Читать книгу Der Beschützer - Psychothriller - Ингер Фриманссон - Страница 7

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Waltraut hatte sich zwei Engel gekauft. Sie waren weiß, gehäkelt, mit Goldflügeln und langen, schlottrigen Beinen. Mehrere Tage hatte sie hin und her überlegt. Sie waren teuer, und eigentlich meinte sie, es wäre Unsinn, Engel für mehr als einen Tausender zu kaufen.

Aber warum nicht, redete sie sich schließlich selbst ein. Warum nicht ab und zu ein bisschen verrückt sein? Warum musste eigentlich immer alles so verdammt genau bedacht sein?

Jetzt versuchte sie, die beiden Engel an der Decke über ihrem Bett zu befestigen. Sie hatte einen Stuhl aufs Bett gestellt, aber als sie darauf kletterte, schwankte er hin und her, als würde er jeden Moment umkippen. Sie ging auf die Knie. Wagte nicht, wieder aufzustehen.

»Scheiße!«, flüsterte sie. »Das schaffe ich nicht.«

Natürlich konnte sie jemanden um Hilfe bitten. Ihren Vater beispielsweise. Er würde sofort herbeigeeilt kommen, selbst wenn er mit vierzig Grad Fieber im Bett läge. Er würde das mit den Engeln zwar garantiert nicht verstehen, es aber akzeptieren, ohne eine Frage zu stellen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter.

Das Telefon klingelte. Waltraut kletterte vom Stuhl herunter und ging ran. Wie sie gedacht hatte. Ihr Vater.

»Ich habe gerade an dich gedacht«, sagte sie. »Wenn man an den Teufel denkt ...«

»Na, so was. Und worum ging es?«

»Ach, nichts Besonderes. Nur so.«

»Aha. Nun, wie geht es dir? Hast du ausgeschlafen?«

»Ja.«

»Ist es gestern gut gelaufen?«

»Ja.«

»Es tut mir Leid, dass wir nicht kommen konnten, das war wirklich schade.«

»Aber ihr habt mich ja schon oft gehört.«

Er hustete.

»Du weißt, wie gern ich dich höre.«

»Doch, ja, das weiß ich. Ist es ein wenig besser mit deiner Erkältung?«

»Kaum. Ich glaube, ich habe sogar ein bisschen Fieber.«

»Armer kleiner Papa, soll ich nach Hause kommen und dich pflegen?«

»Damit du dich noch ansteckst? Kommt gar nicht in Frage.«

»Und wie geht es Mama?«

Vater senkte die Stimme.

»Es geht besser mit ihrer Erkältung. Aber ... sie ist etwas durcheinander. Du weißt, so geht es ihr immer, wenn etwas passiert ist. Da war doch so ein Feuer, und da ist es für einen Kameraden deines Bruders böse ausgegangen.«

»Was sagst du da?«

»Ja. Einer der Feuerwehrleute ist umgekommen. Ich kenne keine Details.«

Waltraut bekam einen ganz trockenen Mund.

»Stimmt das? Und Mats? Ist mit ihm alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Mats ist nichts passiert.«

Sie hatte die Zeitung nicht gelesen. Hatte Angst gehabt, dass etwas über das Konzert darin stehen könnte. Es war besser, wenn andere das zuerst lasen und es dann vorsichtig zu ihr durchsickern ließen. Aber derartige Konzerte wurden nicht jedes Mal besprochen.

Einmal hatte ein Musikkritiker Waltraut Engens Vibrato mit einem Kaninchen verglichen, das verzweifelt versucht, dem Fuchs zu entkommen. Zuerst hatte sie über die Formulierung gelacht, ein Kaninchen, das ... Aber später war es ihr immer wieder in den Sinn gekommen, jedes Mal deutlicher und brutaler, bis die Botschaft ihr klar und deutlich vor Augen stand. Ein Totalverriss.

Sie hatte geglaubt, sie könnte sich über eine höhnische Besprechung hinwegsetzen. Dass ihr das nicht gelang, bedeutete eine doppelte Niederlage.

Vater hatte das ganz empört aufgenommen. Er war schon immer ihr größter Bewunderer und ein wahrhaft begeisterter Zuhörer gewesen. Als er sah, wie sie litt, wie sie dabei war, ihr Selbstvertrauen zu verlieren, rief er den Rezensenten an und bat ihn um eine Erklärung.

