Читать книгу Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 10

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Italien, Neapel

Als Roland zurückkam, saßen sie in Tante Giovannas Küche mit dem großen, breiten Gasherd und einem antiken Kronleuchter über dem reich gedeckten Tisch. Seine Tante stand sofort auf und stellte einen weiteren Teller auf den Tisch.

Scusi, Rolando. Ich dachte, du kommst nicht zum Mittagessen. Es ist ja schon …“ Sie reichte ihm die Schüssel mit selbst gemachten Ravioli und einer Pastasoße, die himmlisch duftete. Zia Giovanna war eine hervorragende Köchin nach der alten, italienischen Kochschule. Sie pflegte eine Kochkunst, für die heutzutage sonst keiner Zeit hatte.

Nur Nonno Pippino schaute nicht auf. Er war mit Essen beschäftigt. Die weißen Haare, normalerweise über die eine Seite gekämmt, um einen markanten Haarausfall zu kaschieren, waren nach vorne gefallen und hingen ihm wie Schweinsborsten in die Stirn. Seine Haut war fahl mit dunklen Leberflecken, die zusammengewachsenen Augenbrauen waren weiß und lang und hingen über die Augen, sodass man sie nicht sehen konnte, wenn er nach unten auf den Teller schaute. Die Brille baumelte an einer Schnur um seinen Hals, wie die Fausthandschuhe von Kindern, damit er sie nicht verlor, aber er benutzte sie selten, nur, wenn er etwas mit kleinen Buchstaben lesen oder Kreuzworträtsel lösen wollte. Auf der grauen Strickweste, die er über einem kurzärmligen hellblau und weiß gestreiften Hemd trug, war ein dunkler Fleck. Sah nach Kaffee aus.

„Ich habe mich verspätet. Ich bin derjenige, der sich entschuldigt. Ich hätte anrufen sollen.“

Jetzt sah Pippino erschrocken auf, als ob ihn jemand geweckt hätte. An seinem Kinn klebte Tomatensoße zwischen kleinen, weißen Bartstoppeln.

Irene lächelte Roland zu, aber hinter diesem Lächeln steckte etwas anderes; sie amüsierte sich über seine Untertänigkeit der Tante gegenüber. Zu Hause entschuldigte er sich auch nicht jedes Mal, wenn er zu etwas zu spät kam und schon gar nicht so demütig.

