Читать книгу Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 6

Kapitel 2

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Die Stimmung war die gleiche wie auf dem Weg zu einem Fußballspiel im Park.

Anne Larsen beobachtete die kleine Gruppe Aarhuser, die mit nach Kopenhagen fahren sollte. Obwohl es kein Kriminalstoff war, hatte sie sich freiwillig als Reporterin gemeldet. Der Kameramann, den sie Flash nannten, war im TV2 Ostjütland-Auto mit der Kameraausrüstung gefahren und würde sich mit ihnen am Hauptbahnhof treffen, sodass sie gemeinsam zum Schlossplatz von Schloss Christiansborg fahren konnten, wo die Demonstration stattfinden sollte. Anne hatte darauf bestanden, mit den Demonstranten mit der Bahn zu fahren, damit sie unterwegs Interviews führen konnte. Nun gestand sie sich ein, dass der wahre Grund war, dass sie das Prickeln noch mal erleben wollte von damals, als sie als Teenager selbst aktive Demonstrantin und Hausbesetzerin in Nørrebro gewesen war. Es war viele Jahre her, seit sie zuletzt an einer Demonstration teilgenommen hatte, aber es dauerte nicht lange, bis sie wieder den Kick spürte und das Gefühl, die Ungerechtigkeit der Gesellschaft ändern zu können. Einen Unterschied zu machen und wenigstens ihre Meinungsfreiheit zu nutzen, auch wenn sie jetzt klüger war als damals. Es war doch super, dass man sich äußern konnte, aber was half es, wenn niemand zuhören wollte? Wenn die Politiker einen Beschluss gefasst hatten, war der beinahe unmöglich zu kippen. Doch es änderte nichts daran, dass die Dänen ihre Meinung zu Gehör bringen konnten und sie dachte, dass viele dieser jungen Teilnehmer heute sicher immer noch glaubten, dass es die Fahrt und den Kampf wert war. Diesen Glauben wollte sie ihnen nicht nehmen. Mit den Jahren würden sie es selbst merken und es war nur gut, dass es immer noch jemanden gab, der versuchte, Widerstand zu leisten.

Wenn sie auf den bunten Haufen sah, hatte sie keinerlei Zweifel, dass die meisten politisch der sozialistischen Linken angehörten. Als Journalistin bei TV2 Ostjütland durfte sie ihre eigene politische Haltung nicht äußern. Sie sollte neutral auftreten, daher beteiligte sie nicht an der heftigen Debatte, die immer intensiver geworden war, je näher sie dem Kopenhagener Hauptbahnhof kamen. Wie eine Sportmannschaft, die sich hochschaukelte, um ein wichtiges Spiel zu gewinnen. Die Transparente waren zusammengerollt und ragten aus ein paar Rucksäcken heraus, die die Hälfte des Mittelgangs ausfüllten. Sie lächelte beim Anblick eines ausgefransten, alten Atomkraft?–Nein danke-Aufnähers auf einer der Taschen. Der gelbe Sticker mit der viel zu glücklichen roten Sonne in der Mitte war auch mal auf alle ihre Besitztümer geklebt gewesen – und hinten auf der Jeansjacke hatte sie einen riesigen Aufnäher gehabt. Es wunderte sie, dass es die Dinger noch gab.

Sie saß bei dem älteren Teil der Teilnehmer, die nicht ganz so viel diskutierten. Sie lasen Zeitung oder schauten aus dem Fenster. Für sie war es nicht so aufregend, dass TV2 Ostjütland sie begleiten würde. Einige hatten sich sogar woanders hingesetzt, da sie es nicht an die große Glocke hängen wollten, dass sie auf dem Weg zu einer Demonstration waren. Die Jungen saßen weiter vorn. Anne beobachtete sie.

„Es gibt echt bald keine Mitmenschlichkeit mehr“, sagte ein junger, schlaksiger Kerl mit Ponyfransen, die über dem Brillenrand unter einer grauen Mütze hervorguckten, die bei der Sommerhitze fehl am Platz wirkte.

„Nein, diese verfickten Rassisten, die bald alles in diesem Scheißland bestimmen, sprechen ja überhaupt nicht für die gesamte dänische Bevölkerung!“, widersprach ein anderer, der seine staubigen Adidas-Schuhe auf den Sitz gegenüber geknallt hatte.

Eines der Mädchen, das mit seinem Smartphone dasaß, fing an zu lachen. „Aber jetzt werden die sehen, was wir anderen meinen. Es haben sich schon fast tausend Teilnehmer bei Facebook angemeldet!“

Die anderen lachten mit.

Es war das große Interesse für den Facebook-Beitrag, der zur Demonstration gegen Asylverschärfung aufrief, das den Nachrichtenchef auf die Idee gebracht hatte, TV2 Ostjütland über das Ereignis berichten zu lassen, wo doch der Veranstalter eine Gruppierung aus Aarhus war.

