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Kapitel 8

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Anne Larsen war verblüfft, wie viele unter der großen Blutbuche erschienen waren. Die mit gelben Westen bekleidete Gruppe füllte die komplette Rasenfläche.

„Hey, haben Sie Ihren Kameramann nicht dabei?“, fragte Karen, die mit ausgestrecktem Arm eine Zigarette hielt, um den Rauch zu vermeiden, den sie wegen des Windes trotzdem ins Gesicht bekam.

„Der kommt später. Er musste heute seine Kinder aus dem Kindergarten abholen.“

Karen nickte und beobachtete ein paar Leute, die gerade an der Haltestelle direkt gegenüber aus dem Bus gestiegen waren. Sofort wurde ihnen in gelbe Warnwesten mit dem Missing Children-Logo auf dem Rücken geholfen.

„Sie müssen auch so eine anziehen und sich dann registrieren lassen“, sagte Karen und deutete mit der Zigarette auf den, der die Westen austeilte.

„Registrieren?“

„Ja, das müssen alle Freiwilligen, die zu einer Suchaktion kommen, damit wir wissen, wer mit draußen ist, und uns so vergewissern können, dass alle wieder mit nach Hause kommen.“ Karen ließ die Zigarettenasche auf den Bürgersteig rieseln und nahm mit zusammengekniffenen Augen einen weiteren Zug.

Anne bekam auch Lust auf eine Zigarette. Auf dem Weg zu dem Typen mit den Westen fand sie die Schachtel in der Hosentasche. Er war damit beschäftigt, auszuteilen und Leute aufzuschreiben.

„Du bist über achtzehn“, stellte er mit einem kurzen Blick auf sie fest.

„Ja, das kann ich sicher nicht leugnen. Muss man das sein?“

Er schrieb ihren Namen, ihre Adresse und Telefonnummer unter die anderen auf den Block.

„Ja, um an der Suche teilnehmen zu können schon.“

Er reichte ihr eine Weste, ohne sie noch mal anzusehen.

„Hast du keine kleinere?“, fragte sie und versuchte Blickkontakt herzustellen, aber er war bereits dabei, die Daten des nächsten Freiwilligen aufzunehmen.

„Nee, die sind One Size“, antwortete er mit einem schnellen Seitenblick auf sie. Er konnte sicher auch sofort sehen, dass ihre kleine, dünne Gestalt vollständig in dieser großen Weste verschwinden würde, aber da er bedauernd die Schultern zuckte, schlüpfte sie in die Weste, klopfte eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an.

„Was ist der Plan? Wo sollen wir suchen?“, fragte sie Karen.

Ein korpulenter, glatzköpfiger Mann mittleren Alters mit Unterbiss, dessen Kopf an einen Seewolf erinnern ließ, faltete eine Karte der Umgebung auf; ein anderer half ihm dabei, sie auf der Bank im Buswartehäuschen ausgebreitet zu halten. Sie unterhielten sich gedämpft.

„Die Polizei hat uns einen Sektor zugeteilt, in dem wir suchen sollen. Wir sollen den Riis Wald durchsuchen.“

Anne sah sie skeptisch an. Machte die Polizei so etwas wirklich?

„Den ganzen Wald? Aber können wir das schaffen, bevor es dunkel wird?“

„Mit der Anzahl Freiwilliger, die erschienen ist, gehe ich fest davon aus“, sagte Karen und lächelte stolz.

„Aber warum ausgerechnet dort?“

Karen sah nach unten auf die Asche ihrer Zigarette und wieder zu Anne. „Zeugen haben gesehen, wie eine Frau mit einem Kinderwagen den Grenåvej überquerte, in den Wald und dann den Marienlundsvej entlangging.“

Anne konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln, und verfolgte mit den Augen den aufsteigenden Zigarettenrauch. Ein Flugzeug zeichnete einen weißen Streifen an den blauen Himmel. „Aber das könnte ja auch einfach jemand gewesen sein, der einfach nur gerade mit einem Kinderwagen spazieren war, oder nicht?“

„Doch, wenn die Beschreibung des Kinderwagens nicht so präzise gewesen wäre. An Emils hing ein total niedlicher Plüschelefant. Der vierjährige Sohn der Zeugin war davon ganz hingerissen und wollte ihn näher anschauen, als sie vorbeigingen, aber die Frau – die übrigens eine Burka trug – hatte sie wütend angesehen und war weggeeilt. Eine sehr unnatürliche Reaktion gegenüber einer anderen Mutter.“

