Читать книгу Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

Die Tür glitt mit einem sachten Zischen zu und brachte einen schwachen Dieselgeruch mit hinein. Die Leute rückten dichter zusammen, sodass Platz für die neuen Passagiere war.

Sie wich zurück für einen jungen Mann mit einem riesigen Rucksack, durch den er doppelt so viel Platz beanspruchte. Er stieß gegen alle anderen um ihn herum. Der Mann auf dem Sitz neben ihr zog die Beine an, als ob sie ihm einen Stromschlag verpasst hätte, als sie sich an ihn gelehnt hatte. Sie klammerte sich fest und rückte etwas für eine junge Frau, die nach der Haltestange dicht an ihrer Hand griff, als sich der Bus mit einem Ruck in Bewegung setzte und sie beinahe umkippte. Die junge Frau kaute Kaugummi. Ihr langer, blonder Pony fiel über die stark geschminkten Augen. Sie lächelte ein wenig unsicher und schaute schnell wieder weg, konzentrierte sich auf ihr Smartphone in der anderen Hand. Mit dem Daumen scrollte sie geübt durchs Menü. Sah nach Facebook aus. Diskret wurde die Hand an der Stange weiter hoch geschoben, sodass sie ihre nicht berührte. Sie betrachtete die langen, schlanken Finger, die das graue Rohr direkt vor ihren Augen umklammerten. Die polierten French Nails. Den Ring mit einem funkelnden Stein in Form eines kleinen Sterns. Die glatte, weiße Haut. Heute sah sie mehr Details als sonst. Alles war plötzlich so präsent und intensiv. Sie atmete tief ein und fing den weichen, blumigen Duft einer Handcreme auf, oder vielleicht war es das Parfüm der jungen Frau oder das Shampoo, das sich mit dem Duft von Minz-Kaugummi mischte. Wie in Trance starrte sie auf ihre eigene Hand im Vergleich zu dieser weißen. Die Haut war dunkel und rau, die Nägel gelblich.

Schnell blickte sie wieder auf. Ein Fahrgast hatte den Stoppknopf gedrückt und eine Mutter mühte sich damit ab, einen Kinderwagen mit einem schlafenden Kind in Richtung Ausgang zu schieben, wo der runde, blaue Punkt des elektronischen Ticketlesegeräts aufleuchtete. Sie wurden alle im Bus nach vorn geschleudert, als der Fahrer unnötig scharf bremste. Er hatte sie diskret im Rückspiegel gegrüßt, als er sie einsteigen sah. Sie wunderte sich immer noch darüber, dass er den Job als Busfahrer bekommen hatte. Soweit sie wusste, sprach er nicht besonders gut Dänisch. Vielleicht war das egal, wenn die Namen aller Haltestellen von einer Computerstimme durch den Lautsprecher angesagt wurden, und die Dänen waren ja auch nicht besonders redselig. Anders als zu Hause, wo es unmöglich war, Bus zu fahren, ohne sich mit anderen lautstark zu unterhalten. Auf jeden Fall wäre der Fahrer den größten Teil der Fahrt an den Gesprächen und Diskussionen beteiligt.

Sie schaffte es nicht, sich auf einen der Sitze zu setzen, die plötzlich neben ihr frei wurden. Eine Frau mit einem Kind an der Hand war schneller. Wenn der Bus so voll war, wäre es nur natürlich, das Kind auf den Schoß zu nehmen, sodass es einen zusätzlichen Platz gab, aber das kleine Mädchen nahm den anderen Sitz sofort in Beschlag. Es war wohl ungefähr sechs oder sieben. Nun sah es sie unverwandt an mit von blonden Wimpern umkränzten blassen, blauen Augen. Die Augenbrauen waren auf der weißen Haut fast unsichtbar. Es sah aus, als hätte sie geweint. Die roten Lippen waren nass von Spucke und die Nase lief. Wie so viele andere dänische Kinder erinnerte sie an einen Albino.

