Читать книгу Froschkönige - Ingo Lackerbauer - Страница 10

4 Tante Vera

Оглавление

Ja?«, dröhnte es aus der Gegensprechanlage. Hannes kannte die Stimme – Dschingis-Stalin bediente die Leitung, der im Allgemeinen meist DS genannt wurde und Tante Veras Geheim- und Allzweckwaffe war.

»Hey DS, Hannes hier. Wir wollen zu Vera!« Eine gefühlte Ewigkeit später öffnete sich das Gartentor und gab den Weg zur Villa frei. Vera Zakowski lebte nicht schlecht. Allein die Grünanlage des Anwesens bot Platz für mindestens ein fünfstöckiges Mietshaus inklusive Park- und Tennisplätzen, Spielplatz und weiteren Freizeitanlagen des gehobenen Genusses. Hannes und Margaux schlenderten gemütlich durch die Parkanlage, die den Prachtbau umgab, und genossen die schattige Atmosphäre. Beide atmeten tief durch. Mit Betreten dieses ruhigen Fleckchens jenseits der Großstadthektik verschwanden die schwülen Temperaturen sowie der Lärm und man tauchte ein in eine gänzlich andere, verzauberte Welt. Margaux mochte den Ort. Der kleine Park rund um die Villa war dunkel, strahlte jedoch keinerlei bedrohliche Düsternis aus, sondern vielmehr etwas Beschützendes und Behütendes. Wenige Sonnenstrahlen durchdrangen das Dickicht der Kronen der alten Bäume. Hier und da standen antike und verwitterte Plastiken diverser griechischer Gelehrter, wie Margaux in Erfahrung gebracht hatte. Fast hatte es den Anschein, als würden sie diese Oase der Ruhe und Friedfertigkeit bewachen. Vera wusste um die Faszination Margaux’ für die dunkle Seite des Lebens und hatte ihr angeboten, den Park sooft besuchen zu dürfen, wie sie wollte. Sie mochte den weiblichen Teil der Froschkönige sehr gern, erinnerte die junge Frau sie doch an ihre eigene Jugend. Margaux nahm die Offerte dankend an und verweilte jede Woche mindestens drei bis vier Stunden hier, las und gab sich den vielfältigsten Gedanken hin. Die grüne Lunge der Villa bediente ihre morbide Lebenseinstellung auf nahezu perfekte Art und Weise. Und nachdem sie Zeit im Garten verbracht hatte, lud Vera sie immer wieder zum Nachmittagstee ein. Und obwohl beide Frauen höchst unterschiedlich waren, verband sie eine innige Freundschaft. Nach wenigen Minuten des Schlenderns kam der Prachtbau in Sicht.

»Ich würde alles geben, um hier leben zu dürfen«, entfuhr es Margaux unbeabsichtigt. Hannes schaute die Freundin erstaunt an.

»Und was hindert dich daran? Tantchen hätte bestimmt nichts dagegen. Und DS wahrscheinlich ebenfalls nicht.« Hannes grinste. Sie wusste, worauf er anspielte. Auch sie hatte festgestellt, dass DS starke Sympathien für sie hegte. »Ja, schon gut! Irgendwie fände ich es Paul gegenüber nicht richtig. Schließlich ist es seine Tante, die noch einzig verbliebene Verwandte. Da will ich mich keinesfalls dazwischendrängen.«

Hannes runzelte die Stirn. »Glaub mir, er ist der Letzte, der dir da Steine in den Weg legen würde. Er liebt zwar Vera, aber nur, wenn genügend Abstand zwischen den beiden besteht. Und: Ich kann ihn da voll und ganz verstehen.«

»Ich mag Vera, sie ist eine tolle Frau!«

Hannes nickte. »Ich weiß.«

Wortlos gingen sie weiter Richtung Hauseingang. Die Villa war ein dreigeschossiger Prachtbau aus der Jahrhundertwende mit diversen Loggien, Terrassen, Giebeln und Ecktürmen im Stil der deutschen Renaissance. Aus der Ferne erinnerte es an eine europäische Version von Bates Motel aus Hitchcocks Psycho-Klassiker, nur drei Spuren eleganter. Hier hatte sich eindeutig ein Architekt mit Hang zur Romantik ausgetobt. Der Erbauer des Baus war Veras Urgroßvater – ein erfolgreicher Maschinenbauer und Unternehmer. Leider munkelte man, dass er auch zu Zeiten des Nationalsozialismus gut verdient hatte, was in der Familie jedoch stets vehement bestritten wurde. Fakt war, dass die Immobilie eines der Sahnestückchen Kölns war. Immobilienunternehmen standen monatlich auf der Matte und boten irre Summe im Millionenbereich – Tendenz steigend. Tante Vera blieb standhaft. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Anwesen dem Neffen Paul zu vererben. Sollte er nach ihrem Tode entscheiden, wie es mit dem Familienbesitz weitergehen würde. Sie wäre tot und müsste sich dann lediglich darum kümmern, ihr kuscheliges Plätzchen im Jenseits zu finden.