„Wie konnte die Zeugin erkennen, dass die Frau sie wütend angeschaut hat, wenn sie eine Burka trug? Die Augen sind da doch verborgen.“

„Tja, dann war es wohl doch keine Burka.“

„Aber wir suchen also nach einer Frau mit muslimischer Kleidung und einem Kinderwagen mit einem blauen Elefanten?“

Karen schüttelte den Kopf. „Wir suchen in erster Linie nach dem Kinderwagen und Emil. Die Polizei sucht nach dieser muslimischen Frau. Eine weitere Zeugin hat sie nämlich auf dem Parkplatz beim Restaurant Sjette Frederiks Kro gesehen. Ohne Kinderwagen. Sie ist die Treppe zum Tunnel in Richtung Strandbad Den Permanente hinuntergehastet. Ab da wissen wir nicht, wo sie abgeblieben ist.“

„Dann hat die Frau möglicherweise Emil in seinem Kinderwagen im Wald stehen lassen?“

„Vielleicht nur den Kinderwagen.“

„Hatte sie Emil denn dabei?“

Anne bekam keine Antwort, weil der Seewolf unterbrach, als er mit der Karte zu ihnen kam. Er grüßte Anne mit einem freundlichen Nicken. Karen bekam ein schnelles Briefing, während der Mann mit seinem Zeigefinger auf der Karte herumdeutete. Das Summen von Stimmen stoppte schlagartig, als Karen das Wort ergriff und mit lauter Stimme den Verkehrslärm vom Grenåvej, der Nördlichen Ringstraße, dem Skovfaldet und der Marienlunds Allé zu übertönen versuchte. Der Treffpunkt lag wie eine kleine Oase inmitten der vier vielbefahrenen Straßen. Anne entdeckte Flash und winkte ihn zu sich heran. Er unterhielt sich mit Emils Eltern, die auch gekommen waren. Peder starrte beinahe manisch vor sich hin, während Tara sich gefasst zu haben schien und kerzengrade stand.

Karen begann damit, von Emils Entführung zu berichten und was das Ziel der Suche war. Sie sollten den Kinderwagen mit dem blauen Elefanten und dem drei Monate alten Emil finden. Anschließend berichtete sie von dem Terrain, in dem sie suchen sollten und von der Rechtslage, die ihnen in Ausnahmefällen erlaubte, private Grundstücke und Gebäude zu betreten, wenn ein hinreichender Verdacht bestand, dass der Vermisste in Lebensgefahr war, wenn sie nicht hineingingen.

Anne begegnete Flashs Blick. Er runzelte die Stirn und schien sich zu wundern. Obwohl sie als Journalistin ab und zu selbst mal das Gesetz übertrat, war ihr eine solche Ausnahmeregel nicht bekannt. Sie musterte die Freiwilligen, die alle aufmerksam zuhörten, und überlegte, was ihre jeweiligen Beweggründe für die Teilnahme sein mochten. War es aus dem gleichen Antrieb wie dem ihren? Neugier? Der Drang, Verbrechen aufzuklären? Oder war es die bloße Spannung und Lust, die eigenen Grenzen zu überschreiten oder sah mancher es als ein Spiel, Räuber und Gendarm, wie damals als Kinder? War der Entführer vielleicht unter ihnen, nur, um Spuren zu verwischen, falls sie welche fanden? Es war nur ein Einziger mit dunkler Hautfarbe dabei, aber das war ein junger Mann. Vielleicht hatte er einen Niqab und ein schwarzes Kleid getragen, als er Emil entführte. Wer wusste, was sich unter der Kleidung verbarg? Sie bremste ihre überschäumende Fantasie. Was war überhaupt das Motiv, ein drei Monate altes Baby zu entführen?

Zum Schluss erklärte Karen, wie sie sich in Formation durch den Wald bewegen sollten.

„Wir fangen damit an, hier auf dem Bürgersteig entlang des Dronning Margrethes Vej eine Kette zu bilden. Tara und Peder gehen in die Mitte. Danach bewegen wir uns langsam nach vorn zwischen die Bäume und durchsuchen den Wald mit einem passenden Abstand zwischen uns, damit wir möglichst nichts übersehen. Ich bin die Leiterin dieser Gruppe und meine Aufgabe ist es, den Suchtrupp zu führen und sicherzustellen, dass alle Verhaltensregeln eingehalten werden. Ich laufe ganz hinten. Diejenigen, die am weitesten in den Wald hineingehen, binden ungefähr alle zehn Meter rot-gelbes Markierungsband an die Bäume. Wenn der Wald dichter wird, rücken wir näher zusammen, wenn er offener wird, können wir uns mehr verteilen.“

Karen legte eine Pause ein und blickte über die Versammlung.