Er hatte Respekt vor seiner Tante, wie er ihn auch vor seinem Vater gehabt hatte. Ja, auch daran erinnerte er sich, auch wenn er erst vier Jahre alt gewesen war. Davon war er überzeugt. Selbstverständlich hatte er Adriano Benito respektiert. Ihn vielleicht auch gefürchtet. Wie er nun Giovannas eindringlichen Blick und die dunklen Augen fürchtete. Sie hatte ein hartes Leben gehabt. Eigentlich war sie nicht so viel älter als Roland; knapp sieben Jahre. Sie war elf, als ihr Bruder ermordet wurde. Den Tod kannte sie allzu gut. Die Camorra war immer ein drohender Bestandteil ihres Lebens gewesen, teils, weil ihr Bruder Carabiniere war, teils, weil sie sich weigerte, Schutzgeld für ihren Antiquitätenladen in der Via Chiaia zu zahlen, und einen eigenen Verein gegen die Erpressungen der Mafia gegründet hatte. Er wusste nicht, wie viele Unterschriften sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte und wozu es eigentlich geführt hatte, aber es waren viele Tausend. In diesem Sinne war sie für die Camorra keine direkte Bedrohung. Die Banden wussten genau, was der Großteil der Bevölkerung von ihnen hielt, und besonders heutzutage, wo die Mafia eine verborgene Kraft war, die sich feige unter Politikern und Berufstätigen versteckte, hielten sie sich einigermaßen zurück. Aber sie hatten im Laufe der Jahre vielen von Benitos Familienmitgliedern ein Ende bereitet, zuletzt Salvatore. Ihrem Sohn. Erst fünfzehn Jahre alt. Er war der Jüngste einer großen Kinderschar gewesen. Ihr Mann war bis zu seinem Tod ein geiler Bock, wie er selbst es gern mit Stolz ausdrückte, gleichzeitig ein strenggläubiger Katholik und hatte sich geweigert, Verhütung zu benutzen, gegen die auch der Papst war. Giovanna war schon gesetzteren Alters, als sie Salvatore bekam, und wäre bei seiner Geburt beinahe gestorben. Einige Jahre später starb ihr Mann und es gab keine weiteren Kinder. Sie waren alle auf einem vergilbten Foto im Rahmen auf dem Schrank mit Tischdecken und Geschirrtüchern versammelt, sodass er es direkt hinter Nonnos Scheitel hier von seinem festen Platz am Tisch aus anschauen konnte. Wie er auch in der Küche seiner Mutter gesessen und das Bild seines Vaters in der Carabinieri-Uniform angesehen und darüber nachgedacht hatte, wie gesegnet er war, dort sitzen und essen zu dürfen; das konnten nicht mehr alle. Vier auf diesem Foto waren tot. Pippino war auch darauf, in einer etwas jüngeren Ausgabe. Er stand hinter zwei der Jungs, jeweils eine Hand auf ihren Schultern, auch damals mager und ein wenig in sich zusammengesunken. Ein wehmütiger Seufzer entstand in Rolands Brustkorb darüber, nicht mit auf dem Foto zu sein. Es war, als gehörte er nicht zur Familie. Aber er wohnte ja in Dänemark. Er versteckte sich dort. Er wusste, dass die anderen das so sahen. Auch Tante Giovanna. Besonders sie. Zwei ihrer Söhne saßen hier am Tisch zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern, aber sie waren Fremde für Roland, obwohl sie Familie waren. Es war selten, dass sie an Familientreffen teilnahmen, und er hatte sie seit Salvatores Beerdigung nicht gesehen. Aber sie hatten jetzt auch Urlaub und waren aus Pisa in Norditalien gekommen. Der eine der Söhne wollte mit seiner Familie weiter nach Sizilien, deswegen war der Bruder mit seiner Familie hier bei der Mutter aufgekreuzt, um sie zu treffen, jetzt, wo sie im Süden waren.

Roland schaute auf die Uhr und war überrascht, dass der Vormittag so schnell vorübergegangen war. Er erzählte, wo er gewesen war und sah die Besorgnis in Irenes Blick, als Giovanna zu schimpfen anfing. Die ganze Bande sei incompetenti e corrotti und machte ihre Arbeit nicht gut genug. Pippino haute fest auf den Tisch, sodass das Porzellan klirrte, um ihre Worte zu unterstreichen und zu zeigen, dass er ihrer Meinung war. Irene verstand ein bisschen Italienisch, so zum Hausgebrauch, ansonsten dolmetschten er oder Olivia, aber sie wusste, was die beiden Worte bedeuteten und er musste ihr auf Dänisch erklären, worum es ging.

„Giovanna findet es nicht gut, dass ich die Polizei besuche. Sie meint, die ganze Bande sei korrupt und würde ihre Arbeit nicht gut genug machen. Du weißt natürlich, warum sie das so sieht“, sagte er, ohne Salvatores Namen zu erwähnen, aber Irene verstand und nickte.

„Aber was wolltest du auch da? Am Arbeitsplatz deines Vaters?“

Roland probierte die Ravioli und nickte seiner Tante mit einem lauten „Mmmmmm“ anerkennend zu, was merkwürdig klang, weil er sich gleichzeitig verbrannte. Pippino lachte grunzend und grinste ihm mit einem Zwinkern unter dem großen Busch weißer Augenbrauen zu. Aber das Lob besänftigte Giovanna. Sie lächelte, wenn auch ein wenig angestrengt, und fing selbst zu essen an. Die Söhne und ihre Frauen sagten nichts und die Kinder saßen so still, dass man glauben konnte, sie wären Püppchen. Sie wirkten verlegen darüber, dass eine Sprache gesprochen wurde, die sie nicht verstanden. Das waren sie nicht gewohnt. Alles Fremdsprachliche im Fernsehen wurde auf Italienisch synchronisiert und sie lernten auch in der Schule keine Sprachen. Sie gingen in die scuola elementare, in der man mit sechs Jahren anfing und blieb, bis man zehn war.