„Hör auf zu starren, Schätzchen“, flüsterte die Mutter. Sie glaubte selbstverständlich nicht, dass sie Dänisch verstünde. Die unangenehmen Kommentare oder Fragen, die manchmal von Kindern kamen, blieben jedoch aus. Das Schätzchen starrte weiter. Sie hingegen schaute weg, in die Zeitung, die der Mann im Anzug vor ihr las, während er sich an der Deckenschlaufe festhielt.

„Die Dänen haben gesprochen!“, lautete die Überschrift. „Fremdenfeindliche DFD nach der Wahl im Aufwind.“ DFD stand für Dänemark Für Dänen. Aber wann war man Däne? Offenbar nicht mal, wenn man fließend Dänisch sprach, im Großen und Ganzen nur in Dänemark aufgewachsen war und einen Job hatte. Auch nicht, wenn man selbst sich als Däne fühlte. Sie war ausgegrenzt und fremd, besonders, wenn sie wie heute die Kleidung trug, die ihr Glaube und ihre Familie ihr zu tragen gebot. Sie beobachtete die anderen Passagiere. Zwei Teenagermädchen kicherten, während sie sich gegenseitig Fotos auf ihren Handys zeigten. Die eine trug einen kurzen Rock und so, wie sie saß, konnte man den Rand ihrer Unterhose sehen. Ein paar Jungs war das ebenfalls aufgefallen und sie warfen sich verschwörerische Blicke zu. Sie machten einem dritten mit Abiturientenmütze und roten Pickeln auf der Stirn, der schwankend neben ihr stand, unanständige Zeichen. Er roch nach Bier. Die Flasche hielt er in der Hand, halb unter der offen stehenden Jacke versteckt, damit der Fahrer sie nicht bemerkte. Als der Bus erneut bremste, wurde der junge Mann gegen sie geschleudert. Er musste um sich greifen, um das Gleichgewicht zu halten, und hätte beinahe ihren Niqab abgerissen.

„Pfui Teufel. Ab nach Hause mit dir“, murmelte der nach Bier Stinkende und wischte die Hand an seiner Jeans ab, als hätte er etwas Ekliges angefasst. Die anderen lachten. Er selbst grunzte triumphierend, als er mitbekam, wie sich die anderen amüsierten. Das Schätzchen starrte sie intensiv an und flüsterte ihrer Mutter etwas zu, die zurückflüsterte. Das Kind glotzte noch mehr, nun mit halb offenem Mund.

An der nächsten Haltestelle quetschten sich weitere Personen hinein. Sie drehte den Kopf weg und sah zu Boden, als einer aus der Buchhaltung den Bus betrat. Er würde sie kaum wiedererkennen, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Vielleicht verrieten ihre Augen sie. Neulich hatte er nämlich in der Kantine mit ihr geflirtet und gesagt, sie habe die schönsten braunen Augen, die er je gesehen habe. Sie wandte ihm den Rücken zu, aber das war unnötig. Er sah direkt an ihr vorbei und versuchte sich drum herumzuschlängeln, ohne mit ihr in Berührung zu kommen, obwohl das unmöglich war. Sie standen so dicht, dass sie kaum atmen konnte. Als er vorbei war, ergriff er eine Schlaufe an der Decke weiter hinten im Bus und schaute in die Metroexpress.

Sie atmete erleichtert auf, ließ die Haltestange los und bahnte sich den Weg nach vorn. Jetzt war es so weit.

Einige vor ihr, die sich nicht bewegten, musste sie ein wenig schieben. Sie spürte die Panik, als der untere Teil ihrer Abaya in dem Rad eines Buggys hängen blieb. Als sie sich vorbeugte, um sie loszumachen, sah sie ins Gesicht eines kleinen Kindes von ungefähr einem halben Jahr. Große, blaue Augen studierten sie neugierig; dann kam ein spontanes Lächeln und der Kleine fuchtelte begeistert mit den Armen. Die Frau, die neben dem Buggy stand, beugte sich herunter. Sie lächelte freundlich. Ihre Augen waren auch schön und blau. Nett anzusehen. Sie half ihr, den schwarzen Stoff aus dem Rad zu befreien. Plötzlich verspürte sie Zweifel und es gelang ihr nicht, das Lächeln zu erwidern.