Er hieß Greger Brück. Nie würde sie diesen Namen vergessen. Vater erzählte ihr nicht, wie das Gespräch ablief. Das Einzige, was er sagte, war, dass dieser Brück anscheinend nicht recht gescheit war und dass man sich deshalb nicht um seine Meinung kümmern müsse.

Mein lieber Papa, dachte sie. Sie holte die Zeitung, sie lag auf dem Küchentisch, schlug den Stockholmteil auf. Nein. Kein Wort stand darin über eine Feuersbrunst. Merkwürdig.

Ihr Bruder hatte schon seit seiner Kindheit Feuerwehrmann werden wollen. Es gab eine ganze Gruppe von Jungen auf ihrem Hof, sie liefen mit Sprühflaschen herum und spritzten die Leute mit Wasser nass. Sie erinnerte sich, dass sie das damals albern fand. Aber mehrere von ihnen blieben bei ihrem Kindheitstraum und verwirklichten ihn. Was Waltraut später verwunderte.

Sie selbst hatte nie wirklich eine Wahl gehabt. Sie sollte Sängerin werden, das hatte ihr Vater entschieden. Und warum nicht? Das war anscheinend das, wozu sie am besten geeignet war. Normalerweise gefiel es ihr auch, sich schön zu machen, die Hauptperson zu sein, im Rampenlicht zu stehen und Blumen entgegenzunehmen.

Alles war ihr im Leben leicht gefallen. In der Schule hatte sie zu den Besten gehört und wenn die Adolf-Fredrik-Klasse in Kirchen oder in der Berwaldhalle auftrat, zum Beispiel bei den jährlichen Weihnachtskonzerten, da war es ganz selbstverständlich, dass Waltraut die Solistin war.

Jetzt war sie achtundzwanzig und wohnte noch in Hässelby. Durch eine Anzeige hatte sie eine 2-Zimmer-Wohnung gefunden mit einer Schwindel erregenden Aussicht über die Mälaren. Hier konnte sie ihre Koloraturen üben, ohne jemanden zu stören. Hier konnte sie sich frei fühlen.

Vater hätte es sicher am liebsten gesehen, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Die Eltern wohnten nur eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Sie konnte sie ohne viel Aufhebens besuchen, und Vater guckte ein paarmal in der Woche bei ihr hinein. Sie ahnte, dass er das tat, um auch mal herauszukommen. Offensichtlich gingen sich ihre Eltern ein wenig auf die Nerven, jetzt, wo beide pensioniert waren.

Ihr Bruder Mats wohnte auch in Hässelby, aber in dem Einfamilienhausviertel. Dorthin ging Vater fast nie. Mats hatte zwei kleine Jungen, und ihr Vater war nicht besonders kinderlieb. Das Einzige, wofür er sich wirklich interessierte, war die Musik.

Sie erinnerte sich noch, wie sie Abitur machte. Es war das erste Mal, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder sich manchmal zurückgesetzt fühlte. Sie hatten das vorher nie mit Worten benannt, nicht einmal bei ihren seltenen Streits. Sie lief auf den Schulhof in das dort wogende Meer aus Menschen, Blumen und Spruchtafeln. Sie fand ihre Eltern nicht, aber plötzlich packte sie jemand am Arm. Mats. Er umarmte sie und küsste sie fest aufs Ohr.

»Jetzt wird Vater sauer sein, dass er nicht der Erste war«, zischte er ihr zu, und zu ihrem Entsetzen sah sie Verbitterung in seinen Augen und etwas, das aussah wie Verachtung. Während der folgenden Feierei und Ausgelassenheit vergaß sie seine Worte, aber am Abend waren sie wieder da. Sie dachte, dass sie mit ihm reden müsste, doch da war er bereits abgefahren.

Und später versickerte das irgendwie im Sande.

Waltraut kletterte noch einmal auf den Stuhl, aber als sie sich aufrichten wollte, wackelte er und kippte um. Sie konnte gerade noch herunterspringen. Sie fiel auf den dicken Knüpfteppich. Der Stuhl fiel auf sie und schlug hart auf ihren Knöchel.

Sie schrie vor Schmerz auf.

Da klingelte es an der Tür.