„Ich habe einen alten Kollegen meines Vaters besucht. Oberst Sergio Minitti, er …“

Pippino schnaubte höhnisch, als er diesen Namen erwähnte, obwohl er nicht verstand, was Roland sagte.

„Er geht bald in Rente und dann ist niemand mehr da, der meinen Vater kannte …“, fuhr Roland unbeirrt fort.

„Hast du denn nicht mit Olivia gesprochen?“, wollte Irene wissen.

„Doch, doch, davor.“

„Was wollte sie?“

„Nichts Besonderes, bloß ein bisschen Zeit mit ihrem alten Vater verbringen.“

Irene würde unruhig werden, wenn er ihr die Wahrheit erzählte, und das nützte niemandem etwas. Sie lächelte und aß weiter. Die Krücken waren gegen ihren Stuhl gelehnt wie aus Solidarität mit Pippino, dessen Stock an seiner Rückenlehne hing. Es freute Roland, dass sie die Krücken mittlerweile mehr benutzte als die Gehhilfe. Das stärkte ihre Balance und Arm- und Rückenmuskulatur besser, hatten sie im Neurozentrum Hammel gesagt. Zu Hause bevorzugte sie die Gehhilfe, aber hier auf den unebenen, gepflasterten Straßen und in den schmalen Treppenhäusern waren die Krücken praktischer. Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen, die Zwillinge hielten darin ihren Mittagsschlaf.

„Was ist mit Olivia?“, wollte Giovanna wissen.

„Nichts, ich habe bloß im Café Nuit mit ihr einen Kaffee getrunken, bevor sie mit Giuseppe zu Mittag gegessen hat.“

„Und dann hast du danach die Carabinieri besucht. Warum?“

Roland zuckte die Schultern und schenkte ein Glas Wein ein. „Ich hatte einfach Lust.“

Und warum eigentlich, jetzt, wo er direkt gefragt wurde. Hatte er Sergio wirklich erzählen wollen, dass ein schwarzer Audi seine Tochter verfolgte und ihn fragen, ob sie ihn kannten, oder war es, um Gewissheit zu bekommen, dass die Ermittlungen im Mordfall Salvatore nicht ad acta gelegt worden waren?

„Habt ihr dann über Adriano gesprochen?“, fragte Giovanna. Ihre Haare waren grau, aber mit schwarzen Strähnen dazwischen, als ob fast jede zweite gefärbt wäre. Eine hübsche Kombination. Wüsste man es nicht besser, könnte man glauben, ein tüchtiger Friseur hätte es kreiert. Aber Giovanna gab kein Geld für einen Friseur aus. Sie trug ihr Haar immer in einem strengen Nackenknoten. Sie schielte zu Pippino, aber der aß wieder, als ob er nichts hörte. Vielleicht tat er das auch nicht. Das Hörgerät konnte aus sein, das passierte ab und zu, wenn er seine Ruhe haben wollte, und in der Regel vergaß er, es wieder anzuschalten.

„Nein, über Papa haben wir nicht wirklich gesprochen“, log er. Er konnte sie fragen, was sie über Palermo wusste, vielleicht wusste sie nichts. Aber Pippino. Das war die Zeit, an die er sich am besten erinnerte. Er könnte seinen Opa fragen, aber irgendetwas in ihm wollte es doch nicht. Der Teil von ihm, der nicht mehr wissen wollte.

„Was wolltest du dann also da?“ Jetzt schaute sie ihn an und ihre Augen waren noch dunkler als sonst. War es Angst? Sie drückte die Serviette zwischen ihren Fingern, als ob sie ein Lebewesen wäre, das sie umbringen wollte. Der eine ihrer Söhne, der neben ihr saß, legte seine Hand über ihre, drückte sie und hielt sie fest. Wütend sah er Roland an.

