Читать книгу Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 8
Kapitel 4
Оглавление„Ich habe Jørgen Lindt aus dem Polizeipräsidium kommen sehen“, informierte Flash und setzte sich neben Anne mit einer Zwei-Liter-Flasche Coca-Cola Zero, die ihn laut anzischte, als er den Deckel abschraubte.
„Den vom PET?“, nuschelte Ninna. Sie kaute auf einem Stück Orange, die die ganze Redaktion mehr nach Weihnachten als nach Juli duften ließ. „Was macht der denn in Aarhus?“
„Das ist wohl nicht so verwunderlich, dass er hier ist, genau nachdem das im Stadtbus passiert ist.“ Anne schaute von ihrem Computerbildschirm auf.
Das Erlebnis, so dicht an den gesprengten Bussen in Kopenhagen gewesen zu sein und nicht zuletzt der Gedanke, dass sie selbst in einem davon hätte sitzen können, hatte sie längst noch nicht abgeschüttelt. Selbst am helllichten Tag verursachte es ihr Albträume.
„Es ist ja nicht mal sicher, dass das etwas war“, meinte Flash mit einem schiefen Grinsen.
„Aber jetzt haben sie Kopenhagen zweimal angegriffen, daher ist es wohl nicht ganz abwegig zu glauben, dass es Terror sein könnte“, nuschelte Ninna weiter mit einem herausfordernden Blick zu Flash und einem besorgten zu Anne, während sie mit dem Kugelschreiber auf den Block tippte, auf dem sie gerade mögliche Locations für die Aufnahmen des nächsten Programms Samstagsthemen aus Ostjütland notierte, das den Bürgermeister im Fokus hatte.
„Sie haben Kopenhagen einmal angegriffen, Ninna. Ein einziges Mal. Ansonsten hat Dänemark bisher noch keinen richtigen, koordinierten Terroranschlag erlebt. Das beim Kulturcafé Krudttønden und bei der Synagoge war vielleicht nur das Werk eines Verrückten.“ Flash trank direkt aus der Colaflasche. „Wir wissen es ja nicht, da der mutmaßliche Täter von der Polizei erschossen wurde – genau wie unser Busfahrer. Keine Terrororganisation hat die Verantwortung übernommen, normalerweise sind die ja sehr schnell damit, ihre schwarze Flagge zu zeigen.“
„Ja, auch wenn sie es überhaupt nicht waren, sondern nur einer ihrer sogenannten Soldaten und die Organisation vielleicht nichts damit zu tun hat. Furcht schafft Macht! Hast du herausgefunden, wer dich kontaktiert hat?“, fragte Ninna und schaute Anne neugierig an.
Ninna war an dem Tag, als sie nach Kopenhagen mussten, mit im Auto, als Anne angerufen wurde. Die Stimme war verzerrt gewesen, sie hatte nicht einmal hören können, ob es ein Mann oder eine Frau war.
„Ich habe nicht mehr erfahren, seit ich darüber informiert wurde, dass es gefährlich sei, in Aarhus Bus zu fahren und dass sich derjenige noch mal melden wollte.“
Annes Stimme und Unterlippe zitterten. Wenn sie an die jungen Menschen dachte, die in der Bahn am Klapptisch gesessen und einen Schlachtplan für die Demonstration – und die Zukunft – geschmiedet hatten, bekam sie solche Bauchschmerzen, dass sie es nicht aushalten konnte. Vier von ihnen waren unter den Toten.
„Das war doch bloß ein Freak, der sich interessant machen wollte!“ Ninna schüttelte verärgert den Kopf. „Das ist echt ein übler Scherz! Stell dir mal vor, wie viele Einheiten unnötig ausrücken, wenn jemand mit einer falschen Bombendrohung kommt. Solche Menschen sind komplett krank im Kopf.“
„Aber was, wenn es kein Scherz war? Die Verzerrung klang ziemlich professionell, da hat sich einer nicht nur die Nase zugehalten.“
„Was hat die Polizei zu der Warnung gesagt?“, fragte Flash, der sich bequem auf dem Stuhl zurücklehnte, die Hände im Nacken verschränkt und die Füße auf der Tischkante. „Denn du hast ihnen ja sicher Bescheid gegeben?“
Anne schubste unsanft seine Füße vom Tisch und nickte.
