Читать книгу Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 11

7

Оглавление

Sizilien, Messina

Das Handy klingelte erneut. Sie holte es aus der Tauchtasche, die zu ihren Füßen stand, schaute auf das Display und schaltete das Handy mit einem resignierten Seufzer aus.

„War das wieder er?“, fragte Oscar und zog die Flossen an. Er ähnelte einer großen, schwarzen Ente, die im Vordersteven des Bootes saß. Wie eine Reiherente sah er aus mit den schwarzen, langen Ponyfransen, die ihm in die Stirn und Augen fielen und die er sich die ganze Zeit aus dem Gesicht strich. Die Haut war braun nach dem langen Aufenthalt in der Sonne Italiens. Er war die Küste entlang von Norden nach Süden mit einem Rucksack herumgereist und getaucht, wo immer es ging. Sie mochte ihn. Es war selten, jemanden mit der gleichen brennenden Leidenschaft zu treffen und der Lust, die gleichen gefährlichen Gebiete zu erforschen. Und dann hatte er ihr geholfen, ein Zugticket zu kaufen und sprach hervorragend Italienisch. Sie selber hatte nicht vorgehabt, Italienisch zu lernen, und bis sie Oscar getroffen hatte, war sie mit ihrem Touristenwörterbuch ganz ausgezeichnet zurechtgekommen. Aber wegen seiner guten Sprachkenntnisse war es so leicht gewesen, ein Boot bei dem Bootsverleih zu mieten, den das Hotelpersonal empfohlen hatte, das musste sie zugeben. Die Italiener waren ihm gegenüber dienstbeflissen, weil er ihre Sprache beherrschte.

„Ja, aber ich habe ihn wieder weggedrückt“, entgegnete sie.

„Glaubst du nicht, du solltest ein bisschen mit ihm reden? Vielleicht macht er sich wirklich Sorgen um dich.“

„Papa macht sich immer Sorgen um mich, es ist zum Wahnsinnigwerden. Ich bin verdammt noch mal erwachsen! Aber jetzt habe ich ihm eine SMS geschickt, dass ich in Messina bin und im Hotel Mirage wohne, das muss echt reichen!“

Oscar grinste. „Meinen Alten ist es echt scheißegal, was ich mache. Ist doch süß, dass dein Vater so fürsorglich ist.“

Elisabeth lächelte zuerst über seine norwegische Aussprache, das klang so lustig, dann schnitt sie ihm eine Grimasse und zog die Tauchermaske auf. Mehrmals hatte sie überlegt, wie alt er wohl war – zwischen 25 und 30? Das war schwer zu beurteilen. Aber sie hatte nicht gefragt, weil es in Wirklichkeit egal war. Sie hatten nur das Tauchen gemeinsam und das war das Einzige, was sie mit ihm zusammen tun wollte. Sonst nichts.

Oscar war ebenfalls ein geübter Taucher, und sie hatten sich auf dem Boot nach Ischia, wo sie sich getroffen und schnell vertraut geworden waren, darüber unterhalten, dass viele spannende Schätze auf dem Meeresgrund in der Straße von Messina lagen. Bei dem Erdbeben 1908, das den Wert 7,2 auf der Richterskala erreicht hatte, mit dem Epizentrum in der Straße und der nachfolgenden Flutwelle, die zwölf Meter hoch gewesen war, waren Messina und Teile Kalabriens zerstört worden und viele Wertgegenstände auf dem Meeresgrund geendet. Man vermutete, dass 72 000 Menschen umgekommen waren. Vielleicht viel mehr. Selbstverständlich waren Wertsachen längst gefunden worden, aber die Pflanzen- und Tierwelt sollte hier auch besonders mannigfaltig sein. Und das waren Herausforderungen. Sie konnte ihre Grenzen testen. Es war ein gefährlicher Tauchplatz wegen der Gezeitenströmungen, die riskante Stromschnellen bildeten. Die Straße hatte im Laufe der Zeit viele Schiffe verschlungen, da sie unter anderem die Passage für Kriegsschiffe gewesen war. Die beiden Seeungeheuer Skylla und Charybdis, die der griechischen und römischen Mythologie zufolge in der Straße von Messina hausten, bekamen damals die Schuld für das Verschwinden der Schiffe. Aber die erwartete sie nicht zu treffen.

Elisabeth spannte ihre Doppelflaschen, ein Set, bestehend aus zwei knallgelben Alu-Druckflaschen, auf dem Rücken fest und setzte sich auf den Bootsrand. Oscar setzte sich dicht neben sie, ebenfalls mit dem Rücken zum Wasser. Ihre Taucheranzüge berührten sich. Er gab ihr die Tauchlampe.