„Verstehst du nicht, dass es Mama mitnimmt, darüber zu sprechen?“, sagte er ruhiger, als sein grimmiges Gesicht zum Ausdruck brachte. Vielleicht war er nicht so wütend, wie er aussah. Dunkle Augenbrauen, fast über dem Nasenrücken zusammengewachsen, verliehen ihm einen wütenden Ausdruck. Die ganze Benito-Familie hatte diese Augenbrauen – auch die Tante.

„Doch, das verstehe ich, Mario. Sie hat das Thema zur Sprache gebracht.“ Er schaute wieder zu Giovanna. „Aber ich verstehe nicht ganz, damals, als Mama noch gelebt hat, haben wir Sergio doch fast immer besucht, wenn wir hier waren.“

„Das war etwas anderes“, entgegnete Giovanna und starrte wieder auf den Teller, ohne zu essen. Messer und Gabel verharrten in einer Position, als ob sie essen wollte, aber in der Bewegung erstarrt wäre.

„Wieso war das was anderes?“ Er spürte, dass er aus unbekanntem Grund dabei war sich aufzuregen.

„Ich verstehe, dass Rolando Lust hat, den Arbeitsplatz seines Vaters zu besuchen, wenn er selbst bei der Polizei in Dänemark ist. Das ist doch natürlich“, mischte sich Marios Frau Alberta ein und lächelte Roland zu. Ein robustes Mädchen mit der bronzefarbenen Haut einer Süditalienerin, kohlschwarzen Haaren und einer Andeutung eines kleinen Schnurrbarts, der wie ein dunkler Schatten über der vollen Oberlippe lag. Sie stammte aus der Reggio Calabria. Roland erinnerte sich, dass ihr Vater einer der Schafzüchter war, die vor einigen Jahren in Rom zusammen mit anderen Züchtern aus vielen anderen Regionen in ganz Italien demonstriert hatten, um die Politiker dazu zu bewegen, Plagiate von Pecorino in den Ländern außerhalb Italiens zu bekämpfen. Amerikanische Firmen ließen den Käse beispielsweise in Ungarn und Rumänien herstellen, nannten ihn aber dennoch Pecorino, obwohl er nichts mit Italien und der italienischen Herstellungsmethode zu tun hatte. Sie verdarben die Preise auf dem Markt, sodass die italienischen Schafzüchter um ihren Lebensunterhalt gebracht wurden. Aber soweit Roland wusste, war bei ihren Anstrengungen nicht viel herausgekommen.

„Habt ihr viel Kriminalität bei euch?“ Alberta trank aus ihrem Glas und ihre schwarzen Augen musterten ihn über den Rand hinweg.

„Tja, wir …“

„Habt ihr auch eine Mafia?“, fragte der älteste Junge plötzlich interessiert. Er ähnelte Salvatore, als er ebenfalls ungefähr zwölf Jahre alt gewesen war.

Pippinos Blick wurde aufmerksam, er fuhr verwirrt von einem zum anderen. Zuletzt fingerte er an seinem Ohr herum. Das Hörgerät gab einen Heulton von sich, als er es anschaltete.

„Nicht ganz, aber so etwas Ähnliches. Wir nennen sie Rocker.“

„Habt ihr auch ein bestimmtes Polizeikorps, das sich um sie kümmert?“

„Ja, gewissermaßen schon. Wir haben eine Abteilung für organisierte Kriminalität, die …“

„Was war dein letzter Mordfall?“, unterbrach der Junge eifrig.

Seine Mutter lächelte beinahe entschuldigend.

„Alfio will Polizist werden“, sagte sie und versuchte, den Stolz in ihrer Stimme zu verbergen. Der Augenkontakt mit Giovanna war sehr kurz. Danach starrte Giovanna Alfio an und sah aus, als wolle sie etwas sagen, schwieg aber. Pippino nickte vergnügt.

Roland begegnete Irenes Blick. Jetzt konnte sie der Unterhaltung folgen. Alltagsgespräche.

„Ich finde nicht, dass wir jetzt darüber reden sollten, Alfio …“, antwortete er und lächelte dem Jungen freundlich zu.

„Bestimmt nicht“, pflichtete Giovanna bei. Sie reichte die Schüssel erneut herum und alle nahmen sich noch eine Portion, wohl hauptsächlich, um die Köchin nicht zu beleidigen, hungrig konnte keiner von ihnen mehr sein.