Papa?, dachte sie überrascht. Sie trug eine dünne weiße Hose, die sie im indischen Laden gekauft hatte, und eine weite Bluse. Wie betäubt saß sie da und rieb sich das Bein durch den Hosenstoff. Das tat richtig weh.

Da klingelte es wieder.

Waltraut stand auf und hinkte in den Flur. Jemand stand da draußen. Jemand lief herum. Die Schritte klangen anders, das waren nicht die von Vater, das war eine dünnere, jüngere Person, das hörte sie an der Art, wie sie sich bewegte. Als sie sich klar machte, dass man so etwas tatsächlich durch eine geschlossene Tür hören konnte, ergriff sie ein Gefühl der Neugier. Sie musste wissen, ob sie Recht hatte, sofort musste sie das wissen. Also drückte sie die Klinke herunter und öffnete.

Ein Mann stand dort draußen. Zuerst erkannte sie ihn nicht wieder. Er war groß und kräftig, trug eine Kordjacke mit irgend so einem Teddyfutter am Kragen. Sein Gesicht glänzte im Lampenschein. In der Hand hielt er einen eingewickelten Blumenstrauß.

»Ja?«, sagte sie fragend.

»Hallo Waltraut.«

»Entschuldigung ... aber ...?«

»Du siehst aus, als hättest du keine Ahnung, wer ich bin. Und dabei habe ich dich mal auf meinem Arm getragen und zu deiner Mutter gebracht.«

»Wie bitte?«

»Als du noch kleiner warst und von der Schaukel gefallen bist. Du hast wie ein abgestochenes Schwein geschrien. Du konntest schon damals reichlich heulen ... Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben doch im gleichen Block gewohnt.«

Da fiel es ihr ein.

»Franki!«

»Ich habe dich gestern gehört. In der Kirche. Mit meiner Mutter. Du hast mich doch direkt angeguckt. Deshalb habe ich gedacht, du hättest mich wieder erkannt.«

»Oh ... entschuldige. Aber du musst wissen, wenn man so dasteht und singt, dann sieht man gar nichts, man ist vollkommen in die Musik versunken, man denkt nur daran, man horcht in sich selbst hinein, und dann hat man noch dieses starke Licht in den Augen ... es passiert mir oft, dass die Leute, die kommen und mich hören, meinen, ich wäre arrogant. Aber das stimmt nicht, das darfst du nicht glauben!«

»Okay.«

Er lachte und schien sich etwas zu entspannen. Da erkannte sie in ihm den Jungen Franki, wie sie ihn in der Erinnerung hatte, seine Art, kerzengerade zu gehen, sein Mund, der immer rau und gerötet war.

»Wir meinten, meine Mutter und ich, dass wir gestern eigentlich Blumen dabei hätten haben sollen. Aber das ist uns erst zu spät eingefallen. Deshalb kriegst du sie heute.«

»Wie lieb von dir, Franki. Du bist immer so gut zu mir gewesen. Die anderen waren so dumm, erinnerst du dich noch, wie Mats und Stefan mich in die Garderobe eingesperrt haben? Erinnerst du dich dran?«

»Nein«, sagte er undeutlich.

»Aber komm doch rein. Wie unhöflich von mir. Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Ja. Ja, gerne. Wenn du eine hast.«

»Natürlich habe ich Kaffee.«

Sie nahm seine Jacke und hängte sie auf, dann gab er ihr die Blumen, etwas unbeholfen, als hätte er so etwas noch nie gemacht.

»Das sind Rosen«, brummte er, während sie den Strauß auswickelte.

»Rosen!«

»Du hast so verdammt schön gesungen. Wie kannst du nur so singen?«

»Ach. Ich singe eben gern.«

»Du hast wohl immer schon gesungen.«

»Ja. Immer.«

Sie gingen in die Küche. Sie holte eine Vase, es waren fünf Rosen, und sie waren gelb.

»Sind sie schön?«, fragte er. »Magst du gelb?«

Sie nickte. Er war so groß, seine Hände waren gewaltig. Als er sich hinsetzte, spannte der Hosenstoff über seinen Oberschenkeln, dass sie fast Angst hatte, die Säume könnten reißen. Das Hemd war am Hals aufgeknöpft, sie sah darunter Haare und eine Kette mit einem kleinen Kreuz. Das machte sie sonderbar gerührt.