„Selbstverständlich. Der Diensthabende hat es aufgenommen und sagte, er würde es weiterleiten, aber was können die tun? Alle Busse überwachen? Die Polizei ist so unterbesetzt, dass sie nicht mal Zeit hat, sich um Routineaufgaben zu kümmern.“
„Ja, wegen der Terrorgefahr wurden wohl alle Beamten nach Kopenhagen beordert“, nuschelte Ninna, die sich wieder ein Stück Orange in den Mund gesteckt hatte.
„Ja, oder an die Grenze“, meinte Flash. „Aber Aarhus ist doch genauso wichtig wie Kopenhagen, daher …“
„Ja, sind wir das wirklich? Wir haben ja nicht die Regierung und all die ‚wichtigen‘ Minister in der Stadt.“
„Wer hat eigentlich der Polizei den Tipp mit dem Bus gegeben, sodass er angehalten wurde?“, fragte Ninna.
„Soviel ich weiß, war es anonym.“
„Aber vielleicht war es doch deine Warnung, die die Polizei hat ausrücken lassen“, sagte Ninna eifrig.
„Habt ihr gehört, dass der PET im Polizeipräsidium war? Wisst ihr, worum es ging?“, unterbrach die Moderatorin Jytte Thomsen, die gerade von einer Besprechung im Büro des Nachrichtenchefs zurückgehuscht kam.
„Ja, Flash hat Jørgen Lindt von dort weggehen sehen. Aber nein, wir haben nichts darüber erfahren.“
„Ein geheimes Treffen, von dem nicht mal die Presse wissen soll, das klingt ernst.“
„Es geht natürlich um die Terrorgefahr. Und außerdem ist doch alles, was der PET macht, geheim“, schlussfolgerte Flash.
„Trotzdem.“ Jytte legte die Mappe, die sie unter dem Arm hatte, auf den Tisch und massierte ihre Schläfen. „Oh, zu viel Rotwein gestern Abend“, seufzte sie, als sie bemerkte, wie sie angeschaut wurde. „Ich rede mal mit Anker Dahl, der kann uns sicher irgendetwas sagen.“
Anne grinste hinter Jyttes Rücken besserwisserisch. Vizepolizeidirektor Anker Dahl sagte nichts, davon war sie überzeugt. Aber vielleicht konnte sie mit Roland Benito sprechen, der musste auf jeden Fall wenigstens etwas darüber wissen, was sich im Fall des Beamten tat, der den Busfahrer erschossen hatte, auch wenn er selbst nicht an den Ermittlungen bei der DUP teilnehmen durfte.
Nach ihrem gemeinsamen einschneidenden Erlebnis letzten Sommer, wo er sie ein weiteres Mal gerettet hatte, war er sehr umgänglich gewesen. Hatte sogar angerufen, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, um zu hören, ob es ihr gut ging. Er hatte fürsorglich gewirkt. Ohne darüber nachzudenken, führte sie diskret den Handrücken unter die Nasenlöcher und starrte anschließend darauf. Eine Zwangshandlung, die sie nicht ablegen konnte. Die Ärzte wussten nicht, wie lange sie noch spontanes Nasenbluten bekommen würde, aber das sei völlig ungefährlich, versicherten sie. Trotzdem war sie erleichtert, dass kein Blut zu sehen war, und machte mit ihrem Nachrichtenbeitrag über den Terroranschlag weiter.
Sie schaute auf, als der Nachrichtenchef an ihren Tisch geeilt kam. Er bremste und kratzte sich am Nacken.
„Bist du gerade sehr beschäftigt, Anne?“
„Ich muss noch den Beitrag über den Busfahrer fertig machen.“
„Es ist schon wieder ein Kinderwagen mit einem Baby verschwunden“, unterbrach der Nachrichtenchef sie. „Dieses Mal aus einem Garten in der Risvang Allé. Nimmst du Flash mit? Ninna muss zu Außenaufnahmen mit Noa Marie.“
„Ja, aber …“
„Jytte kümmert sich um den Terroranschlag.“
Jetzt verstand Anne, worum es bei Jyttes Besprechung mit dem Nachrichtenchef gegangen war.