Einen Augenblick lang war es still. Alle aßen, und das einzige Geräusch, das man hörte, war das von Besteck auf Porzellan. Kurz darauf begann die Unterhaltung wieder – Smalltalk, an dem auch Irene teilnahm und sich traute, auf Italienisch zu antworten, wenn sie etwas gefragt wurde. Pippino blühte auf und kam mit seiner üblichen Geschichte über die Landung der Amerikaner auf Sizilien, als er ein junger Soldat war und gegen die Deutschen kämpfte. Sein Gedächtnis hier war vortrefflich, und wenn er mit seiner pfeifenden, aber kraftvollen Stimme zu sprechen begann, hörten alle zu, auch wenn sie das Ganze schon tausend Mal gehört hatten. Dass es eine Aktion war, bei der die Amerikaner Hilfe von der Sizilianischen Mafia bekommen hatten, die Lucky Luciano für sie kontaktiert hatte. Zum Dank wurde er aus einer 30-jährigen Haftstrafe wegen Zuhälterei entlassen, die er in einem amerikanischen Gefängnis verbüßte, und konnte als freier Mann nach Hause nach Italien zurückkehren. Auf Sizilien wurden die Mafia-Bosse für ihren Einsatz belohnt, indem sie große, wichtige Bürgermeisterposten bekamen. In seinen Augen standen Tränen von den Erinnerungen oder vielleicht aus Rührung darüber, dass er im Mittelpunkt stand und man ihm zuhörte.

„Zum Teufel mit den Amerikanern!“, schloss er fast fauchend. „Aber sie hatten gute Zigaretten.“

Hier meinte Giovanna, es müsse genug sein, sie wüssten ja alle, wohin das sonst führen würde.

Die Frauen räumten gerade den Tisch ab, als Rolands Handy eine Melodie spielte. Er sah auf dem Display, dass es eine unbekannte Nummer war und überlegte, es klingeln zu lassen. Vielleicht auszuschalten. Die Arbeit konnte es ja nicht sein, aber als er aus Gewohnheit trotzdem auf den grünen Knopf drückte, hörte er Asger Brinks Stimme. Er ging auf den Balkon, der zur Via Monte di Dio hin lag. Gottes Berg, unter dem ging es für seine Tante nicht. Einem Zitronenbaum in einem Tonkrug schien Wasser zu fehlen, es war nur eine Zitrone dran, aber die magentafarbene Bougainvillea gedieh gut; sie kletterte über den Rand des Eisengeländers, als versuchte sie zu entkommen. Eine feuchte Hitze stieg von der Straße auf, vermischt mit allen möglichen Gerüchen süßer Früchte vom Obst- und Gemüsehändler im Erdgeschoss, Abgasen von Autos und Rollern und verrottetem Abfall aus den Mülleimern. Es wehte auch Essensgeruch aus den Wohnungen auf der anderen Seite der schmalen Straße herüber, wo die Fensterläden offen waren. Aus einem merkwürdigen Grund bekam er Lust auf eine Zigarette; das war eigentlich lange her.

„Sie ist nach Sizilien gereist, Rolando. Ich habe das Tauchzentrum ausfindig gemacht und eine Schwedin, die auf dem gleichen Boot nach Ischia war. Sie hat Beth auf dem Foto, das ich ihr gezeigt habe, wiedererkannt. Sie haben nicht an der gleichen Stelle getaucht, sich aber auf dem Boot ein bisschen über ihr gemeinsames Hobby unterhalten und sie hat erzählt, dass Beth vor zwei Tagen ein Zugticket am Bahnhof hier in Neapel gekauft hat. Sie hatte mit einem jungen Mann gesprochen, der auch zum Tauchen in Ischia war. Einem Norweger. Er wollte mit Beth mitkommen und hat ihr beim Ticketkauf geholfen. Er konnte wohl Italienisch. Das hat mir die Schwedin erzählt. Beth hatte anscheinend erwähnt, dass es richtig gute Tauchplätze in Sizilien gäbe, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit wegfahren würde, ohne es mir vorher zu sagen.“

„Ja, aber dann ist ihr ja, Gott sei Dank, nichts passiert“, antwortete Roland und verspürte eine seltsame Erleichterung, als wäre eine Bürde, die eigentlich nie da gewesen war, von seinen Schultern genommen worden.