Anne wusste aus Erfahrung, dass die Anzahl der angemeldeten Teilnehmer nicht immer mit der tatsächlichen übereinstimmte. Einige hielten es für glorreich, auf der Liste zu stehen, aber wenn es darauf ankam, waren sie dann doch nicht willens, zu erscheinen und für ihre Haltungen einzustehen. Sie war gespannt, wie viele letztendlich mit Bannern und Sprechchören bei den Politikern vor der „Burg“ stehen würden.

„Dann werden sie ihre Politik halt ändern müssen. Wenn wir nicht den Menschen helfen, die vor Krieg und Armut fliehen, wer dann?“

Sie nickten alle in einhelligem Schweigen.

„Mein Vater ist einer von denen. Den Rassisten. Er sagt, dass wir es uns nicht leisten können, sie hier im Land zu haben, dass sie zu viel Geld kosten. Gleichzeitig sagt er, dass er viel zu viel Steuern bezahlt, also wie passt das denn bitte zusammen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die gezupften Augenbrauen, während das Kaugummi mehrmals mit der Zunge umgedreht wurde. Sie war die Jüngste und Anne dachte, dass sie sicher von zu Hause abgehauen war, wie sie selbst mit vierzehn.

„Das sagen meine Alten auch. Die meinen, dass eine multikulturelle Gesellschaft nie funktionieren wird und nennen England, Frankreich und Schweden als Beispiele.“

Der Sitznachbar schnaubte. „Ich habe auch gehört, dass einige die Terroristen als Grund für ihre rassistischen Haltungen benutzen. Dass die Krieger des Islamischen Staats als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen, um uns zu bombardieren. Größeren Quatsch habe ich ja selten gehört. Es gibt doch selbstverständlich Kontrollen.“ Trotzdem sah er von einem zum anderen, als ob er nach Bestätigung für seine Behauptung suchte.

„Zum Glück sind meine Eltern nicht solche Nazis“, meinte eines der Mädchen. „Sie wären gerne mitgekommen, konnten heute aber nicht. Meine Mutter hat eine Flüchtlingsfamilie nach Schweden gefahren, weil sie lieber dort als hier in Dänemark wohnen wollten.“

„Kann ich total verstehen. Die DFD macht alles kaputt. Jetzt glaubt die ganze Welt, dass alle Dänen fucking fremdenfeindlich sind. Ich hoffe, die verstehen unsere Botschaft heute und sehen ein, dass wir nicht alle so sind.“

„Ja, es ist traurig, dass die DFD so viel Macht bekommen hat“, seufzte ein anderes Mädchen, das auf seinem Handy ebenfalls die Facebook-Anmeldungen mitverfolgte. Ihre Jacke hatte sie um den Bauch gebunden. „Gut, dass das Fernsehen dabei ist!“

„Wisst ihr, wofür DFD steht?“, fragte ein dicker Junge mit roten Wangen und Doppelkinn.

„Das steht für Dänemark Für Dänen“, belehrte ihn das Mädchen mit der Jacke.

„Nee, das steht für Die Fucking Dummen“, gab der Junge zurück und lachte selbst am lautesten über seinen Witz.

Anne hatte sie bereits dazu interviewt, was ihre Begründung für die Fahrt nach Kopenhagen und die Teilnahme an der Demonstration war, daher kannte sie die Meinung der meisten. Einer revolutionärer als der andere. Sie wünschte, Flash wäre dabei und könnte sie filmen, wie sie dasaßen und die Welt unter die Lupe nahmen. Das hatte etwas Erhebendes. Vielleicht waren das hier die sozialistischen Politiker der Zukunft, die dann herausfinden würden, dass es letzten Endes darum ging, Kompromisse einzugehen, wenn sie an die Macht kamen. Es ging nicht nur um eine einzelne Kernfrage wie Flüchtlinge, sondern um das Wohlergehen des ganzen Landes. In einer Demokratie konnte niemand allein entscheiden und im Parlament würde kaum die gleiche Einigkeit herrschen wie hier an dem kleinen Klapptisch, der vor Süßigkeitentüten, Butterbrotpapier, Handys, Zeitschriften und leeren Cola-Bechern überquoll.

Sie näherten sich der Endstation. Anne stand auf und half ihnen beim Tragen der Banner. Alle stöhnten ungehalten, als sie erfuhren, dass es angefangen hatte, heftig zu regnen. Bis nach Christiansborg war es eine Viertelstunde Fußweg und sie würden klitschnass sein.

Anne hielt vor dem Bahnhof vergeblich nach Flash und dem TV2 Ostjütland-Auto Ausschau. Die Leute verkrochen sich unter die bunten Sonnenschirme vor dem Eingang zum Tivoli. Die Gruppe der Demonstranten drängte sich beim Ausgang des Hauptbahnhofs dicht zusammen. Einige hatten die Transparente entfaltet, sodass Botschaften wie Ein gastfreundliches Dänemark – Danke!, ALLE Flüchtlinge willkommen! und Schämt euch, DFD! signalisierten, weswegen sie gekommen waren.