„Noch ein Baby?!“ Flash erhob sich einsatzbereit und Anne tat es ihm zögerlich gleich. Die Sache mit dem verschwundenen Baby, das in seinem Kinderwagen vor einem Gebäude im Åpark entführt worden war, war vor dem Terroranschlag in Kopenhagen die Topstory gewesen, aber es hatte keine Fortschritte in der Aufklärung gegeben, seit der Kindesvater in Untersuchungshaft genommen worden war. Er stand unter Verdacht aufgrund eines Scheidungsfalls, in dem die Mutter selbstverständlich das Kind haben sollte, was er mit allen Mitteln zu verhindern versucht hatte. Die Mutter des Kindes hatte ihn angezeigt. Er beteuerte seine Unschuld und seitdem war nichts weiter von Bedeutung herausgekommen. Doch nun war also ein weiteres Baby auf die gleiche Weise verschwunden.
Anne nahm ihre Jacke und folgte Flash in die Tiefgarage. Das Auto, mit dem er nach Kopenhagen gefahren war, befand sich wegen der Beulen von den Bombenexplosionen noch in der Werkstatt. Granatsplitter, wie Flash mit einem unpassenden schiefen Grinsen sagte. Er hatte ja auch nicht fast drei Stunden mit den Jugendlichen im Zug gesessen. Anne schauderte, wenn sie daran dachte, wie knapp sie der Katastrophe entronnen waren. Wäre das Auto näher an den Bussen gewesen, dann … Sie hatte Gerüchte gehört, dass sie Hautfetzen und Knochenteile im Kühlergrill des Autos gefunden hatten, wusste aber nicht, ob das stimmte. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich wie eine rostfarbene Schicht auf die Windschutzscheibe gelegt hatte, bevor der Rauch sie eingehüllt hatte.
„Wo in aller Welt sind diese Babys abgeblieben?“, murmelte Flash heiser, als sie aus dem Randersvej mit der Baustelle für die neue Stadtbahn abbogen und den Vejlby Ringvej entlangfuhren. Es klang, als ob er nur irgendetwas sagen wollte, um die Stille zu durchbrechen. Es war das erste Mal, dass sie seit Kopenhagen wieder zusammen fuhren und Anne vermutete, dass sie an das Gleiche dachten. Sie behielt den Stadtbus vor ihnen jedenfalls genau im Auge, als ob das helfen würde; falls er explodierte, würden sie nichts ausrichten können. Sie spürte die Angst wie einen wachsenden Eisklumpen im Magen und hasste sie und die Unsicherheit.
„Vielleicht ist es Zufall, dass jetzt auch ein anderes Baby verschwunden ist.“
„Aber man weiß ja nicht, ob der Vater des ersten schuldig ist. Was, wenn nicht? Wenn nun ein Baby-Kidnapper unterwegs ist?“
Flash hielt vor einem Haus mit gelben Mauersteinen und rotem Ziegeldach, das im Gegensatz zu den beiden Dachbalken älteren Datums neu aussah. In den Fenstern spiegelten sich die Bahnen der weißen Wolken am blauen Himmel.
„Wofür in aller Welt sollte jemand kleine Babys brauchen?“
„Erpressung? Eine Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann? Oder eine Familie vielleicht? Pädophile oder dergleichen mit abwegigen Fantasien und Vorlieben?“
Anne schnallte sich ab und stieg aus. Sie zuckte als Antwort die Schultern und öffnete das Gartentor, das in den Angeln quietschte, und hielt es für Flash auf. Sie stellte fest, dass keine Polizei da war. Die war sicher schon hier gewesen. Journalisten waren auch nicht zu sehen. Sie überlegte, wie lange es wohl her sein mochte, dass das Baby verschwunden war, und schaute in den Garten. Ein Ball mit gelben Punkten lag im Gras neben einem einsamen Schaukelgestell. Sie hatten offenbar mehrere Kinder. In dem Beet entlang des Gartenwegs steckten Fahnen und hellblaue Ballons, die mit Schnüren am Treppengeländer festgebunden waren, wehten leicht im Wind.
Eine festlich gekleidete Frau mit einer Brille in den glatten, grau melierten Haaren machte auf und musterte sie mit einem kritischen Blick. Er wurde nicht milder, als Anne sie vorstellte.
