Читать книгу Schlangengift - Roland Benito-Krimi 7 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 12
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ОглавлениеDänemark, Aarhus
Anne schaltete den Computer in der Redaktion an und setzte sich dran, um den Namen zu suchen, den sie auf dem Briefkasten vor dem Haus am Weg gesehen hatte. Sie hatte ihn als SMS an sich selbst geschickt. Das Schild war handgeschrieben mit Kugelschreiber auf einem Stück liniertem Papier und primitiv mit Tape an den Briefkasten geklebt. Aufgrund von Wind und Wetter war der Name schwer zu entziffern gewesen. Die Post musste sich beschwert haben. Aber es sah auch nicht aus, als ob dieser junge Mann sonderlich viel Post bekommen hätte. Es ragte nichts aus dem Briefkasten, und wenn er seit zwei Wochen tot war … Außerdem war ein großes, selbst gemachtes Werbung, nein danke!-Schild darangeklebt, also kamen vielleicht nicht viele Boten vorbei.
Sein Name war Alvin Weidemann Stürmer. Der klang deutsch und tauchte auf mehreren Webseiten auf, die sich mit Reptilien befassten. Aber er hatte auch bei Diskussionen über Musik mitgemacht. Rock. Heavy Rock. Sie zog die Beine auf dem Stuhl an. Obwohl sie, sobald sie zurückgekommen war, die Sandalen ausgezogen und die Füße auf der Toilette im Waschbecken mit Seife gewaschen hatte, kribbelte es immer noch unbehaglich in ihnen und sie musste die ganze Zeit nachsehen, ob sie etwas mit nach Hause geschleppt hatte. Aber zum Glück war es nur ein Gefühl. Das Spinnennetz in der Ecke über Nicolajs Tisch hatte sie bisher noch nie bemerkt, oder vielleicht doch, ihm nur keine Beachtung geschenkt. Dänische Spinnen sind für Menschen ungefährlich. Sie sind überall. Freddy sagte, dass sich immer eine Spinne weniger als einen halben Meter von einem entfernt befände.
Ein Profilbild tauchte auf, als sie nach Bildern suchte. Mit diesem speziellen Namen gab es keinen Zweifel, dass er es war. Die Haare des Toten waren wegen der Spinnweben kaum zu erkennen gewesen, aber jetzt konnte sie sehen, dass sie schulterlang und kohlschwarz gewesen waren. Auf dem Foto trug er einen schwarzen Hut. Sie ging zu dem Forum über Kriechtiere zurück, in dem er sich beteiligt hatte. Er schien eine ganze Menge über sie zu wissen, falls es nicht bloß Fakten waren, die er aus dem Internet ausgegraben hatte, wie es die anderen genauso gut selbst hätten tun können. Viele hatten auf seinen Eintrag, dass giftige Reptilien nicht gefährlich seien, wenn man es bloß verstand, mit ihnen zusammen zu leben, geantwortet. Man sollte selbst etwas von einem Reptil an sich haben, hatte er geschrieben. Aber warum gab es einen solchen Blog, wenn es in Dänemark illegal war, giftige Reptilien in Gefangenschaft zu halten? Aus dem gleichen Grund, aus dem man hier auch problemlos Drogen und anderes illegal kaufen konnte, ohne dass eingegriffen wurde.
Wenn sie nicht gefährlich sind, warum sollte man sie dann in Käfige einsperren?, hatte einer in dem Blog gefragt und Alvin hatte geantwortet, dass man das auch nicht müsse, das sei jedem selbst überlassen.
Traust du dich, die frei herumlaufen zu lassen?, lautete die nächste Frage.
Ja, das mache ich echt oft!
Idiot, dachte Anne. War es bloß eine Frage gewesen, sich zu beweisen? Grenzen zu überschreiten und anderen zu imponieren oder bloß zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen, wie es populär geworden war. Aber die giftigen Tiere konnten sich über ein großes Gebiet verbreitet haben und zur Gefahr für andere Menschen werden, und vielleicht war es unmöglich, sie alle zu töten. Sie konnten in die Häuser eingedrungen sein. Sie hoffte bloß, dass Freddy damit Recht hatte, dass sie in dem hiesigen Klima nicht lange überlebten. Aber konnten sich diese Arten nicht auch anpassen, wie so viele andere im Laufe der Evolution? Was nun, wenn einige der giftigen Schlangen doch in die friedliche, dänische Natur entwischt waren?