„Verschwinde, du schwarzes Gespenst! Du gehörst nicht hierher!“

Sie bekam einen brutalen Stoß von hinten. Es war ein aufgepumpter Mann mittleren Alters mit Halbglatze und einer hässlichen Tätowierung am Hals. Er starrte sie böse an mit kleinen Schweinsäuglein, die fast im Gesichtsfett verschwanden. Sie richtete sich auf und drängte weiter in Richtung des vorderen Ausgangs, wo sie sich an der Wand zum Fahrersitz abstützte. Niemand durfte mitbekommen, dass sie ihre Hand zu ihm öffnete. Der Fahrer las die Nachricht und nickte ihr zu. Seine Augen waren dunkel und zornig und der Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sie verstand ihn gut. Das Ganze hing jetzt von ihm ab. Abdul-Jabaar hieß er, erinnerte sie sich nun, und nickte zurück. Sie warf einen letzten Blick auf das Kind im Buggy, die Frau lächelte ihr wieder zu und es schmerzte tief unten in der Brust. Es war noch nicht lange her, dass ihr eigener Sohn in diesem Alter gewesen war. Aber jetzt gab es keinen Weg zurück. Sobald der Bus hielt, eilte sie hinaus.

Die Sonne schien auf den regennassen schwarzen Asphalt. Sie lief über die Straße, als die Autos bei rot stehen blieben, wurde aber beinahe von einem Radfahrer angefahren, als sie den Radweg kreuzte. Sie eilte ins Bushäuschen, während sie die Handfläche an der Abaya abwischte, sodass der Text, den sie darauf geschrieben hatte, verschwand. Der Plan im Häuschen zeigte, dass es eine Weile dauern würde, bis der Bus in die Gegenrichtung kam. Der Schweiß lief unter dem Niqab. Sie sah Abdul-Jabaars Bus nach, der zurück in den Verkehr glitt und weiterfuhr, nachdem sich noch mehr Menschen hineingezwängt hatten. Der Bus war brechend voll.

Jetzt war es vorbei. Sie hatte getan, was sie tun sollte. Die Beine gaben unter ihr nach und sie musste sich auf die Bank im Bushäuschen setzen. Dort wartete bereits ein weißhaariges Rentnerpärchen in beigefarbenen Windjacken. Sie rutschten etwas beiseite, taten aber sonst, als ob sie sie nicht sahen.

Plötzlich wurde der Verkehrslärm von schneidendem Sirenengeheul übertönt.

„Was zur Hölle ist da los?“, rief der Mann und deutete mit dem Stock auf die Fahrbahn, wo ein Polizeiauto in rasantem Tempo vorbeidüste und vor den Bus fuhr, aus dem sie gerade gestiegen war, sodass er zum Anhalten gezwungen war.

Die Frau umklammerte die Tasche auf ihrem Schoß, antwortete nicht und starrte dem Bus nach. Sie standen beide auf. Sie tat das Gleiche, da sie wegen des Paares sonst nichts sehen konnte, und schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab. Der Bus hielt und zwei Beamte stiegen ein.

Völlig unvermittelt gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der sie alle drei zusammenzucken ließ. Der Mann legte den Arm um die Schultern der Frau, um sie zu beschützen.

„Verdammt, die schießen!“, rief er.

„Wer schießt?“, jammerte die Frau.

War Abdul-Jabaar bewaffnet gewesen? Was war passiert?

Ihr Hals schnürte sich zusammen und der Puls pochte in den Ohren.

Ein Bus hielt in der Haltebucht vor ihr, sie sprang schnell hinein, obwohl es nicht der war, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte nur weg. Der Fahrer war von dem Szenario hinter ihnen auf der Gegenfahrbahn gefesselt, beschloss aber, seinen Fahrplan einzuhalten. Kurz darauf ertönten die Sirenen erneut und weitere Krankenwagen rasten vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Versteinert starrte sie vor sich hin und fing an zu zittern.

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10

Подняться наверх