Es dauerte etwas, bis Anne die Stimme aus den Lautsprechern wahrnahm und viel Polizei im Gebäude und davor registrierte. Ein paar Beamte verscheuchten die Leute vor dem Tivoli und es entstand Panik. Sie sah sich wieder nach Flash um. Die Stimme bat in mehreren Sprachen, sich zum Ausgang zu begeben und das Gebäude ruhig zu verlassen. Der Hauptbahnhof wurde gerade evakuiert. Ein Beamter nahm Anne am Arm und wollte sie mit sich ziehen.

„Folgen Sie mir!“, befahl er.

„Nein! Ich warte auf meinen Kameramann. Ich bin Journalistin bei TV2 Ostjütland“, protestierte sie.

„Sie müssen raus! Und zwar sofort“, beharrte der Beamte.

„Warum? Was ist los?“

„Es gibt eine Bombendrohung. Folgen Sie den anderen. Da stehen Busse, die Sie von hier wegbringen werden.“

Anne entdeckte zwei Busse, in die die Demonstranten einstiegen. Die Transparente ließen sie auf dem Boden liegen. Eine Frau hatte ihres mitgenommen, doch ein Beamter nahm es ihr weg und trieb sie in den Bus zu den anderen eingeschüchterten Passagieren.

„Aber ich muss meinen Kameramann finden!“, insistierte Anne und riss sich aus dem festen Griff des Beamten los. Sie funkelte ihn an. Dann entdeckte sie das TV2-Auto, das Flash gerade vor dem Bahnhof parkte. Er stieg aus und sah sich nach ihr um. Die Beamten bedeuteten ihm hektisch, wieder einzusteigen und wegzufahren. Andere Beamte sperrten im strömenden Regen das Gebiet ab. Anne rannte zu Flash und riss die Beifahrertür auf.

„Was zum Teufel ist denn hier los?“, rief er.

„Es gibt wohl eine Bombendrohung. Die evakuieren den Bahnhof.“ Sie schaffte es nicht, sich anzuschnallen, bevor Flash einen scharfen U-Turn machte und den wegfahrenden Bussen nachfuhr.

„Sind alle Demonstranten mit dem Bus gekommen?“

„Weiß ich nicht. Einige sind trotz des Regens sicher auch zu Fuß gegangen.“

Einige Polizeiautos kamen ihnen mit Blaulicht und Sirene entgegen, dahinter ein paar Krankenwagen.

„Die ergreifen offenbar echt alle Maßnahmen“, murmelte Flash und folgte ihnen mit dem Blick im Rückspiegel. Er war nur vom kurzen Aussteigen aus dem Auto völlig durchnässt und seine Haare hingen ihm feucht in die Stirn. Anne zitterte vor Kälte in ihren durchweichten Klamotten. Sie erahnte das Gebäude der Kopenhagener Polizei hinter Flash, bevor sie in hohem Tempo auf die Kalvebod Brücke abbogen. Ein Speedboot sauste auf dem Wasser vorbei ins Meer, sodass es hinter ihm spritzte.

„Wo sind die Busse hin?“, fragte sie und wunderte sich über die Ruhe des Kameramanns. Dann erinnerte sie sich, dass Flash mal für Information gearbeitet hatte und an einigen der Brennpunkte der Welt gewesen war. Für ihn war eine Bombendrohung in einem Bahnhof sicher nichts allzu Ernstes. Konnte auch falscher Alarm sein. Das war schon vorgekommen.

„Irgendwo vor uns“, sagte er und schaltete.

Anne begriff nicht, was passierte. Urplötzlich gab es draußen einen unnatürlich lauten, klirrenden und grollenden Knall, gefolgt von einem riesigen Blitz. Vielleicht geschah das gleichzeitig. So einen, wie man ihn sonst nur in Katastrophenfilmen im Kino sieht. Sie wurde im Gurt nach vorn geschleudert, als Flash scharf bremste, um nicht in das Auto vor ihnen zu krachen, das auch bremste, genau wie der Rest der Schlange vor ihnen. Mit offenem Mund verfolgte Anne einen PKW mit den Augen. Er drehte sich einmal in der Luft ein Stück vor ihrem Auto und landete nicht weit davon. Dann ging ein Regen aus Glas und Metallteilen über dem Auto nieder. Sie duckte sich ganz unwillkürlich und hielt sich die Ohren zu, obwohl nach dem Knall alle Geräusche verschwunden waren. Vor ihren Augen spielte sich alles in unwirklicher, lautloser Zeitlupe ab.

Eine schwarze Rauchwolke rollte auf das Auto zu und hüllte es ein, sodass sie nicht aus dem Fenster schauen konnte. Sie hörte Leute hysterisch schreien.

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10

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