war ihm noch nie passiert. Die Kraft verließ ihn, die Reservekraft, die ihn den ganzen Morgen über aufrechtgehalten hatte. Er beugte sich über das Armaturenbrett, blieb so eine Weile sitzen. Das Lenkrad drückte ihm gegen den Brustkorb, aber er kümmerte sich nicht darum. Er beugte sich noch weiter vor, als wollte er den harten Kunststoff an seinem Körper spüren, als hielte ihn diese Berührung in der Gegenwart fest.
Sein Handy klingelte. Es lag neben ihm auf dem Sitz, er hob es hoch und murmelte seinen Namen.
»Ja, Engen. Mats Engen.«
Es war Camilla, seine Frau. Sie wunderte sich, warum er nicht kam, sie hatte einen Termin beim Zahnarzt, ob er das vergessen hätte.
Er wollte nichts am Telefon sagen. Er wollte sie ansehen, wenn er es erzählte, sie nahe bei sich haben, sie sollte ihn in ihre Arme nehmen, und sie sollte weich und groß sein und nach Safran duften.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte er mit belegter Stimme. »Das blöde Auto hat nur verrückt gespielt, es ist nicht angesprungen.«
»Was?« Sie klang mürrisch. »Wieso das denn? Was ist denn mit dem nun wieder los?«
»Ich weiß es nicht, Camilla. Ich hoffe, nur eine Lappalie. Aber ich beeile mich, ich kriege das schon hin.«
»Ja, das hoffe ich doch, denn den Zahnarzt muss ich so oder so bezahlen. Es ist zu spät, noch abzusagen.«
»Du hörst doch! Ich komme.«
Er schaltete das Handy ab und öffnete die Autotür. Es war ein Citroën, Jahrgang 1990, der war in all den Jahren, die sie ihn schon hatten, immer wie ein Uhrwerk gelaufen. Nur ein bisschen Rost um die Türen, das war bei französischen Autos nun mal so. Er hatte den Rost weggeschmirgelt und die entsprechenden Stellen ausgebessert.
Er stand in seiner Jeans und seinem Anorak da, zupfte an seinen blonden Bartstoppeln. Sein Pony war fransig. Am Haaransatz an der Stirn gab es unzählige kleine Wirbel, die seine Frisur immer zerzaust aussehen ließen, wie sehr er sich auch mit dem Kamm bemühte.
»Stimmt was nicht?« Einer der so genannten Springer kam auf den Hof, Mats hatte vergessen, wie er hieß. Er kam von einer anderen Feuerwehrwache, war als Verstärkung gerufen worden, weil es heute so knapp mit Leuten war. Springer wurden sie immer genannt.
»Ich krieg die Karre nicht zum Laufen.«
»Ist die Batterie vielleicht leer?«
»Glaube ich nicht.«
»Soll ich mal versuchen? Ich habe den Gleichen.«
»Bitte.«
Mats gab ihm den Schlüssel. Da war ein Geräusch in seinem Schädel, ein leises, rinnendes Geräusch. Wie von Wasser. Er sah, wie der andere in den Wagen stieg, und da fiel ihm auch dessen Name ein, Andersson irgendwas – Andreas? Und er kam von der Wache auf Kungsholmen.
Das Auto startete, sobald der Schlüssel im Zündschloss gedreht wurde. Andersson grinste.
»Bitte schön! Alles klar!«
Mats zuckte mit den Schultern.
»Danke. Weiß der Teufel, woran es lag. Vielleicht an der Feuchtigkeit? Aber solche Zicken hat er noch nie gemacht.«
Andersson stieg wieder aus. Er schaute über den Hof hin.
»Du ... das mit Almis ist einfach zu schrecklich«, sagte er steif.