»Ihr wart also da und habt mich gehört«, rief sie aus und füllte Kaffee in den Filter. »Deine Mutter und du. Wie hieß sie noch, Anita, nicht wahr? Sie machte doch irgendwas mit Füßen, soweit ich mich erinnere. Fußpflege oder so.«

»Agneta heißt sie. Nicht Anita.«

»Ja. Ja, genau, Agneta.«

»Sie beschäftigt sich immer noch mit Füßen. Pediküre heißt das. Sie hat eine eigene Praxis, dort, wo sie wohnt. Im Glädjevägen. Wenn du weißt, wo der liegt.«

»Nein ... nicht genau.«

»Westlich von Akermyntan.«

»Westlich?«

»Nach Lövsta zu.«

»Ach so, da! Ja, dann weiß ich es ungefähr.«

Waltraut stellte zwei Becher und einen Teller mit Pfefferkuchen hin.

»Nimmst du Zucker? Oder Milch?«

»Nein. Ich trinke ihn schwarz.«

»Glädjevägen. Was für ein schöner Name: Freudenstraße. Das passt zu deiner Mutter. Sie war immer so fröhlich. Sie roch immer so gut, und einmal schenkte sie mir eine winzige Tube Creme. Die war für empfindliche Haut, sagte sie. Aber ich brachte es nicht übers Herz, sie zu benutzen. Sie blieb liegen und trocknete wahrscheinlich irgendwann ein.«

Sie lachte.

»Und dein Vater?«, fragte sie.

»Gestorben. Vor ein paar Jahren.«

»Oh, das tut mir Leid.«

»Er war ziemlich lange krank. Meine Mutter konnte ihn zum Schluss nicht mehr zu Hause behalten. Er wohnte dann in so einem Pflegeheim.«

»Was für eine Krankheit hatte er denn?«

»Etwas mit den Muskeln. Er saß mehrere Jahre lang im Rollstuhl. Er wollte sterben, hat oft davon geredet. Und das kann man ja auch verstehen, das ist ja ein schreckliches Leben. So im Rollstuhl sitzen zu müssen. Und nicht tun können, was man will.«

»Der Arme.«

»Ja.«

»Wenn man sich vorstellt, dass es Leute gibt, die gern sterben wollen. Wie tragisch!«

»Ja.«

»Er kann doch noch gar nicht so alt gewesen sein?«

»Er ist siebenunddreißig geboren.«

Waltraut brachte die Kaffeekanne und schenkte beiden ein. Sie betrachtete ihn. Er hatte einen Stoppelhaarschnitt und helle Augen. Er sah ein bisschen kindlich aus. Aber nicht nur das. Es gab noch etwas anderes. Etwas, das auf Entschlossenheit hindeutete.

»Und dann tauchst du hier bei mir auf«, lachte sie. »Was für eine Überraschung. Wie hast du mich gefunden?«

»Was glaubst du?«

»Im Telefonbuch?«

Er nickte und führte seine Kaffeetasse an die Lippen.

»Gehst du oft in Konzerte?«, fragte sie.

»Was meinst du, sehe ich so aus?«

Sie wurde ganz rot am Hals.

»Ich weiß nicht. Sehen die irgendwie anders aus, Leute, die in Konzerte gehen?«

»Natürlich tun sie das, das sind vor allem alte Frauen. Meine Mutter hat mich mitgeschleppt. Sie hatte zwei Karten von jemandem gekriegt, den sie kennt.«

»Und welche Musik magst du, Franki?«

»Nun ja, alles Mögliche. Schwarze Scheiben. Sechziger Jahre.«

Sie stand vom Tisch auf und holte tief Luft. Sang dann mit klarer, voller Stimme:

»Domine Jesu,

Domine Jesu Christe, rex gloriae

Libera animas omnium fidelium

Defunctiorum de poenis inferni ...«

»Penis?«, unterbrach er sie. »Was singst du denn da?«

»Poenis!«

»Und was zum Teufel ist das?«

»Ich glaube, so was wie Rache. Oder Strafe.«

»Ist das so ein blöder sadomasochistischer Scheiß? War da nicht am Anfang auch was mit Domina?«

»Nein, Franki! Das ist doch Mozart. Das ist das, was ich gestern gesungen habe. Wie hörst du denn zu? Hast du es schon vergessen?«

Sie schob ihm den Teller hin. Er nahm ein paar Kekse, legte sie aufeinander und biss ab.