„Das weiß ich ja nicht. Wieso geht sie dann nicht an ihr Handy? Warum gibt sie keinen Mucks von sich? Was ist das für ein junger Mann, der ihr hilft?“

„Es kann viele Gründe geben, warum sie nicht anruft. Vielleicht gibt es da, wo sie ist, kein Netz, oder …“

„Ich glaube nicht daran, Rolando. Ich kann immer noch spüren, dass etwas nicht stimmt. Das kann ich einfach. Ich fahre heute Abend nach Messina.“

„Sie reisen also nach Sizilien, um sie dort zu suchen?“

„Das ist die Absicht. Haben Sie mit der Polizei gesprochen?“

„Ähm, ja. Sie haben ein Foto bekommen und werden nach ihr Ausschau halten, also, falls etwas auftaucht … etwas anderes können die ja nicht wirklich machen.“

„Nein. Natürlich nicht.“

Asger schwieg lange und Roland wusste nicht, was er sagen sollte. Irene schaute von der Küche aus zu ihm hinaus. Sie saß auf einem Stuhl, während sie beim Abwasch half. Eine Spülmaschine wollte Giovanna nicht in ihren vier Wänden haben.

„Nun, ich reise also heute Abend ab. Falls Sie etwas von der Polizei hören, haben Sie meine Handynummer, oder?“

„Ja. Ja, selbstverständlich werde ich Sie dann kontaktieren.“

„Wer war das?“, wollte Irene wissen, als er das Handy zurück in die Tasche seiner Shorts steckte und in die Küche kam.

„Ein älterer Herr, den ich heute Vormittag in der Bar getroffen habe. Als Olivia gegangen war, ist er zu mir herübergekommen und hat mit mir geredet. Er hatte gehört, dass wir Dänisch gesprochen haben. Er ist auch Däne.“

Roland nahm ein Geschirrtuch und ein gespültes Glas und fing an, es abzutrocknen. Die Frauen sahen ihn komisch an, sagten aber nichts. Irene verbarg ein kleines Lächeln. Die anderen Männer waren ins Wohnzimmer gegangen, um zu rauchen und Karten zu spielen. Beides war nichts für Roland. Die Kinder spielten mit den Zwillingen, die aufgewacht waren. Aus dem Gästezimmer war ihr Kinderlachen zu hören, das Pippinos Stimme aus dem Wohnzimmer zu übertönen versuchte. Er redete die ganze Zeit. Der Wein hatte ihn in eine gute Stimmung versetzt.

„Ist er allein unterwegs?“, fragte Irene.

Roland nickte.

„In Urlaub?“

„Mmmm …“

„Warum hast du ihn nicht eingeladen? Giovanna würde es lieben.“

Die Tante sah sie an, als sie ihren Namen hörte.

„Irene sagt bloß, dass du es liebst, Gäste zu haben.“

Giovanna lächelte und nickte Irene zu.

„Das ist wahr, das liebe ich.“

„Aber jetzt ist es zu spät, er reist heute Abend nach Sizilien.“

„Ganz allein. Der Arme. Er muss sich recht einsam fühlen, wenn er sich in einer Bar an einen Fremden wendet.“

„Das war nicht deswegen. Offenbar hatte er mitbekommen, dass ich Polizist bin, und hat um meine Hilfe gebeten. Seine Tochter war nach einer Tauchtour bei Ischia verschwunden.“

„Du meine Güte!“ Irene hörte auf, abzutrocknen, und starrte zu ihm hoch. Die anderen Frauen taten das Gleiche.

„Aber sie war bloß nach Sizilien weitergereist, also ist die Sache aufgeklärt. Jetzt fährt ihr Vater dahin, dann sind sie bald wieder vereint.“

Das Letzte sagte er auf Italienisch, aber Irene verstand es und lächelte erleichtert.

Grazie a Dio“, rief Giovanna.

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