»Ja.«
»Was ist passiert, hat er Panik gekriegt?«
»Keine Ahnung. Scheint ja ganz so.«
»Es ist einfach schrecklich! Zu schrecklich.«
»Ich muss jetzt los. Nach Hause. Meine Frau muss zum Zahnarzt.«
»Okay. Bis bald.«
Es war halb elf. Der morgendliche Berufsverkehr war schon lange vorbei. Es schneite immer noch, aber nicht mehr so stark, nur kleine müde, dünne Flocken, die schmolzen, sobald sie auf den Boden trafen. Mats fuhr an Alvik vorbei, hier gab es einige Baustellen, eine neue Schnellbahnlinie sollte direkt nach Globen gehen. Im Berg links konnte er die Tunnelöffnung erkennen, gleich neben der neuen Tennishalle. Die alte brannte an dem Tag ab, als er dreißig wurde. Das war jetzt gut fünf Jahre her. Arbeiter hatten damals bei Renovierungsarbeiten fünf alte Ölkessel vom Dachboden heruntergeholt. Als sie die Rohre am Morgen im Dach abschnitten, sprang ein Schweißfunken in die Isolierung. Dort lag er dann ein paar Stunden und glühte vor sich hin, bis er richtig Feuer fing. Gegen fünf Uhr nachmittags war das gesamte Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Das war ein Freitag gewesen, wie er sich noch erinnerte. Er hatte daheim auf dem Balkon gestanden und ein Glas Champagner getrunken. Die ersten Geburtstagsgäste waren bereits eingetroffen. Sie hatten alle auf den dicken schwarzen Rauch gestarrt und gedacht, dass ein Flugzeug bei Bromma abgestürzt sein müsste. Dann hatten sie das Radio eingeschaltet und erfahren, was passiert war.
Mats hatte fast den ganzen Weg nach Hause grünes Licht und brauchte auch an den Kreisverkehren kaum zu warten. Beim Altersheim bog er nach links ab und folgte dem Sandviksvägen, bis er zu dem Reihenhaus kam, in dem er wohnte. Die Gegend wurde »Liebeskraut« genannt, weil die Straßennamen im Viertel alle nach unterschiedlichen Gewächsen benannt worden waren. Hässelby war bekannt für seine alten Gartenkolonien, aber jetzt gab es davon nicht mehr viele. Jeder grüne Fleck war mittlerweile mit Reihenhäusern oder Villen bebaut.
Camilla und Mats hatten ihr Haus schon vor einigen Jahren gefunden, als die Jungs noch gar nicht geplant gewesen waren. Es war teuer, eigentlich zu teuer für ihre Verhältnisse, und wie merkwürdig das auch klingen mochte, dadurch, dass Camilla aufhörte zu arbeiten, hatte sie einiges gewonnen. Sie hatte eine Boutique im Einkaufszentrum Akermyntan gehabt. Aber die lief nicht, obwohl sie eine Menge Geld in Anzeigen investierte und selbst herumlief und Reklamezettel verteilte, sobald sie Zeit dazu hatte. Sie hielt eine ganze Weile aus, bis sie sich geschlagen gab und endlich den Laden dichtmachte. Jetzt war sie zu Hause mit den Zwillingen.
Mats fuhr den Wagen nicht erst in die Garage, sie brauchte ihn ja gleich. Sie stand am Küchenfenster und hielt nach ihm Ausschau.
Sie hatte sich zurechtgemacht, das Haar hatte sie hochgesteckt, trug das hübsche hellgraue Kostüm. Er hob die Hand und winkte ihr zu. Sie machte eine unzufriedene Geste.
Die Jungs sprangen ihm entgegen, sobald er die Tür öffnete. Er ging in die Hocke, drückte sie so heftig an sich, dass ihre Köpfe gegeneinander schlugen. Sie holten tief Luft und begannen gleichzeitig zu schreien, schrill und anklagend.
»Du musst ein bisschen vorsichtiger sein!«, sagte Camilla. Sie sah gehetzt aus. Sie nahm ihren Mantel, hielt dann aber inne und starrte ihn an.
»Mats ... was ist los?«
»Nichts.«
»Da ist doch was, ich sehe, dass du was hast.«
»Fahr zum Zahnarzt! Wir reden später drüber.«
»Ist es was Schlimmes? Hat es was mit uns beiden zu tun?«
»Nein, damit hat es gar nichts zu tun.«
Sie sank ein wenig zusammen, schob den Mantelärmel hoch, warf einen hastigen Blick auf die Armbanduhr.