„Dann gehen wir runter. Die maximale Tiefe in der Straße beträgt 250 Meter. Wir werden wohl einige Wracks zu sehen bekommen.“ Seine Zähne leuchteten unter der Tauchmaske in einem erwartungsvollen Grinsen auf. Er steckte den Atemregler in den Mund, ließ sich nach hinten fallen und verschwand im Sprudel weißer Luftbläschen. Elisabeth warf einen letzten Blick auf die sizilianische Küste. Sie lag in blaugrauem Dunst sehr weit weg, sie war sich nicht einmal sicher, ob es Messina war oder eine andere Stadt, die sie erahnen konnte. Die Straße von Messina maß an der schmalsten Stelle drei Kilometer und an der breitesten sechzehn, hatte Oscar erzählt. Sie waren ziemlich weit gesegelt, fand sie, aber er bestimmte. Er hatte sich mit der Gegend vertraut gemacht, das hatte sie nicht geschafft.

Das kalte Wasser umschloss sie, als sie nach hinten kippte und abzutauchen begann. Die bekannten Geräusche von Wind, Möwen und Wellen verschwanden und wurden zu einem Brausen. Hier gehörte sie hin. Hier in diese Welt, wo die Geräusche nur die des Meeres und ihr eigener, ruhiger Atem waren. Oscar war wie ein Delfin im Wasser direkt vor ihr. Die Luftblasen aus seinem Atemregler blubberten bei jedem Atemzug, wie weißer Atem an einem kalten Wintertag. Der Lichtkegel der Lampen fing bunte Fische ein, die in prachtvollen Fächern vor ihnen flüchteten. Schwärme von Pferdemakrelen schwammen unter ihnen. Sie schnappte hingerissen nach Luft wie jedes Mal, wenn sie erlebte, dass sich die Korallen unter ihr wie ein blühender Garten öffneten. Die Fangarme der Seeanemonen wehten seidig und suchend in der Strömung wie Menschenhaare. Leben bewegte sich im Dschungel unter ihr. Leopardgefleckte Grundeln, Nacktschnecken in hübschen Farben, orangefarbene Krebstiere. Oscar winkte sie zu sich und deutete nach unten auf die roten Korallen; dort versteckte sich eine Muräne. Elisabeth vergaß alles andere. Ihre Mutter, die immer unterging, wie sie selbst es ausdrückte, und zu nichts mehr imstande war, jedes Mal, wenn ihr etwas auch nur ein bisschen nahe ging. Ihr Vater, der permanent mit der Hilfe seiner einzigen Tochter rechnete, weil er daran gewöhnt war, jedes Mal, wenn sich seine Ehefrau in einen Sessel setzte und zu nichts mehr in der Lage war. Ihr ganzes Leben hatte sie es als ihre Pflicht empfunden, dafür zu sorgen, dass keiner von ihnen Not litt. Besonders ihr Vater, der ihr wirklich sehr leidtat. Vor lauter Fürsorge für die beiden hatte sie die Selbstfürsorge vergessen und bemerkte es erst, als sie eines Tages selbst unterging und ihr Arzt dafür sorgte, dass sie mit einer Psychologin sprechen konnte. Sie war in die Tiefen von Elisabeths Gemüt vorgedrungen und hatte Dinge herausgefunden, von denen ihr selbst nicht klar war, dass sie verborgen – und vergessen – waren. Sie hatte ihrem Vater nähergestanden, als ihr bewusst gewesen war und erst, als die Psychologin sie durch die Dunkelheit der Vergessenheit geführt hatte, begann ihr die Wahrheit aufzugehen. Die Wahrheit, an die sie nun glaubte, und die keineswegs die war, die sie offenbar selbst geschaffen hatte. Sie hatte ihre Mutter in viel mehr Bereichen ersetzt, als ihr klar gewesen war. Aber warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Wollte sie ihren Vater nicht hassen? Sich vor ihm ekeln. Verteidigungsmechanismus nannte die Psychologin das. Auf diese Weise schützt sich ein Mensch – besonders im Kindesalter – unbewusst selbst, indem er die Realität zu einer wunschbestimmten Phantasie verdreht. Mit anderen Worten: Sie hatte es verdrängt, und plötzlich ergab das Ganze einen Sinn. Die Unruhe, die sie immer verspürt hatte. Die Angst vor Berührung und Umklammerung. Aber hier unten war das Paradies, und nicht etwa im Himmel, wie einige behaupteten.