Überrascht schaute sie auf, als die Tür geöffnet wurde und Nicolaj hereinkam.
„Was willst du? Hast du nicht frei?“
„Warum sitzt du hier so?“
„Wie?“
„So auf dem Stuhl zusammengekauert. Ist der Fußboden dreckig?“
Anne entknotete sich und setzte sich normal hin.
„Was ist mit deinem Urlaub?“
„Ich hatte genug Urlaub und muss mit dir über etwas Wichtiges sprechen.“
„Hmm. Was kann so wichtig sein, dass man seinen Urlaub abbricht?“
Nicolaj zog ein wenig außer Atem seine Jacke aus und setzte sich. „Es ist etwas wirklich Spannendes passiert, Anne.“
„Ja, in der Tat. Ich habe dir auch etwas zu erzählen …“
„Ein Angebot, das wir nicht ablehnen können“, unterbrach er.
„Wir?“
„Ja, wir. Die Freelance-Journalisten ist ja unser gemeinsames Projekt, daher kann ich nicht einfach den Vertrag unterschreiben, ohne dich zuerst zu fragen.“
„Nein, jetzt bin ich wirklich neugierig.“ Erwartungsvoll lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und schaute ihn auffordernd an. Es musste ziemlich gut sein, um das zu schlagen, was sie zu erzählen hatte.
Nicolaj räusperte sich.
„Du weißt, dass es manchmal schwer ist, unsere Artikel zu verkaufen, stimmt’s?“
„Ach, ist das so schlimm? Ich finde, das läuft doch ziemlich gut.“
Sie nahm die Zigarettenschachtel und klopfte eine Hvid Kings ohne Filter heraus, steckte sie zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden, und wartete darauf, dass er fortfuhr. Er wollte doch wohl um Himmels willen ihre Redaktion nicht schon schließen? Sie suchte in dem Chaos auf dem Tisch nach dem Feuerzeug.
„Sowohl große als auch kleine Zeitungshäuser müssen dran glauben, und nun hatten einige von ihnen eine gute Idee. Sie tun sich mit einem großen, internationalen Medienhaus zusammen, das Niederlassungen in mehreren Ländern, unter anderem in den USA, England, Frankreich und Italien hat. Das in Dänemark soll Media House Denmark heißen und wird in ganz neuen Gebäuden am Hafen liegen.“
„Und?“ Sie fand das Feuerzeug unter einem Stapel Notizen.
„Der Redaktionschef, Joakim Boysen, hat mich kontaktiert. Ein supernetter Typ. So alt wie ich. Er hat vorgeschlagen, dass wir dem Haus als feste Journalisten angeschlossen werden, und …“
„Ich will echt nicht mehr festangestellt sein! Schon gar nicht in einem großen, internationalen Konzern“, murmelte Anne und zündete die Zigarette an. Noch so ein zwanzigjähriger Grünschnabel mit großem Titel, dachte sie. Was wurde aus den alten und erfahrenen Redakteuren, wie es Ivan Thygesen beim Tageblatt gewesen war? Einer, der sich über Jahre hinweg von Grund auf in der Branche hochgearbeitet hatte und nicht bloß mit eingebildeter Erfahrung direkt von der Schulbank kam. Thygesen hätte sich natürlich nie auf diese Art moderner Nachrichtenvermittlung eingelassen. Was wohl eigentlich aus ihm geworden war?
„Wir sollen auch nicht eingestellt werden, Anne. Alles bleibt wie jetzt, wir sitzen hier und arbeiten, aber unsere Artikel gehen nur an sie.“
„Was meinst du damit – nur an sie?“
„Das ist die Bedingung, in die wir im Vertrag einwilligen sollen. Wir dürfen keine Artikel für andere als Media House Denmark schreiben.“
„Erbärmlich! Ein großer Mediengigant, der bloß die übrigen Zeitungen in den Abgrund schubst?“
„Vielleicht. Aber sie können sich ja einfach anschließen, dann müssen sie nicht über die Klinge springen.“
„Ich sehe, dass du von dieser Idee begeistert bist, Nicolaj. Aber findest du das in Bezug auf unser Konzept nicht verkehrt? Wir wollten ja gerade den kleinen Zeitungen beim Überleben helfen, indem wir ihnen über das Nachrichtenportal auf Freelancebasis Artikel liefern, sodass sie nicht notwendigerweise ihre eigenen Journalisten anstellen müssen, wenn die Finanzlage angespannt ist. Das war ein Erfolg, das musst du doch zugeben.“
Nicolaj nickte, schluckte irgendetwas herunter und räusperte sich. Er lag ihm sehr daran, sie zu überzeugen, das konnte sie sehen.