DS stand in der Tür und empfing Margaux und Hannes. Der Mann war eine Ausnahmeerscheinung, eine Kante von 1,70 Meter Körpergröße, bepackt mit Muskeln, wo es nur ging und möglich war. Hannes vermutete – und das zu Recht –, wenn DS in den Puff kam, dass selbst die Hells Angels und Bandidos eine Ehrfurchtsgasse bildeten. Er beeindruckte durch eine immense körperliche Präsenz, die einschüchterte, wobei Einschüchtern reichlich untertrieben war. Der Typ war eine Manifestation, eine Naturgewalt! Das Äußere prägten, neben einem gewaltigen Stiernacken, dem fehlenden Hals und einer ausgeprägten Halsschlagader, eine partiell im seitlichen Bereich tätowierte Glatze sowie ein Mongolenzopf, der direkt aus dem Schädelinneren zu entfleuchen schien. Seine Front zierte ein imposanter Schnäuzer. Die ungewöhnliche Kombination aus Stalin-Oberlippenbart und dem Zopf verlieh dem Kraftpaket das Aussehen eines Hünen. Wer ihm den Spitznamen Dschingis-Stalin zuteilwerden ließ, war im Nebel der jüngeren Zeitgeschichte untergegangen. DS war Veras Mann fürs Grobe und die Exekutive in Tantchens Edelbordell-Imperium. Immer, wenn es galt, etwas physisch auszutragen, war er zur Stelle. Zudem beschützte er Veras Mädels. Diese Aufgabe nahm er sehr ernst. Pöbelnde Kunden oder jene mit außergewöhnlichen Wünschen setzte er sofort vor die Tür. Schließlich betrieb die Zakowski einen anständigen Puff. DS war der perfekte Kandidat, ein authentisches Bedrohungspotenzial aufzubauen. Die Vergangenheit DS’ lag weitestgehend im Dunkeln. Vera hatte irgendwann am Rande durchblicken lassen, dass er in seinem früheren »Leben« Ausbilder bei der Bundeswehr gewesen und unehrenhaft entlassen worden war. Weswegen? Fehlanzeige! Paul konnte Vera einmal in einer stillen Stunde herauskitzeln, dass er wohl mit Dingen aus der Waffenkammer etwas zu liberal umgegangen war. Was das auch immer heißen mochte. Wie Tante an die Person DS gekommen war und für ihre Dienste rekrutiert hatte, war ebenfalls ein Mysterium, über das sie nicht redete. Paul verspürte wenig Lust, da tiefer zu bohren. DS machte seinen Job hervorragend und das genügte ihm. Er fand es spitze, dass die alte Dame jemanden wie DS an ihrer Seite hatte, speziell in dem Business, in dem sie unterwegs war.

DS hatte beste Beziehungen zur Unter- bzw. Halbwelt und dort vor allem zu Typen, die ihren Kunden lediglich die Wahl zwischen Intensivstation oder Friedhof ließen. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass DS ein Mann ohne Moral war – im Gegenteil. Er war ein Exemplar mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, das sein Herz an der rechten Stelle trug. Er selbst hörte das nur sehr ungern, es entsprach aber den Tatsachen. Eine seiner Marotten war es, auf Leute, die ihn fotografierten, allergisch zu reagieren. Wahrscheinlich existierte irgendwo auf dem Globus immer noch der ein oder andere Steckbrief mit DS’ Konterfei. Wer Dschingis-Stalin zu lange anglotzte und dann ablichtete, der hatte verloren. Da gab’s mal ganz schnell eines auf die Mütze.


DS blickte leicht verachtend und mit vor der Brust verschränkten Armen auf Hannes, der mit gebührendem Abstand vorm Eingang der Villa und der Hürde Dschingis stoppte. Er fand DS unheimlich und kaum kalkulierbar. Für ihn war das laufende Muskelpaket ein wildes Tier, das man nur sehr schwer unter Kontrolle halten konnte. Er bewunderte Vera dafür, dass ihr das perfekt gelang. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. DS hielt Hannes und Paul für penetrante Schnorrer, die auf Kosten der Arbeitgeberin Vera lebten. Und das war inakzeptabel – er hatte sich geschworen, sämtliches Unheil von Vera fernzuhalten. Und da zählten die beiden eindeutig zu. Klar war allerdings auch, dass DS der Agentur immer wieder in brenzligen Situationen aus der Patsche geholfen hatte. Und tief in seinem Inneren keimte das zarte Pflänzchen der Sympathie für den Neffen Veras und dem dazugehörigen Kumpel. Dann erblickte DS Margaux, die sich aus dem Park kommend zu Hannes gesellte. DS’ verhärtete Gesichtszüge sowie Körperspannung verschwanden schlagartig. Er hatte eine Schwäche für die zerbrechlich wirkende junge Frau. Schon vom ersten Moment an, als er sie gesehen hatte, entwickelte er starke Beschützerinstinkte für sie. Sie wusste es, und es war ihr nicht unangenehm – ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich geschmeichelt. Margaux ging auf DS zu und umarmte ihn. Der genoss die Umarmung.