„Meine Tochter hat keine Kraft mehr. Also lassen Sie sie jetzt in Ruhe! Das Telefon hat ununterbrochen geklingelt, sodass wir den Stecker herausziehen und die Handys ausschalten mussten, und mein Schwiegersohn hat gerade einen Haufen aufdringliche Journalisten weggeschickt. Und das ausgerechnet heute! Gehen Sie jetzt bitte und nehmen Sie ein bisschen Rücksicht, ja!“
Die Frau wollte die Tür wieder schließen, aber ein kleines Mädchen stand wie aus dem Nichts im Weg. Es war ungefähr fünf, schätzte Anne. Ein hübsches, helllila Kleid mit Tutu ließ an eine kleine Prinzessin erinnern. Es krümmte die kleinen Zehen in der weißen Strumpfhose und schaute verlegen zu ihr hoch.
„Habt ihr meinen kleinen Bruder gefunden?“, fragte es altklug mit betretener Stimme und gerunzelter Stirn. Die Augen unter den feinen Augenbrauen waren tiefblau und ausdrucksvoll.
„Das ist nicht die Polizei, Schätzchen“, sagte die Frau und versuchte, das kleine Mädchen von der Tür wegzuziehen, aber Anne war in die Hocke gegangen und hatte die volle Aufmerksamkeit des Mädchens.
„Vielleicht können wir dabei helfen, deinen kleinen Bruder zu finden. Wenn wir im Fernsehen von ihm erzählen, kann sich vielleicht jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben.“
Die Frau zog das kleine Mädchen weg. Anne stand auf und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick.
„Wir bekommen genug Hilfe von der Polizei.“
„Vielleicht ist es eine gute Idee, das Fernsehen mit einzubeziehen“, unterbrach eine Stimme und eine junge, kräftige Frau mit wilden roten Haaren, die sie in einem buschigen Pferdeschwanz zu zähmen versuchte, kam heraus und reichte Anne die Hand.
„Ich heiße Karen und bin von der freiwilligen Organisation MCD, Missing Children Denmark. Wir helfen der Familie – und der Polizei natürlich – den kleinen Emil zu finden.“
„Ich habe von Missing People gehört, aber nicht Missing Children“, lächelte Anne und erwiderte den Händedruck.
Die Frau mit der Brille im Haar nahm das kleine Mädchen am Arm und zog sich einige Schritte zurück.
„Das ist auch eine relativ neue Organisation. Um verschwundene Kinder zu finden bedarf es anderer Werkzeuge als bei Erwachsenen. Ich habe zum Beispiel eine pädagogische Ausbildung und das ist ein großer Vorteil, um – ja, wie soll ich das ausdrücken -“ Karen schielte zu der Oma des verschwundenen Babys, die den ganzen Sermon sicher schon gehört hatte. „Ja, dass ich ein bisschen in den gleichen Bahnen denken kann wie das verschwundene Kind. Auf die Weise haben wir schon Kinder gefunden, die an Orten gelandet sind, die niemand vermutet hat.“
Anne sah zu Flash, der hinter ihr auf der Treppe immer noch von einem Bein aufs andere trat. Er hatte die Kamera nicht mitgenommen, da es wichtig war, vorher immer die Zustimmung der Betreffenden einzuholen. Ganz anders als damals, als sie bei der Zeitung gearbeitet hatte, wo fast das Gegenteil der Fall war. Dann wandte sie sich schnell wieder Karen zu.
„Dürfen wir Sie zu Ihrer Arbeit interviewen?“
Karen schaute zu der Frau, die immer noch mit dem Mädchen am Arm hinter ihr stand. Zögernd nickte sie. „Wenn Sie meinen, dass das helfen kann, meinen Enkel zu finden.“
Flash holte die Kamera und machte sie bereit, während Anne mit den anderen ins Wohnzimmer ging. Sie stoppte abrupt, als sie den geschmückten Esstisch mit hellblauen Tauben, kleinen Teddybären, Servietten und blauen Ballons passend zu denen im Garten sah. Es stand auch ein Foto von Emil auf dem Tisch. Er trug ein weißes Taufkleid und ein blaues Band mit seinem silbergestickten Namen. Er lag auf einem weißen Lammfell und sah ein wenig verdutzt aus.