„Jetzt hör mal, Anne. Falls wir …“
„Was soll aus www.nachrichten-online.dk werden? Unserem Nachrichtenportal. Soll das vielleicht einfach dichtgemacht werden?“
„Nicht unbedingt. Darüber müssen wir mit Joakim sprechen.“
Joakim! Nicolaj war bereits beim Vornamen.
„Kennst du den Typ?“
„Ein bisschen. Wir sind zusammen auf die Journalistenschule gegangen. Er ist echt ein feiner Kerl.“
„Ich weiß nicht …“
„Wir kriegen ein festes Gehalt, Anne. Ein dickes Gehalt. Schluss damit, nicht zu wissen, wie viel Geld am Monatsende zum Teilen übrig ist. Wir können international Karriere machen.“
„Aber es dauert doch sicher lange, bis sie am Hafen bauen?“
„Ja, das braucht natürlich seine Zeit. Aber in der Zwischenzeit haben sie einige große Räume im Brendstrupgårdsweg in Aarhus Nord gemietet.“
Anne nickte nachgebend.
„Hmm. Und wann sollen wir dann anfangen zu arbeiten – nur für sie?“
„Sobald der Vertrag unterschrieben ist. Du willst also?“
Anne machte sich normalerweise immer über die übertriebene Begeisterung lustig, die Nicolaj an den Tag legen konnte, wenn etwas nach seinem Kopf ging. Aber die Unsicherheit bei dem Beschluss rief kein Lächeln hervor. Das mit dem Geld war dennoch verlockend, musste sie zugeben. Die Miete für die Wohnung, in der sie aufgrund von Renovierungsarbeiten wohnte, war gerade erhöht worden, daher brauchte sie es. Und sie könnten ja zunächst mal einen befristeten Vertrag unterschreiben.
„Wie lange gilt dieser Vertrag? Falls wir es bereuen und zurück zu dem Konzept der Freelance-Journalisten wollen würden?“
„Ich bin mir sicher, dass wir Joakim problemlos zu einer Probezeit überreden können. Was sagst du, Anne?“
Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und schüttelte den Kopf, aber trotzdem entwich ein „Meinetwegen“ zusammen mit dem Rauch, als sie ihn aussickern ließ.
„Yes!“ Nicolaj stand auf und klatschte begeistert beide Hände fest auf den Tisch, sodass die Papiere tanzten. Einen Augenblick lang sah es aus, als ob er sich auch darüber werfen und sie umarmen wollte, aber das ließ er zum Glück bleiben. Dafür war sie auf jeden Fall nicht in der Stimmung. Gab es etwas zu bejubeln?
„Jetzt fehlt uns bloß noch ein Fall, der unseren neuen Chefredakteur beeindrucken kann“, sagte er stattdessen.
„Den haben wir schon“, meinte Anne ohne den gleichen Enthusiasmus wie ihr Partner.
„Welchen? Ein Mord?“
„Wie man’s nimmt. Ein Mann wurde von seinen eigenen Haustieren getötet, weil er sie rausgelassen hat, daher weiß ich nicht so recht.“
„Warst du vor Ort?“
Anne nickte, die Zigarette zwischen den Lippen festgeklemmt und das eine Auge aufgrund des Rauchs halb geschlossen. Sie drehte ihren Laptop, sodass der Bildschirm zu ihm zeigte.
„Hier kannst du die Fotos sehen, die ich gemacht habe.“
„Pfui Spinne!“ Nicolaj wich ein Stück zurück, als ob die Krabbeltiere daraus herausströmen würden, als sie weiter scrollte und das Bild der verpuppten Leiche den Bildschirm füllte.
Anne nahm einen weiteren Zug von der Zigarette und legte sie in den Aschenbecher. Rieb sich die Augen.