Sie sah Oscar erneut winken, weiter weg. Es sah wie ein altes, rostiges Schiffswrack aus, voller Muscheln und Algen, hinter dem er sich verbarg. Das Wasser war hier trüber, als ob der Meeresboden gerade aufgewühlt worden wäre. Als sie sich beeilte näher heranzukommen, entdeckte sie, dass er ihr mit dem Finger vor dem Atemregler bedeutete leise zu sein. Sie begab sich hinter ihn und versuchte mit den Augen zu fragen, was passierte. Vielleicht war ein riesiger weißer Hai direkt um die Ecke der Klippen und des Felsens, aber er hatte nicht das Hai-Zeichen gemacht, und nun machte er das Guck-Zeichen, in dem er auf seine Augen deutete, und als er ein bisschen zur Seite wich, sah sie, was er entdeckt hatte. Drei Personen in Taucheranzügen waren dabei, einige Kisten aus einem Kutter zu ziehen, der anscheinend gekentert und gesunken war. Er lag auf dem Meeresgrund auf der Seite. Es war nicht lange her, dass es passiert war. Auf dem Rumpf waren noch keine Algen. Die Taucher banden Ketten um jede Kiste, woraufhin sie zur Oberfläche heraufgezogen wurden. Sie konnte den Rumpf eines größeren Schiffes wie einen dunklen, flimmernden Schatten sehen. Ihr erster Impuls war, den Tauchern zu helfen. Sie waren nur zu dritt für all die Kisten. Sie machte Oscar Zeichen. Er nickte etwas zögerlich sein Einverständnis. Sie schwammen zu einem der Taucher und fingen an zu helfen, eine Kiste aus dem vordersten Laderaum zu ziehen. Die Augen hinter dem Glas der Tauchermaske waren hervorstehend, grimmig und dunkel; vielleicht waren es bloß das Wasser und das Glas in der Brille, die ihm diesen Ausdruck verliehen. Der Blick drückte zunächst Verwunderung, danach beinahe Panik aus. Dann nickte er, deutete auf seine Tauchuhr und anschließend mehrfach nach oben auf den Schatten des Schiffes an der Meeresoberfläche. Sie verstand, dass es eilte. Hier unter Wasser konnte man nur mit Zeichen kommunizieren und da war es egal, welche Sprache man sonst sprach.

Die Holzkiste war nicht schwer. Durch die schmalen Zwischenräume der Bretter konnte sie ein bisschen hineingucken. Darin befand sich etwas, das wie Hühnerdraht in einem Käfig aussah. Was war da drin? Es schien lebendig zu sein. Sie sah eine schnelle Bewegung, wie etwas, das zappelte, als sie hineinsah und die Kiste anhob. Aber Wasser konnte alles Mögliche in Bewegung versetzen.