„Spuren, Gegenstände und ähnliches, die wir unterwegs finden, müssen an den Ermittlungsleiter der Polizei übergeben werden, der zur genaueren Untersuchung damit weiterarbeiten kann. Denkt daran, sie mit Absperrband abzusichern, falls ihr etwas findet.“

Sie drückte die Zigarette auf dem Bürgersteig aus und warf den Stummel in den Mülleimer neben dem Bushäuschen. Anne tat es ihr gleich.

„Sind alle bereit? In erster Linie konzentrieren wir uns auf den südlichsten Teil des Waldes. Beobachtet alles aufmerksam. Untersucht das Unterholz und schaut auch nach oben in die Bäume, auch wenn wir es nicht mit einer Selbstmorddrohung zu tun haben. Nach der Suche treffen wir uns vor dem Strandbad Den Permanente.“

„Laufen wir einfach mit?“, flüsterte Flash hinter Anne. Er trug die Kamera auf der Schulter.

„Wir laufen einfach mit, ja. Film alles, was du kannst, dann schneiden wir es hinterher zusammen“, meinte sie.

Sie gingen los.

„Warum sollen Tara und Peder ausgerechnet in der Mitte gehen?“, fragte sie hinter Karen.

„Normalerweise empfehlen wir nicht, dass die Angehörigen bei der Suche dabei sind. Wir wissen ja nie, was wir finden. Typischerweise sind es die Leute ganz vorn oder hinten in der Kette, die etwas finden. Um zu vermeiden, dass die Angehörigen auf eigene Faust losziehen, nehmen wir sie in einem erfahrenen Suchtrupp mit, wo sie dann in der Mitte gehen dürfen. Einigen Angehörigen hilft es, etwas Aktives zu tun, statt nur zu Hause zu sitzen und auf Nachrichten zu warten.“

„Was sagt die Polizei dazu, dass ihr euch in die Suche einmischt?“, wollte Anne wissen und sah sich nach Flash um, der anfing, die gelbe Gruppe zu filmen, die zwischen den Bäumen verschwand, während sie wie Spürhunde auf den Waldboden starrten. Das Logo auf ihren Rücken signalisierte klar, dass sie für Missing Children Denmark arbeiteten.

„Wir haben eine sehr gute Kooperation mit der Ostjütländischen Polizei.“ Karen bog einen Zweig zur Seite und lächelte Anne zu. „Eigentlich dürfen wir es nicht Kooperation nennen. Öffentliche Instanzen dürfen nicht mit einer privaten Vereinigung oder Organisation zusammenarbeiten, daher haben die Juristen bei der Polizei dafür gesorgt, dass wir zusammenarbeiten können ohne zusammenzuarbeiten. Das machen wir auch in den Fällen, wenn uns die Angehörigen kontaktieren und es wünschen. Wir vergewissern uns immer, dass sie zuerst die Polizei kontaktiert haben.“

Anne stolperte über etwas und stützte sich an einem Baumstamm ab, um nicht hinzufallen. Sie beeilte sich nachzusehen, ob es etwas Wichtiges war, das ihr ein Bein gestellt hatte, aber es war bloß eine Baumwurzel, die unter trockenen Blättern verborgen war.

„Aber ihr dürft doch sicher nicht alle Fälle annehmen?“

Karen schüttelte den Kopf. „Nein, auch da gibt es klare Regeln. Wir führen immer zuerst ein kleines Interview mit den Angehörigen für unsere Überprüfung des Falles, bevor wir ihn annehmen. Damit sind wir heute Nachmittag gerade fertig geworden, als ihr kamt. Während der Überprüfung kontaktieren wir die Polizei, um zu hören, ob es irgendwelche Gründe gibt, warum wir uns nicht einmischen sollten. Das kann zum Beispiel bei offensichtlichen Mordfällen sein, oder falls der Vermisste in einem Prozess ausgesagt hat und seitdem im Zeugenschutzprogramm ist, oder falls die Polizei in anderen Zusammenhängen eine Ermittlung gegen den Vermissten anstellt, die sie nicht dadurch gefährden will, dass freiwillige Amateure Spuren und Beweise zerstören. Aber das gilt ja in der Regel nicht für Kinder“, lächelte sie, bückte sich und bürstete einige Blätter von einer zerdrückten Coladose, die sie aufhob und in eine Tüte steckte.