»Und du?«, fragte sie. »Was machst du?«

»Ich arbeite ab und zu bei meiner Mutter.«

»Was? Feilst du den Leuten die Nägel oder was?«

Er wurde rot, sie begriff, dass sie ihn verletzt hatte. Schnell wechselte sie das Thema.

»Franki, vielleicht kannst du mir bei einer Sache helfen. Ich weiß nicht, wie ich es allein schaffen soll. Ich war gerade dabei, als du gekommen bist, bin vom Bett gefallen und habe mir wehgetan. Ich traue mich nicht, es noch einmal zu probieren.«

»Was denn?«, fragte er mürrisch.

»Komm, dann zeige ich es dir.«

Sie gingen ins Schlafzimmer. Der Stuhl lag noch auf dem Boden, die Engel waren in eine Ecke geflogen. Vorsichtig hob sie einen auf, hielt ihn gegen das Fenster.

»Der ist ja stark!«, rief er aus.

»Gefällt er dir?«

»Ja.«

»Ich habe versucht, sie festzumachen. Über dem Bett. Aber ich schaffe es nicht.«

Er schaute sie an, nahm gewissermaßen Maß.

»Nein, das kann ich verstehen.«

»Es wäre so schön, wenn sie sozusagen über mir schweben würden. Wenn ich im Bett liege. Wie zwei Schutzengel.«

Er lachte, auf seinen Wangen zeigten sich kleine Grübchen.

»Ich helfe dir, Waltraut. No problem.«

Nachdem er gegangen war, legte sie sich der Länge nach aufs Bett. Die beiden Engel hingen jetzt einen halben Meter von der Decke herab, direkt über ihrem Gesicht. Sie waren an zwei Haken befestigt, und sie selbst hatte sie eingeschraubt. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in ihr auf, als sie daran dachte, ein prickelnder Druck im unteren Teil des Bauchs.

Er hatte es auch nicht geschafft, an die Decke zu kommen. Er war auf den Stuhl gestiegen, und sie hatte versucht, den Stuhl festzuhalten, wobei dieser aber gefährlich knackte, sodass er beschloss, lieber wieder herunterzusteigen, bevor er zusammenbrach. Er hatte eine Weile dagesessen und überlegt, wie sie es anstellen könnten, den kräftigen Nacken gebeugt, den breiten Rücken auch. Dann war er mit einer schnellen, unerwarteten Leichtigkeit aufgesprungen.

»Ich hab’s. Ich werde dich hochheben. Du kannst auf meinen Schultern sitzen, dann schaffen wir es.«

Das hatte so einfach geklungen, als er es gesagt hatte. Er hatte ihren Werkzeugkasten geholt und einen Pfriem herausgezogen, ihr erklärt, dass sie zuerst zwei Löcher in die Decke drücken müsste, damit die Schrauben einen Halt finden konnten.

»Du kannst doch keinen Nagel dort einschlagen, da muss ein Haken hin!«, wies er sie zurecht. »Wie sollen sie denn sonst da hängen? Aber Frauen kriegen das schon hin, was? Ja, ja.«

Er ging in die Knie und forderte sie auf, sich auf seine Schultern zu setzen. Sie nahm leicht den Geruch von Achselschweiß wahr. Ihr Unterleib wurde gegen sein Hemd gepresst und unter ihr wurde es warm und hart, wie ein angespannter, kontrollierter Schwindel. Als er sich erhob, hielt sie sich schnell an seiner Stirn fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Geht’s?«, hörte sie seine Stimme.

»Ja«, murmelte sie. »Ich denke schon.«

Langsam und vorsichtig richtete er sich auf, stand breitbeinig da. Sie hatte die ganze Zeit ein wenig Angst, aber er hielt ihre Beine in festem Griff.

»Franki, du fällst doch nicht hin«, flüsterte sie.

»Dazu sind schon andere Dinge notwendig, dass ich hinfalle!«

Schließlich stand er kerzengerade da und sie kam oben an. Da wurde sie ganz ruhig.