»Oh je! Ich muss mich beeilen.«
Er nahm die Jungs mit sich in die Küche. Setzte sie auf ihre Kinderstühle, pustete ihnen ins Haar. Das war dünn und flaumig, sie hörten auf zu weinen und betrachteten ihn mit aufgerissenen Augen.
»Tuchen!« Simon hob einen weichen, dicken Finger und zeigte auffordernd zur Anrichte, auf der auf einem Teller ein Napfkuchen stand. Erst jetzt bemerkte Mats, dass es nach frisch gebackenem Kuchen roch. Er holte ein Messer heraus.
»Ja, ja. Ihr kriegt jeder euren Tuchen!«
Er schnitt zwei dicke Scheiben ab und legte sie vor die beiden, ohne Teller. Sie fingen sofort an zu essen. Er goss sich ein Glas Wasser ein, aber als er es zum Mund führen wollte, glitt es ihm aus der Hand und fiel ins Spülbecken. Es ging nicht kaputt, das bemerkte er mit einer gewissen Erleichterung. Die Zwillinge starrten ihn an.
»Oi!«, rief Lukas. »Papa Las fallen!«
»Ja«, sagte Mats. »Papa hat das Glas fallen lassen.«
Dann begannen seine Arme zu zitternd, und ein heftiger, plötzlich einsetzender Schwindel zwang ihn in die Knie.
»Almis«, durchfuhr es ihn. »Verdammter Scheiß-Almis.«
Nein! Er musste warten. Er schaffte das jetzt nicht. Jetzt nicht, später. Wenn Camilla nach Hause kam. Erst dann.
Das Telefon klingelte. Er zwang sich aufzustehen. Nahm den Hörer ab. Es war eine Journalistin vom Aftonbladet. Er hörte ihren Namen, vergaß ihn aber sofort wieder.
»Ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid aussprechen«, sagte sie.
»Ja und?«
»Was für ein Gefühl ist das?«
»Was für ein Gefühl das ist?«
»Ja ... Ich meine ... Sie waren ja sozusagen ... mit ihm da in dem brennenden Inferno. Ich meine, mit Stefan Almgren. Ihrem Kollegen. Sie waren doch bei ihm, als er starb.«
»Was für ein Gefühl das ist! Ja, was glauben Sie denn?«
Sie senkte ihre Stimme, fuhr vorsichtiger fort.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe und dumme Fragen stelle.«
Er gab keine Antwort.
»Aber Sie müssen wissen, dass es auch für mich nicht so leicht ist. Ich versuche ja auch nur, meine Arbeit zu tun. Genau wie Sie. Deshalb könnten Sie doch so nett sein und mir antworten, nicht wahr? Was ist da drinnen passiert, als es gebrannt hat?«
Mats warf den Hörer hin. Er bereute es sofort, nahm ihn wieder hoch, und sie war noch da.
»Fahr zur Hölle!«, rief er.
Und dann legte er wieder auf.
Die Jungs saßen noch in der Küche. Sie klatschten mit schmierigen Händen auf den Tisch. Die Kuchenkrümel lagen unter ihren Stühlen auf dem Boden. Er hob sie heraus, erst Lukas, dann Simon, schnupperte an ihrem verschwitzten Haar, ein süßlicher Geruch, nach Kind. Jetzt wollten sie spielen, mit ihm. Nicht still sitzen und kuscheln, kein Märchen hören oder auf dem Schoß sitzen. Sie liefen ins Kinderzimmer, er blieb stehen. Er musste noch sauber machen, den Tisch abwischen, er stand in der Tür, und der Küchenschrank schwankte.
»Almis«, murmelte er, »du verdammter Idiot.«
Stefan Almgren war ziemlich am Boden gewesen. Deprimiert. Das war in mehrerlei Hinsicht zu merken gewesen. Einmal wurde er beim Körpertraining ohnmächtig, sank einfach zusammen und fiel zu Boden.