„Glaubst du, die hat eine Verbindung zu Emil?“, fragte Anne zweifelnd.

„Nee, aber wo wir schon mal hier sind, können wir ja auch genauso gut aufräumen. Wir finden viele Dinge: im Wald verstecktes Diebesgut, Drogen und Haschpflanzen, Unmengen von benutzten Kondomen, aufblasbare Gummipuppen, Fahrräder und Mofas, Unterwäsche, Hosen, Jacken, Mützen und Handschuhe.“ Karen wischte sich irritiert Spinnweben aus dem Gesicht. „An einem Tag haben wir 24 verschiedene Schuhe gefunden. Die Leute sind solche Schweine, wenn sie in der Natur unterwegs sind.

„Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Anne grinste. „Ihr benutzt also Absperrband wie das der Polizei, wenn ihr Spuren findet?“

Anne war an ein schnelleres Tempo gewöhnt, aber wenn man es schaffen sollte, jedes einzelne Detail um sich herum zu untersuchen, ohne draufzutreten oder es zu übersehen, konnte es nicht schneller gehen. Außerdem war der Wald an manchen Stellen schwer zu durchdringen aufgrund von Büschen und Gestrüpp. Flash war nicht zu sehen und ging sicher bei denen mit, die weiter vorne in der Kette liefen.

„Ja, aber nicht ganz wie das der Polizei. Wir haben unser eigenes. Es ist rot-gelb-gestreift, nicht rot-weiß wie das der Polizei. Es ist selbstauflösend und natürlich biologisch abbaubar, sollten wir also mal vergessen, es wieder zu entfernen, verschwindet es nach circa einer Woche von allein.“

„Clever“, nickte Anne. Eine Weile gingen sie schweigend. Die Vögel zwitscherten und wäre da nicht die Befürchtung, eine Babyleiche im Unterholz zu finden, hätte es ein ganz normaler gemütlicher Abendspaziergang sein können.

„Wenn Emil nun nach einer Weile immer noch nicht gefunden wird, wenn er nun tot ist, was passiert dann?“

Sie zuckten beide vor Schreck zusammen, als eine Waldtaube plötzlich abhob und sie bei ihrer Flucht beinahe traf.

„Wenn die Sache jetzt von einem Hot Case, das heißt, dass wir vermuten, dass Emil am Leben ist, zu einem Cold Case wird, was bedeutet, dass man glaubt, er sei tot – jetzt im Sommer typischerweise nach vier bis fünf Tagen – dann drosselt die Polizei stark. Sie suchen nicht länger aktiv draußen im Terrain, aber die Ermittlungsabteilung bei der Polizei führt den Fall fort und dann stimmen wir uns mit dem Ermittlungsleiter ab.“

„Dann müsst ihr euch wohl zurückziehen?“

„Nein, tatsächlich übernimmt Missing Children dann auch die anderen Sektoren, da wir weitersuchen, bis Emil gefunden wird. Tot oder lebendig.“

„Aber was ist, falls es sich wirklich als ein Mordfall entpuppt?“

„Wenn wir die Sache untersucht haben und die Polizei grünes Licht gegeben hat, dann hat unsere Einsatzgruppe täglich Kontakt mit dem Ermittlungsleiter bei der Polizei. Die meisten Fälle sind Gott sei Dank verhältnismäßig unschuldig, aber wir haben immer vor Augen, dass ein Verbrechen passiert sein kann und wir deswegen innerhalb weniger Sekunden eine Suche abbrechen können müssen, wenn wir bemerken, dass sich der Charakter der Sache ändert. Darin sind wir gut. Nachdem die Polizei erlebt hat, wie wir kommunizieren und mehrere Hundert freiwillige Sucher koordinieren, vielleicht sogar ein paar Tausend – bezeichnen sie uns nicht mehr als Amateure.“