Jetzt, wo sie zu fünft waren, ging das Abladen schnell, und als die letzte Kiste hochgezogen war, versuchte Oscar, mit einem der Taucher zu kommunizieren, doch der schüttelte bloß den Kopf und machte sich mit den anderen beiden an den Aufstieg. Undankbarer Schuft, dachte Elisabeth und gestikulierte, als Oscar sie verwirrt ansah. Er schüttelte nur den Kopf, verdrehte die Augen und fragte mit seiner Handfläche, auf die er mit zwei Fingern klopfte, ob sie noch genug Luft hatte. Sie checkte und nickte. Er deutete auf den Kutter, der wie eine tote, leere Hülse auf dem Meeresgrund lag. Fische näherten sich neugierig. Elisabeth schaute nach oben. Der Schatten des Schiffes war nicht verschwunden. Sie waren wohl noch am Beladen. Sie nickte. Hier war ein ganz neues Schiffswrack zu erforschen. Oscars Flossen verschwanden im Laderaum. Sie folgte ihm. Eine Matratze schwamm herum und versuchte einen Weg nach draußen zu finden, einige Papiere waren fast aufgelöst vom Wasser, aber ansonsten war der Laderaum leer, es waren keine Kisten mehr da. Sie waren auf dem Weg in den Steuerraum, als sie den anderen Taucher wie einen dunklen Schatten hinter sich bemerkte. Oscar drehte sich um und erkannte ihn offenbar wieder, denn sie sah ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er gab dem Taucher das O.K.-Zeichen, aber der antwortete nicht und kam langsam näher. Nun sah sie, dass er etwas in der Hand hatte. Ein Messer. Zuerst versuchte sie fieberhaft, die Hand hin- und herzukippen, Oscar das Signal für Problem zu geben. Als er nicht reagierte, zeigte sie eine geballte Faust und bewegte zwei Finger wie schwimmende Beine, sodass er verstand, dass Gefahr drohte und er schnell wegschwimmen sollte, aber Oscar schaute nicht zu ihr. Sie wollte schreien. Ihm zurufen. Aber unter Wasser war man stumm. Sie drückte sich in dem dunklen Winkel an die Wand, zu der die Strömung sie geführt hatte, und alle Regeln, ihrem Tauchbuddy zu helfen, schossen ihr durch den Kopf. Sie konnte nichts tun, als der Taucher hinter Oscar sein Messer schnell durch die Schläuche für die Sauerstoffversorgung führte und sie kappte. Das Messer musste scharf sein, denn er tat es mit einem einzigen Hieb. Verzweifelt kämpfte Oscar im Wasser. Er war in Panik geraten und sie konnte ihn kaum sehen vor lauter weißem Schaum und Luftblasen, die während des Kampfes aufgewirbelt wurden. Plötzlich breitete sich eine rote Wolke um die Kämpfenden aus wie das Sekret eines Tintenfischs; der fremde Taucher zog sich zurück und sie wusste, es war zu spät, Oscar zu helfen. Sie fühlte die Panik aufsteigen, es war schwer, die Atmung zu kontrollieren. Einen Augenblick lang überlegte sie, den Bleigurt zu lösen, aber es war zu früh. Ein Aufstieg wie dieser erforderte einen Sicherheitsstopp. Es war fast unmöglich, aus dem Wrack zu entkommen, ohne dass der fremde Taucher sie entdeckte. Aber es war höchste Zeit. Langsam begann sie den Aufstieg. Das eine Fenster im Ruderhaus war ganz oben rechts von ihr, das Glas war zerbrochen; es kam auf sie zu. Es würde schwer werden, sich um das Steuer herum und durch das Fenster zu zwängen. War überhaupt genug Platz? Sie reduzierte die Atmung so weit wie möglich, um nicht zu viele verräterische Luftblasen auszusenden, aber der Schwindel hatte bereits angefangen, sie zu schwächen. Mit den Armen über dem Kopf erreichte sie das Fenster. Den Ausgang in die Freiheit. Sie hörte, wie die Sauerstoffflasche gegen das kaputte Glas schrammte. Der Schmerz in ihrem Arm und ein roter Blutstrom sagten ihr, dass die Flasche nicht das Einzige war, was die scharfe Kante gestreift hatte. Jetzt war sie draußen. Das Wasser war trüb, aber sie wusste, was die dunklen Schatten vor ihr waren. Das Blut zog die Haie an. Langsam und suchend näherten sie sich, als schnupperten sie sich vorwärts und nahmen Kurs auf den Eingang zum Laderaum. Aber einer der Schatten war kein Hai. Ein neuer Taucher war auf dem Weg in das Wrack. Anhand seiner Bewegungen merkte sie, dass auch er nach etwas suchte. Wie die Haie. Nach ihr? Sie kämpfte sich nach oben. Die Kräfte waren dabei, sie zu verlassen, und sie hatte den Drang, sich zu übergeben, hielt es aber glücklicherweise zurück. Sie hatte gelernt, dass es am besten durch den Atemregler hinaus sollte, und darauf hatte sie bestimmt keine Lust. Bei der Klippe und dem Wrack, zu dem Oscar sie gerufen hatte, hielt sie an und versteckte sich, um vor dem endgültigen Aufstieg eine Ruhepause einzulegen. Irgendwo da oben lag ihr Boot. Einige Meter weiter westlich. Weitere Haie näherten sich. Die Aufmerksamkeit des Tauchers richtete sich auf die Raubfische, aber nun schwamm der eine von ihnen zu ihrer Verwunderung wieder ins Wrack. Nach ein paar Minuten kam er heraus und sie steuerten beide sehr schnell auf die Meeresoberfläche und den Schatten des Schiffsrumpfes zu. Oscar war da drin, im Laderaum. Er konnte unmöglich überlebt haben, aber sie konnte ihn nicht einfach dort liegen lassen. Hier unten bei den Haien. Vorsichtig näherte sie sich dem Wrack. Das Adrenalin pochte in ihren Ohren, aber sie kam nicht weit. Ein großer Lichtblitz blendete sie und eine Druckwelle warf sie zurück und ließ das Wrack, hinter dem sie sich versteckt hatte, halb aus dem Meeresgrund aufsteigen. Zersplitterte Bretter und andere Wrackteile flogen wie Projektile um sie herum, trotzdem schienen sie sich in Zeitlupe zu bewegen. Es war schwer, etwas zu sehen, bevor die Fragmente anfingen sich zu legen. Sie hatte die Orientierung verloren. Ein neuer Schmerz entstand in einem ihrer Oberschenkel, in den sich ein spitzes Holzstück gebohrt hatte. Ohne zu zögern zog sie es heraus. Der Schmerz ließ sie fast ohnmächtig werden. Mehr Blut. Aber nun waren die Haie weg. Der Kutter auch. Wasser lief ihr die Wangen hinunter und in die Nase, sodass sie auspusten musste, um nicht zu ersticken. Aber nicht, weil die Tauchermaske leckte; das Wasser strömte aus ihren Augen. Oscar! Hilflos starrte sie auf das Loch auf dem Meeresboden, wo der Kutter gelegen hatte. Es war kein Leben mehr darin und sie hatte das Gefühl, es wäre auch aus ihr gewichen. Der Sauerstoff war fast aufgebraucht. Sie riss sich zusammen und löste den Bleigürtel, ließ ihn auf den Grund sinken und begann den Aufstieg, hoffte, das Boot wäre da, wenn sie hochkam.