„Emil wurde heute Vormittag getauft. Wir haben die Gäste nach Hause geschickt, als es passierte. Wenn sie ihn nur bald finden“, sagte die Großmutter resignierend, setzte das Mädchen auf dem Boden bei einigen Spielsachen ab und sich selbst an den Tisch neben eine dort sitzende Frau. Sie legte die Arme um ihre Schultern und drückte sie. Anne hatte keinerlei Zweifel, dass dies die Mutter der Kinder war. Es war so deutlich zu sehen an ihrem versteinerten, roten und geschwollenen Gesicht. Der Mann, der aus dem Fenster in den Garten starrte, musste der Vater sein. Er hatte sich nicht umgedreht, als sie hereingekommen waren, sondern stand nur da und starrte, als wartete er darauf, dass der, der seinen Sohn genommen hatte, bald mit ihm zurückkam.
Karen setzte sich an den Tisch den beiden Frauen gegenüber, wo schon eine hagere Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren, beinahe einem Bürstenschnitt, saß. Wie Karen trug sie ein Sweatshirt mit dem „Missing Children Denmark“-Logo auf dem Rücken.
„Emil wurde draußen zum Schlafen hingelegt, als die Familie von der Kirche kam. Jemand hat wohl vergessen, das Tor zu schließen, sodass es freien Zugang zum Garten gab“, teilte sie Anne mit.
„Wir waren nicht aufmerksam genug!“, ertönte es zornig vom Fenster. Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht wirkte älter, als Anne aufgrund der Frisur vermutet hatte. Oder vielleicht ließen auch die Umstände es so alt aussehen.
„Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, wie ich bereits sagte. Sie haben nichts falsch gemacht, sondern diejenigen, die auf die Idee kommen, ein Baby zu entführen“, sagte Karen mit sanfter Pädagogenstimme.
Der Mann kam eilig an den Tisch. Trotz seiner Machtlosigkeit wirkte er beinahe drohend.
„Ja, das sagen Sie! Aber wie habt ihr euch denn vorgestellt, ihn zu finden? Woher wisst ihr, wie Emil denkt? Und was bringt das? Er ist ja verdammt noch mal nicht selbst gelaufen, oder?“
„Nein, natürlich wissen wir nicht, wie Emil denkt, das ist klar. Bei größeren Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind, ist das selbstverständlich leichter, aber es ist nicht so einfach, mit einem Kinderwagen zu verschwinden. Wir werden ihn schon finden.“
„Peder, jetzt sei nicht so unhöflich. Sie wollen doch nur helfen“, bat seine Frau ebenso verzweifelt und streckte eine zitternde Hand nach ihm aus. Er nahm sie und setzte sich neben sie.
„Entschuldigung, Tara, aber …“ Er schüttelte vor Hoffnungslosigkeit den Kopf.
Flash war startklar mit der Kamera und Anne setzte sich neben Karen. Zum ersten Mal sah sie der Mutter des Babys in die Augen. Sie schauten sie betrübt und flehend an. „Was können Sie im Fernsehen senden, das unseren kleinen Emil wieder zu uns nach Hause bringt?“, fragte sie, und es war deutlich zu sehen, dass sie sich gewaltig zusammenriss, um nicht wieder zu weinen.
Karen ergriff sofort das Wort: „Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten. Wir können an den Entführer appellieren, indem wir zeigen, dass Emil ein geliebter und vermisster kleiner Junge ist. Vielleicht können Sie als Eltern direkt zu dem Entführer sprechen und ihn darum bitten, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.“
„Wirkt das nicht ein bisschen amerikanisch?“, fragte Peder skeptisch. „Wurden entführte Kinder je auf dieser Grundlage wieder zurückgebracht? Also außer in amerikanischen Filmen.“
Karen nickte überzeugt. „Es gibt mehrere Fälle. Zum Beispiel wurde mal ein Auto von einem Parkplatz gestohlen, wo der Dieb nicht wusste, dass ein Kind in einer Babyschale auf dem Rücksitz lag. Das Kind wurde zurückgebracht.“ Sie suchte nach weiteren Beispielen, aber offenbar fielen ihr gerade keine ein.
„Kann sein, dass der Dieb es nur auf den Kinderwagen abgesehen hat. Der war ja ganz neu, sagten Sie“, half die Frau mittleren Alters aus. „Vielleicht haben die gedacht, er sei leer, und wenn sie merken, dass ein kleines Kind drinliegt, kommen sie mit ihm zurück. Oder vielleicht finden wir Emil und den Kinderwagen irgendwo zurückgelassen …“
„Zurückgelassen …“, wiederholte Peder mit einem Ausdruck, als ob das Wort widerlich schmeckte.