„Dann hat das also jemand gemacht?“

„Natürlich. Einige Beamte sehen uns als Bedrohung für ihren Job. Jedenfalls, bis sie herausfinden, wie wir arbeiten. Unser Einsatztrupp beziehungsweise Team besteht aus mindestens drei Personen, die jeweils verschiedene besondere Fähigkeiten haben. Wir haben einen Leiter, der den Überblick über die ganze Sache und sein Team hat.“ Karen deutete auf sich selbst. „Ich bin auch diejenige, die mit der Presse und der Polizei kommuniziert. Dann gibt es einen Assistenten, der alles über Karten und das Terrain, Erkundung, Wasserabfluss, Drän, Salzgehalt im Hafenbecken, Verwesungszeit des Körpers, Blutgerinnung und all das Technische weiß. Das ist Valde Storm, den du vorhin begrüßt hast, als er mit der Karte kam. Auf diesem Gebiet ist er Experte. Dann gibt es einen weiteren Assistenten, der der Angehörigenkontakt ist und die Verantwortung dafür trägt, aus den Informationen, die wir bekommen, ein Phantombild des Vermissten zu zeichnen. Das ist Sidse, die du auch getroffen hast. Es wird ein Zeitstrahl erstellt, der von dem Zeitpunkt, an dem der Verschwundene zuletzt gesehen wurde, zwanzig Tage zurückgeht. Auf diese Weise können wir das Verhaltensmuster der Person sehen. Bei Emil mit erst drei Monaten bringt das natürlich nichts, aber bei einem größeren Kind wäre es sehr nützlich gewesen. Der Betreffende ist auch dafür verantwortlich, die Angehörigen in jeder Hinsicht zu unterstützen. Sidse ist ausgebildete Psychologin. Sie begleitet Tara und Peder in der Mitte der Kette, damit sie sofort da ist, falls etwas Unangenehmes passiert. Während der Suchen können weitere Assistenten nötig sein, je nach Umfang des Falls, Anzahl der Suchenden etc.“

„Das klingt ja fast wie professionelle Polizeiarbeit“, sagte Anne ein wenig außer Atem.

Sie hatten die Spielwiese mitten im Riis Wald erreicht. Der Platz wurde besonders von Vereinen und Schulen genutzt. Jetzt saßen ein paar Kinder an einem der Tische, aßen Pizza und wirkten verblüfft, als die Helfer in alle Mülleimer schauten. Anschließend gingen die Kinder in die Grillhütte und spielten dort. Die Hütte ähnelte einem Pavillon und und enthielt außer der Feuerstelle in der Mitte Holztische und -bänke.

In der Grillhütte war nichts, das mit einem kleinen Baby zu tun haben konnte, und Anne merkte, wie die Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, das sie auf Emils Spur brachte, langsam schwand. Sie blieb jedoch abrupt stehen, als eine Stimme in der Kette weiter vorne „STOPP!“ rief und Karen es an den Rest der Kette weitergab, sodass alle anhielten.

„Hier ist was!“, sagte das Mädchen, das gerufen hatte. Sie deutete auf das Gras neben dem Kiesweg. Dort lag ein blauer Schnuller, auf dem „Emil“ eingraviert war. Karen machte mit ihrem Handy ein Foto davon und legte den Schnuller in eine Tüte. Tara und Peder kamen zu ihnen hinübergelaufen und Tara schlug panisch die Hände vor den Mund, als sie den Schnuller in der durchsichtigen Tüte sah.

„Das ist Emils! Den hatte er im Mund, als wir ihn draußen schlafen gelegt haben. Das ist ein Taufgeschenk von meiner Mutter!“, schluchzte sie zu Peder, als ob ihm das nicht klar wäre.

„Vielleicht hat der Entführer die Waldwege genommen, um nicht auf der Straße gesehen zu werden. Jetzt wissen wir, dass sie hier gewesen sind“, stellte Karen fest und nickte Sidse zu, die sich um die weinende Mutter kümmerte.

„Sie muss Emil dabeigehabt haben, aber wo ist dann der Kinderwagen?“, murmelte Anne halblaut, als sich die Kette wieder durch den Wald bewegte.

Karen antwortete nicht. Sie sah unter die Büsche und ging langsam weiter. Anne konnte andere direkt in der Nähe reden hören. Die ganze Kette freiwilliger Sucher in gelben Westen bildete eine Linie auf dem Weg zur Bahn und zum Meer, wo sie nicht weiterkommen würden.

„Sucht die Polizei auch – in einem anderen Gebiet?“, fragte sie.