Die Sonne traf ihr Gesicht. Sie schnappte laut keuchend nach Luft, als sie die Oberfläche erreichte, und riss den Atemregler aus dem Mund. Rang nach Atem. Es gab immer noch Nachwirkungen der Explosion. Aber das Boot war nicht da. Sie sah bloß die wogende Meeresoberfläche, so weit das Auge reichte. Vielleicht war es nicht hier. Die Erschütterung hatte alles vom Kurs abgebracht. Die Panik durchkroch sie, während sie automatisch Wasser trat und heftig zu zittern begann. Das verletzte Bein krampfte. Sie weinte und wusste, dass sie es hier nicht länger ohne Hilfe aushielt. Die Taucherkrankheit würde zu der Erschöpfung hinzukommen. Sie würde ganz sicher ertrinken. Vielleicht schnappten die Haie sie vorher. Das Blut würde sie anziehen, auch wenn es wohl ein bisschen dauerte, bis neue sich heranwagen würden. Aber sie würde sterben. Sie würde ganz sicher sterben. Jetzt vermisste sie die Stimme ihres Vaters. Bereute es zutiefst, all seine Anrufe nicht beantwortet zu haben. Natürlich war er unruhig. Und jetzt würde sie diese Stimme nie wieder hören oder ihn sehen. Ihre Absicht, sich zu Boden sinken zu lassen und es hinter sich zu bringen, wurde von einem Schiff verhindert, das sie weiter draußen auf dem Meer wie eine Fata Morgana entdeckte; ein schimmernder Punkt, von der Sonne erhellt auf der unendlichen blauen Tiefe. Mit letzter Kraft hob sie die Arme und winkte.

„Hilfe! Help me!“, rief sie, so laut es ihre Lunge zuließ. Es war ein großes, weißes Schiff und einen Augenblick lang glaubte sie, es sei die Küstenwache. An der Seite stand etwas auf Italienisch in roten Buchstaben. Die würden sicher die Explosion untersuchen.

„Help! Help!“, rief sie erneut zwei Männern zu, die an der Reling standen. Hatten sie sie nicht gehört? Sie blinzelte gegen die blendenden Sonnenstrahlen. Doch, und sie hatten sie auch gesehen. Sie konnte ein gleichzeitig tränenersticktes, panisches und erleichtertes Lachen nicht zurückhalten. Das Salzwasser spülte in ihren Mund. Merkwürdigerweise schmeckte es gut. Der Geschmack bedeutete, sie war am Leben. Nun würde sie nicht sterben. Aber dann entdeckte sie, was sie in den Händen hielten. Das war kein Rettungsring. Litt sie doch unter Sauerstoffmangel und halluzinierte? Die Maschinenpistolensalve durchlöcherte das Wasser um sie herum. Kaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht und das Geräusch war so ohrenbetäubend, dass es weh tat. Sie schrie lauter. Der Schmerz war erst wie das Brennen von Wunden in Salzwasser, wie die am Arm und dem Oberschenkel. Das Wasser um sie herum färbte sich langsam rot. Wie verwundert schaute sie es an und die tanzenden Projektile auf der Wasseroberfläche, bis etwas Brennendes ihren Kopf traf und das kalte Wasser ihren Körper wieder umschloss. Sie sank. Hinab, wo die Geräusche nur die des Meeres und ihres eigenen, ruhigen Atems waren, der stoppte. Hinab ins Paradies.

Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7

Подняться наверх