„Ja, das war kein schöner Anblick, und dabei ist hier noch nicht mal der Geruch dabei.“
„Wer hat ihn gefunden?“
„Ich.“
„Du?! Geil!“
Anne erzählte ihm von Freddys Anruf und all den Spinnweben auf dem Feld beim Fajstrup Krat. Dem Sägewerk und ihrer Idee, den merkwürdigen Mann zu besuchen, der beim Bauern warme Eier in einer bestimmten Größe kaufte.
„Du hast Fotos von Natalie bei der Arbeit gemacht – und den Kriminaltechnikern. Wie hast du … war es, weil du den Fund gemacht hast, dass Benito dich nicht sofort rausgeworfen hat?“
„Benito macht Urlaub in seinem Heimatland, er war nicht da. Wusstest du das nicht?“ Der Tonfall verriet, dass sie darüber verstimmt war, ihn nicht getroffen zu haben. Sie hatten lange nicht miteinander gesprochen.
„Er ist nicht in Urlaub, Anne. Er ist suspendiert. Kommt sicher nie mehr zurück. Sieh den Tatsachen ins Auge.“
Aber das war genau der Gedanke, den sie sich zu denken weigerte. Nicolaj war mit dem Benito-Fall beschäftigt, er verfolgte laufend die Entwicklung und war dabei, den Vorfall zu untersuchen und Rolands Vergangenheit zu durchforsten. Selbstverständlich hatte er etwas falsch gemacht. Etwas Illegales. Besonders als Kriminalkommissar, aber wer hätte als richtiger Mensch aus Fleisch und Blut und Gefühlen nicht so gehandelt wie er?
„Weißt du was?“
„Ich weiß, dass er suspendiert ist, aber der Fall wird verhandelt.“
„Etwas, das ich nicht weiß.“
„Sowohl der Staatsanwalt als auch die DUP arbeiten daran, also …“
„DUP?“
„Die Unabhängige Polizeibehörde. Die kümmern sich um Klagefälle, die die Polizei betreffen. Es gibt neue Regeln, die gerade erst in Kraft getreten sind, weil einige über den Klüngel in dem alten Beschwerdeausschuss geklagt haben. Dein lieber Benito hat nämlich ganze zwei Anklagepunkte, die verhandelt werden. Der eine von der Staatsanwaltschaft, der andere von der DUP.“
„Ich dachte, es ginge nur um die Organsache.“
„Das ist eigentlich auch der gleiche Fall. Das heißt, der eine hat zu dem anderen geführt. Benito hat sich mit mehreren Ärzten im Leichenschauhaus der Privatklinik geprügelt. Diesen Fall behandelt die DUP.“
„Er hat was gemacht?! Wieso in aller Welt …“
Anne fiel es schwer, diese Situation vor sich zu sehen. Der ruhige, ausgeglichene Roland Benito in einer Schlägerei.
„Das war eigentlich aus gutem Grund. Er dachte ja, als die Ärzte seine Frau retten wollten, dass sie ihr etwas zuleide tun wollten, daher …“
„Armer Roland“, sagte sie und meinte es so. „Aber das müssen die doch verdammt noch mal in Betracht ziehen. Alles, was er getan hat, war ja, um sie zu retten. Glaubst du wirklich, er wird entlassen?“
Nicolaj zuckte die Schultern.
„Spendierst du mir eine Zigarette? Ich habe meine in der Eile vergessen.“
Anne schmiss ihm ihre Packung hinüber.
„Das sind aber keine Prince.“
„Nein, ich werd’s überleben. In diesen hier ist ja wohl auch Nikotin. Aber erzähl mir mehr von diesen Viechern. Was wollen die damit machen?“
„Freddy will versuchen, sie unterzubringen, ansonsten werden sie getötet.“
„Ja, ich hoffe, das klappt. Eine meiner Freundinnen ist Studentin und arbeitet darüber hinaus für den WWF an einer Kampagne gegen Wilderei und illegalen Handel mit bedrohten Tierarten. Sie geht darin ziemlich auf und hat auf Facebook eine Menge über diesen Schmuggel geschrieben.“
„Weiß sie auch etwas über Reptilien?“
„Bestimmt. Soll ich sie kontaktieren?“
„Ja, gerne! Freddy hat auch über Schmuggler geredet, vielleicht weiß deine Freundin was.“ Sie lächelte ein bisschen listig. „Du hast echt ein paar sehr nützliche Freundinnen, Nicolaj.“
„Ja, und Freunde, die unsere Zukunft sichern“, lächelte er, zog das Telefon zu sich herüber, zündete eine Hvid Kings an und tippte mit dem kleinen Finger schnell eine Nummer ein, während er die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt.