Karen hustete und verscheuchte ein Insekt von ihrem Gesicht. Sie nickte. „In Dänemark ist es immer die Verantwortung der Polizei, verschwundene Personen zu finden. Das heißt, wenn es sich um einen Hot Case handelt, bestimmt die Polizei, wo Missing Children suchen soll, wo die Reservisten, wo die Bereitschaft und so weiter, und stellt somit sicher, dass alle Akteure einen Zuständigkeitsbereich bekommen, damit wir nicht an der gleichen Stelle suchen und uns gegenseitig auf die Füße treten.“

„Dann kommuniziert ihr also viel miteinander?“

„Ja, je nach dem Charakter des Falles kommunizieren wir mit verschiedenen Verantwortlichen bei der Polizei. Wenn es ein Cold Case ist, informieren wir die Polizei ein paarmal pro Tag über unseren Fortschritt und Missing Children bestimmt selbst, wie wir die Sache anpacken. Das Einsatzteam arbeitet in diesen Fällen nach einer Methode, die man Induktionsmethode nennt. Das bedeutet, dass wir durch die Prämissen, die wir in Form von Zeugenaussagen, Tipps, Spuren, Zeitstrahlen, Erkundungen und so weiter gesammelt haben, herausfinden, in welcher Umgebung man den Vermissten mit der größten Wahrscheinlichkeit finden wird.“

„Aber nun ist es ja glücklicherweise ein Hot Case. Dann hat also die Polizei bestimmt, dass wir hier suchen sollen?“, fragte Anne.

„Ja, das ist der Sektor, den sie uns zum Suchen zugeteilt haben.“

„Okay, ich hätte nur nicht gedacht, dass sie so was machen.“

„Die Polizei hat gerade keine Mittel für diese Art Arbeit, deswegen machen wir uns nützlich. Sie haben genug damit zu tun, an der Grenze und in Kopenhagen Wache zu schieben. Wegen des Terroranschlags mussten sie Leute abstellen und haben nun Personalmangel.“

„Aber sollte es völlig schiefgehen und wir finden ihn nicht, nehmen wir die Spürhunde zur Hilfe“, fuhr Karen fort.

„Ihr habt auch Hunde?“ Anne blieb stehen und wischte sich mit dem nackten Oberarm über die Stirn. Sie schwitzte in der schwülen, feuchten Luft. Sie konnte das Meer riechen. Sie waren bald durch den Wald durch.

„Ja, zu dem Einsatzteam gehören speziell trainierte Suchhunde. Die Hälfte ist zertifiziert, der Rest befindet sich in der Ausbildung. Diese Hunde und Hundeführer arbeiten nach der Deduktionsmethode. Das heißt, dass die Hunde in einem gewissen Radius um die Stelle, wo der Vermisste zuletzt gesehen wurde, losgeschickt werden. Falls – oder wenn – die Hunde eine Fährte aufnehmen, ist es unsere Aufgabe, herauszufinden, wo die Fährte herkommt und wohin sie führt. Wird der Wind von Gebäuden zurückgeworfen oder geht sie durch den Wald, kann das ziemlich kompliziert werden. Wenn sich die Stelle, wo die Hunde die Fährte aufgenommen haben, und die vom Einsatzteam priorisierten Bereiche kreuzen, sind wir höchstwahrscheinlich auf der richtigen Spur.“

Das Rattern des Zuges, der auf den Schienen direkt vor ihnen vorbeifuhr, übertönte Karens Worte. Sie blieb stehen und sah sich nach beiden Seiten um. Sie konnten nicht weiter und die gelben Westen der anderen Suchenden kamen eine nach der anderen am Waldrand zum Vorschein. Die Sonne ging am Horizont des Meeres langsam unter und färbte das Wasser orange. Es war ein schöner Anblick, doch Anne fühlte sich verloren. Sah der kleine Emil diesen Sonnenuntergang irgendwo? Schlief er friedlich oder war er in Gefahr? Vielleicht war er bereits tot. Sie schluckte einen Kloß im Hals, als Tara und Peder zu ihnen herübergelaufen kamen.

„Habt ihr noch was gefunden?“

„Nichts.“

Peder nahm Taras Hand.

„Kommt“, sagte Karen. „Wir gehen zum Den Permanente und sammeln uns da, bevor wir zurückgehen, und suchen danach mit einer neuen Linie Markierungsband und machen das alte ab.“

Sie gingen den Fahrradweg an den Bahnschienen entlang. Einige andere folgten ihnen. Passiv wichen sie einem Radfahrer aus, der hinter ihnen klingelte, um vorbeizukommen.

Karen blieb stehen, als ihr Handy eine Melodie in ihrer Hosentasche spielte. Alle hielten an und starrten sie angespannt an, während sie ranging. Ihr Blick fiel ernst auf Tara und Peder, während sie zuhörte.

„Wo?“, fragte sie dann mit belegter und zitternder Stimme.

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10

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