Sie fragten ihn, ob er krank sei. Er sagte, er sei nur ein wenig aus dem Gleichgewicht. Nicht krank, er könne schon arbeiten und so. Nur etwas durcheinander. Und traurig. Aber er wollte nicht drüber reden. Doch nach einer Weile verstanden sie. Maria.
Sie kannten sie, genau wie sie die Frauen und Kinder all ihrer Kollegen kannten. Sie hatten sie gern gehabt. Eine kleine dunkle Frau mit braunen Augen und einer schönen Figur. Etwas scheu. Etwas nachdenklich.
Du findest schon eine Neue, hatten sie ihn zu trösten versucht. Almis, die Welt ist voller Weiber. Und er lachte, bekam aber so einen abweisenden Blick, und er veränderte sich, wurde schweigsamer.
Das Telefon klingelte. Mats nahm den Hörer und brüllte hinein.
Es war seine Mutter.
»Gute Güte, Gott sei Dank, dass du zu Hause bist. Wir haben es im Radio gehört, Papa und ich. Das über den Brand. Da ist doch jemand gestorben ... Und da haben wir schon Angst gehabt ...«
»Ich war es nicht«, sagte er kurz.
»Nein. Das ist mir auch klar, Mats. Aber es war doch einer von deiner Wache?« »Es war ein Kollege.«
»Einer deiner Kollegen? Von deiner Wache?«
»Ja.«
»Wer denn?«
»Stefan. Stefan Almgren.«
»Der kleine Stefan? Mit dem du immer gespielt hast?«
»Ja.«
»Oh, wie schrecklich, Mats. Wie fürchterlich.«
»Ja.«
»Wie ist es passiert?«
»Er hat den Rauch eingeatmet.«
»Aber habt ihr nicht solche Atem ...?«
»Doch. Aber er hat seine Atemmaske abgenommen.«
»Was? Warum, warum hat er sie abgenommen?«
»Ich weiß es auch nicht.«
»Nein, natürlich nicht.«
Er hörte, wie sie mit seinem Vater sprach. Er stand mit dem Hörer am Ohr da und schaute ins Zimmer der Jungs. Sie saßen mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Sie spielten mit Legosteinen. Das Fenster glänzte vom Schneeregen.
»Ich bin etwas müde, Mutter«, sagte er. »Ich muss mich erst mal eine Weile hinlegen. Wenn du entschuldigst.«
Camilla hatte es bei ihrer Zahnärztin gehört. Die wusste, dass sie mit einem Feuerwehrmann verheiratet war. Deshalb hatte sie geradeheraus gefragt.
»Ich nehme an, dass es nicht Ihr Mann war, der umgekommen ist. Sonst würden Sie wohl kaum hier auf dem Stuhl liegen.«
»Umgekommen!« Camilla war hochgefahren und die Serviette, die über ihrer Brust ausgebreitet gelegen hatte, war zu Boden gefallen.
»Ja, sie haben es im Radio gesagt, schon vor einer Weile. Ein Brand draußen bei Hjorthagen. Ein Feuerwehrmann ist dabei zu Tode gekommen.«
Sie weinte, als sie nach Hause kam.
»Wer war es, Mats, wer war es?«
Plötzlich konnte er Almis’ Namen nicht aussprechen.
Sie sagte, er solle jetzt schlafen, sie hielt ihn im Arm, und die Haut auf ihren Armen war so unfassbar weich.
»Du hast die ganze Nacht gearbeitet, Mats. Und so schreckliche Sachen mitgemacht.«
Jetzt war sie die Starke, führte ihn zu den ungemachten Betten und ließ ihn hineinkriechen.
»Willst du was zu trinken haben?«, flüsterte sie, und ihr Blick war scheu und bittend.
Er schüttelte den Kopf.
»Doch«, bestand sie drauf. »Ich koche dir eine Tasse Tee.«
Er hörte sie in der Küche rumoren. Er lag auf der Matratze und hörte, wie sie zu Gange war. Seine Finger berührten etwas Dünnes. Ihr Nachthemd. Er zog es heran und zerknüllte es zu einem Ball, der fast ganz in seine hart zusammengepresste Faust passte.