»Was für ein Glück, dass du gerade jetzt gekommen bist«, rief sie in einer Art fröhlichen Übermuts. »Als ob ich dich bestellt hätte!«

»Ach, ich habe das eben gespürt. Waltraut needs me, habe ich gedacht. Und dann habe ich alles stehen und liegen lassen und bin losgelaufen.«

»Sonst hilft mein Vater mir immer«, erklärte sie. »Mit allem, was ich nicht kann.«

»Hast du keinen Freund?«

»Nein. Im Augenblick nicht.«

Während sie da oben auf seinen Schultern saß und die Decke bearbeitete, brach sie plötzlich in lautes Lachen aus.

»Wenn uns jetzt jemand sehen könnte!«, prustete sie los.

»Reiß dich zusammen«, ermahnte er sie, lachte dann aber auch los, seine Schultern hüpften unter ihren Schenkeln.

»Was für ein Anblick das wohl ist!«

»Darüber können wir uns später Gedanken machen. Jetzt schraube die Haken rein. Und pass auf, dass wir dabei nicht umkippen!«

Schließlich war alles fertig. Die Engel hingen dort, wo sie hängen sollten. Franki und Waltraut standen in der Türöffnung und bewunderten sie.

»Danke für deine Hilfe«, sagte sie.

»Aber du warst es doch, die die Arbeit gemacht hat.«

»Das stimmt ja so nun nicht.«

Er sagte, er müsse jetzt gehen. Er habe seiner Mutter versprochen, nach der Lichterkette in ihrem Schaufenster zu sehen. Die würde die ganze Zeit ausgehen, irgendwas war daran kaputt.

»Bis bald«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und hielt sie fest.

»Wirklich, Waltraut? Bis bald?«

Sie nickte.

»Ja, das hoffe ich doch.«

Nein. Sie hatte im Augenblick niemanden. Früher war es Staffan gewesen, er sang im Chor und sie waren mehrere Jahre lang zusammen gewesen. Das ist keine leidenschaftliche Sache gewesen, eher eine Freundschaft mit kurzem, peinlichen Beischlaf, weil das nun einmal dazu gehörte. Eine Zeit lang war sie in einen Gastdirigent verliebt gewesen, aber das hatte sich nicht weiter entwickelt. Er hatte sie eines Abends, als sie in einem Krankenhaus gesungen hatten, geküsst und sie dann in seinem Auto zu dem Hotel gefahren, in dem er wohnte.

»Du bist schön, Waltraut«, hatte er gemurmelt und ihren Kopf zwischen seine schlanken Hände genommen.

Er hatte sauer aus dem Mund gerochen. Das hatte sie zur Besinnung gebracht.

»Willst du mit hochkommen und einen Drink mit mir nehmen oder so?«, hatte er sie gefragt.

»Darf man das denn?« Sie war sich plötzlich ganz billig vorgekommen.

»Ja, natürlich. Natürlich darf man das. Schließlich bezahle ich fürs Zimmer. Dann kann ich auch darüber verfügen, wie ich will.«

Verfügen hatte sie gedacht.

»Oder möchtest du etwas anderes haben? Kaffee oder so?«

»Nein. Gar nichts. Es ist schon gut so.«

Sie hatte sich verabschiedet und war voller Wut nach Hause gefahren. Dort hatte sie sich ein Bad eingelassen und war im Wasser liegen geblieben, bis es fast kalt war. Alle ihre Freundinnen waren zu diesem Zeitpunkt schon lange verheiratet. Mehrere von ihnen hatten Kinder. Sollten Mann und Kinder jemals in ihrem Leben einen Platz haben?

Sie war eine Künstlerin. Sie war mehr als nur Fleisch und Blut. Sie ging auf den Flur und stellte sich vor den Spiegel. Ihr gefiel der eigene Anblick. Schmal wie ein Knabe, flache Brüste, blond und zerzaustes Engelshaar. Als hätte auch sie es sein können, die sie da drinnen aufgehängt hatten, Franki und sie.

Würde er doch ... sie wieder packen und hochheben, sie wie eine Katze beim Nacken fassen. Ihr die Hose herunterreißen, alles zerreißen bis hin zur dünnen Haut.

Sie zog sich vor dem Spiegel aus, blieb dort eine Weile stehen, streichelte sich. Krümmte die Finger und kam in einer tiefen, jagenden Explosion.

Der Beschützer - Psychothriller

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