Anne antwortete nicht. Sie war immer noch nicht sicher, ob es eine gute Idee war, sich einem großen Konzern anzuschließen. Sie schaute zu Nicolaj. Seine Stimme klang ganz anders, als er mit der Freundin sprach, fast zärtlich. Vielleicht verlegen. Sie überlegte, wie gut er diese Studentin wohl kannte. Unvermittelt reichte er ihr das Telefon.
„Sie heißt Patricia. Sie will gerne mit dir sprechen.“
„Mit mir? Ja, aber, warum soll ich …“
Anne hatte zuerst ein gedämpftes Atmen am Ohr, dann eine junge, eifrige Stimme. Sie hörte deutlich, dass es jemand war, der für seine Sache Feuer und Flamme war.
„Ich freue mich total, dass du das Thema aufgreifen willst, Anne“, fing sie an und Anne schielte wütend zu Nicolaj, der auf etwas auf seinem Bildschirm konzentriert war. Sicher eine Menge E-Mails, da er ja drei Tage weg gewesen war.
„Die Schmuggler nutzen ein Schlupfloch im Washingtoner Artenschutzabkommen. Es stehen nun ungefähr 5000 Tierarten auf der Liste, mit denen zu handeln illegal ist, und ständig kommen weitere dazu. Es gibt drei Listen.“ Patricia machte eine Pause. Es klang, als schriebe sie gleichzeitig auf einer Tastatur oder säße neben jemandem, der es tat.
„Warum ganze drei?“
„Um sie aufzuteilen. Liste I umfasst Tiere, die kurz vor dem Aussterben sind, zum Beispiel Meeresschildkröten, Leoparden, Geparden, Tiger, Orang-Utans und weitere. Die Tiere auf der Liste II sind bedrohte Arten, dazu gehören Krokodile und Papageien, während die Arten auf Liste III lokal gesetzlich in dem Land geschützt sind, das sie auf die Liste gesetzt hat. Mit den Arten auf Liste II und III darf man also eigentlich handeln, aber nur, wenn es eine Genehmigung gibt, zum Beispiel für Zoos oder andere Tierparks.“ Sie machte wieder eine Pause, es hörte sich an, als ob sie etwas trinken würde. „Aber dann gibt es Tiere, die in Gefangenschaft aufgezogen wurden, und hier kommt das Schlupfloch. Die sind nämlich nicht geschützt und es ist viel zu leicht zu behaupten, dass ein eingefangenes wildes Tier in Gefangenschaft gelebt hat. Es gibt da keine richtigen Kontrollen.“
„Also sagen die Schmuggler einfach, dass die gefangenen Tiere aufgezogene sind?“
„Genau.“
„Was ist mit Reptilien? Zu welcher Liste gehören die?“
„Reptilien können auf allen Listen stehen, viele davon sind am Aussterben und das wäre eine Katastrophe für die Ökosysteme der Erde.“
„Ach, ich könnte schon ganz gut ohne Spinnen und Schlangen leben“, meinte Anne und zog die Beine wieder an.
„Du könntest das vielleicht, ja. Aber stell dir mal vor, wie groß die Menge von Fliegen und anderen Insekten werden würde, deren Bestand die Spinnen niedrig halten. Und Mäuse, Ratten und andere Nager, von denen die Schlangen leben. Alle Tierarten haben eine Funktion, die der Umwelt nützt, egal ob sie unheimlich hässlich oder total süß sind.“
„Hmm. Aber was wäre, wenn wir hier Tierarten hätten, die nicht in unsere Umwelt passen?“
„Woran denkst du?“
„Wenn sich nun zum Beispiel die Schwarze Witwe hier niederlassen würde. Oder Skorpione?“
„Aus natürlichen Ursachen leben die hier nicht. Das Klima ist zu kalt für sie und es gibt nicht genug Futter. Sie leben in warmen Gebieten, wo es mehr Insekten zu fressen gibt. Es ist kein Zufall, dass sie dort leben, wo es den größten Bestand einzudämmen gilt. In dem Ganzen ist ein System und das dürfen wir nicht zerstören.“
„Aber trotzdem gibt es hier welche, die es spannend finden, diese Art Tiere in Gefangenschaft zu halten.“
„Ja, leider. Deswegen gibt es auch Schmuggler. Je gefährlicher, desto spannender, so ist das in der Regel. Die seltenen und gefährlichen bringen den Schmugglern auch das meiste Geld ein. Aber wir tun, was wir können, um das zu stoppen. Unterstützt du nicht den WWF?“
Obwohl in der Stimme ein Lächeln lag, als sie fragte, hörte Anne den Ernst. Die Organisation brauchte Geld, um die große Arbeit auszuführen, dafür zu sorgen, dass das zerbrechliche Ökosystem der Erde nicht zerstört wird. Sie kämpften für den Erhalt des Regenwalds, der Korallenriffe, der Tiger, Berggorillas, Eisbären und, wie es aussah, auch der Schlangen und Spinnen.