„Sidse hat recht, das könnte sein“, pflichtete Karen bei.
„Hat die Polizei das andere entführte Baby gefunden?“, fragte Tara und wischte sich die Augen mit einer hellblauen Bärchen-Serviette trocken. Sie schaute wieder zu Anne.
Die schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Soviel wir wissen gibt es nichts Neues.“
„Kann es der gleiche Entführer sein?“, fragte Peder ängstlich. „Was will diese perverse Person mit unseren Kindern?“
„Sind Sie auch an diesem Fall dran?“, erkundigte Anne sich an die beiden von Missing Children gewandt.
Karen schüttelte den Kopf. „Die Familie hat unsere Hilfe nicht gewünscht, und dann greifen wir selbstverständlich nicht ein.“
„Das war sicher der Vater“, murmelte Sidse und sah entschuldigend zu Peder, in dessen Augen wieder der Zorn aufloderte, als ob er glaubte, sie meinte, dass das wohl auch ihm galt. Er sah aus, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen.
Flash räusperte sich wieder. Er schaute auf die Uhr. Es war der Tag in der Woche, an dem er seine Kinder abholen sollte, erinnerte Anne sich, daher wurde er sicher allmählich ungeduldig.
„Ist es in Ordnung, wenn wir den Tisch filmen? Und wer von Ihnen möchte der Kamera erzählen, was passiert ist?“ Anne schaute von Tara zu Peder, aber beide schüttelten den Kopf.
Karen erhob sich bereitwillig. „Sie können mich interviewen. Es ist doch wohl okay, wenn Sie im Hintergrund am Tisch sitzen, oder?“
Die Eltern nickten.
„Die große Schwester soll auch ins Bild. Können Sie sie auf den Schoß nehmen?“
Die Großmutter hob das Mädchen, das gerade auf dem Boden mit einem der Ballons spielte, hoch und setzte es auf den Schoß seiner Mutter.
Anne nickte zufrieden. Sonst bestimmte sie normalerweise den Inhalt ihrer Beiträge und der Kameramann organisierte die Motive, doch Karen agierte sehr bestimmt und wusste sicher, was in so einer Situation wirkte. Jetzt ging es darum, Kontakt zum Zuschauer – oder dem Entführer – zu bekommen, und sie wirkte auch professionell, als sie sich vor der Kamera aufstellte und von der Taufe erzählte, die jäh abgebrochen worden war, als jemand entdeckte, dass der Kinderwagen mit dem Täufling aus dem Garten verschwunden war.
„Wir von Missing Children haben die erste Runde im Viertel übernommen und nach Spuren gesucht, später erweitern wir den Radius.“
„Falls der Entführer im Auto geflohen ist, gibt es doch nicht viel zu finden, oder?“, fragte Anne.
„In dem Fall können immer noch Spuren hinterlassen worden sein, die vielleicht zeigen, wo das Auto geparkt war und vielleicht hat irgendwo eine Überwachungskameraetwas Brauchbares eingefangen, sodass wir davon ausgehend leichter Zeugen finden.“
Anne nickte und war dankbar, dass sie selbst nicht mit im Bild war, damit die Leute ihre Skepsis nicht sahen. In diesem Viertel gab es sicher nicht viele Überwachungskameras und auch keine Tankstellen, Banken oder Supermärkte in der Nähe. Als sie fertig waren, dankte sie der betroffenen Familie und gab ihnen die Hand. Der Händedruck der Mutter war schlaff und kraftlos, aber sie zwang sich zu einem Lächeln, als Anne sie damit aufmunterte, dass die Sendung bestimmt einige dazu bringen würde, sich zu melden, wenn sie etwas gesehen hatten. Die Großmutter hatte ihre Enkelin wieder auf dem Arm und drückte das Mädchen fest an sich.
„Wenn Sie Lust haben, können Sie heute Abend mit suchen. Dann können Sie sehen, was wir machen“, bot Karen an, als Anne sich auf der Treppe von ihr verabschiedete.
Anne nickte eifrig. Das wollte sie sehr gerne.