„Wisst ihr etwas über die Schmuggler?“
„Leider nicht genug. Schon gar nicht über die Hintermänner. In der Regel benutzen sie Mittelsmänner. Gefährliche und bedrohte Tiere zu schmuggeln ist mindestens genauso gewinnbringend wie Drogen. Ein Tier ist mehr wert als reines Gold und eine seltene Schildkröte oder ein Komodowaran kann für viele tausend Kronen verkauft werden. Die wenigsten Schmuggler werden erwischt, die sind richtig gut darin, die armen Tiere in legalen Sendungen zu verstecken, die Zollbeamten zu bestechen oder Unterlagen zu fälschen. Die Strafe, falls sie gefasst werden, ist nicht schlimmer als bei einem Knöllchen, also ist es eigentlich egal.“
Anne bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Nicolaj auf und ab trabte und anscheinend ein Telefonat führte, das ihn begeisterte. Sie hoffte, dass es nicht dieser Joakim wegen des Vertrags war, denn sie war immer noch im Zweifel, ob sie unterschreiben sollte. Nicolaj setzte sich an seinen Computer, sobald sein Gespräch beendet war, und sah hochkonzentriert aus. Er kaute am Nagel seines kleinen Fingers. Ein Zeichen dafür, dass er aufgekratzt war.
Patricia war diejenige, die das Gespräch beendete, indem sie sagte, Anne könne sie jederzeit kontaktieren, falls sie weitere Fragen wegen ihres Artikels habe.
„Wer war das, Nicolaj?“
„Natalie …“
„Ach, deine andere nützliche Freundin. Was wollte sie?“
„Sie ist mit der Obduktion fertig, die Todesursache ist ein Schlangenbiss.“
„Das ist ja nicht überraschend, aber welche? Das kann sie wohl nicht sagen?“
„Das ist ein bisschen schwerer, aber Natalie meint, es herausgefunden zu haben, indem sie die Bissstelle abgewischt und das Blut zu immunologischen Untersuchungen auf Schlangengift eingeschickt hat. Die Untersuchung hat Schlangengift nachgewiesen, das auf eine Königskobra hindeutet. Ich habe sie gegoogelt.“
Er las vom Bildschirm ab.
„Die Königskobra ist die größte Giftschlange der Welt, sie kann bis zu sechs Meter lang werden. Sie ernährt sich hauptsächlich von anderen Schlangen. Das größte Vorkommen von Kobras findet man in Südostasien, wo sie jedes Jahr für den Tod mehrerer hundert Menschen verantwortlich sind. Sie produzieren Nervengift in Speicheldrüsen, die direkt hinter ihren Augen sitzen. Das Gift greift das zentrale Nervensystem an und kann deshalb zu Atemlähmung und einem Herzstillstand führen. Mit einem einzigen Biss kann die Königskobra mit ihren 1,25 Zentimeter langen Giftzähnen eine große Menge Gift injizieren, was ausreicht, um einen Menschen in wenigen Minuten und einen Elefanten innerhalb von drei Stunden zu töten. Ach du Scheiße!“
„Das ist bestimmt passiert, als er sie aus dem Terrarium gelassen hat“, murmelte Anne. „Aber warum hat er keinen Krankenwagen gerufen? Es gibt doch sicher ein Gegengift, das ihn hätte retten können.“
„Er hat es wohl nicht geschafft. Oder es war vielleicht Selbstmord. Ich hoffe echt, dein Biologenfreund hat sie gefunden, sodass sie getötet wurde. Mensch, wird Joakim beeindruckt sein!“