»Margaux, mein Schatz, alles klar? Behandeln dich die beiden Kasperköppe mit dem gebührenden Respekt?«

Hannes verzog genervt das Gesicht. »Fragt denn auch mal jemand, ob Margaux Paul und mich gut behandelt? Warum sollen wir immer die Bösen sein?«

DS blickte Hannes nur an und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger und Mittelfinger in der typischen V-Form erst auf seine Augen und dann auf die von Hannes.

»Schon klar, ich verstehe!«, antwortete der auf die nonverbale Drohung.

Margaux nahm DS am Arm und schlenderte mit ihm ins Foyer der Villa. Hannes folgte leicht bedröppelt – wie üblich, wenn es zu Kontakten mit dem Mongolen kam.

»Juhu«, flötete Vera, welche die voluminös geschwungene Treppe herunterschwebte. Es war ihr Auftritt. Und der war immer perfekt inszeniert und musste als gelungen bezeichnet werden. Sie sah tadellos aus. Das Alter Veras konnte man beim besten Willen kaum schätzen. Die roten Haare saßen vortrefflich und lagen locker auf den Schultern. Ein dezentes, unaufdringliches Make-up rundete das fast faltenfreie, sympathische Gesicht ab. Vera beschäftigte wohl einen der begabtesten plastischen Chirurgen Deutschlands mit viel Fingerspitzengefühl sowie einem Sinn für Ästhetik. Man wusste, dass sie über siebzig sein musste – Paul hatte sich einmal dahingehend geäußert. Aber wie sie hier und jetzt mit den stilvollen Klamotten ankam, die ihre schlanke Figur umschmeichelten, ging sie für eine gute End-Fünfzigerin durch. Wahnsinn!

»Kindchen.« Vera hielt die Arme auf, um Margaux zu umarmen. Die stürmte auf sie zu und fiel ihr in die selbigen. Eva blickte Hannes an, der sich leicht deplatziert fühlte.

»Na komm schon, Hannes. Gruppenkuscheln!«

Au ja, darauf hatte er jetzt mal so richtig Bock. Fehlte, dass DS mit feuchten Augen an der Umarmungsorgie teilnahm. Widerwillig sank er in Tantchens ausgebreitete obere Extremitäten.

»Na also, geht doch. So, und nun folgt mir in den Salon. Ihr bleibt zum Essen?« Vera entließ die Umarmten aus ihren Schwingen.

»Natürlich«, antworteten Margaux und Hannes, wie aus der Pistole geschossen. Aus gutem Grund: Veras Köchin war eine Meisterin des Faches.

»Und mein Neffe?«, fragte sie, während die drei im Salon Platz nahmen. Mit der Stärkung würde es noch einen Augenblick dauern.

»Der freut sich über deine Empfehlung in Sachen Blastonk an uns und lässt sich entschuldigen. Termine! Zudem entwickelt Paul unternehmerische Qualitäten – er hält das Honorar zusammen und möchte einen Großteil davon auf das Geschäftskonto packen. Ungewöhnlich!«, erläuterte Hannes.

»Na so was. Scheint in Paulchens Innerem doch das ein oder andere Unternehmer-Gen langsam aus dem Winterschlaf zu erwachen. Erstaunlich, aber durchaus positiv!«

Die vier machten es sich im Salon der Villa in diversen Klubsesseln bequem.

»Jemand einen Drink?«, fragte Vera in die Runde. Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.

»Vielleicht nach dem Essen«, antwortete Hannes. »Was kannst du uns über Blastonk erzählen?«

»Okay, lass mal überlegen. Der Mann ist ein Schürzenjäger, wie er im Buche steht. Was nicht bei drei auf den Bäumen ist, hat verloren. Und ehrlich gesagt kapiere ich einfach nicht, was den Typen immer wieder für die tollsten Frauen anziehend macht. Habt ihr den Doktor auf Fotos gesehen? Versteht mich bitte nicht falsch, mein Georg – Gott habe ihn selig – war auch keine Schönheit und hatte einige Kilo zu viel auf der Waage, aber er war witzig, intelligent und hatte Charme«, sagte Vera und versank einen Augenblick in Erinnerung an ihren letzten und langfristigen Gatten.

»Hast du Blastonk mal getroffen?«, fragte Hannes.

»Ja, mehrmals auf dem Golfplatz in Begleitung von Doris.«

»Apropos Golfplatz. Sollen wir unsere Aktivitäten darauf ausweiten? Ich meine nur, weil du öfters vor Ort bist und es dir vielleicht unangenehm wäre …«

»Margaux Schätzchen, kein Problem. Im Klub werde ich höchstpersönlich für genug Trubel sorgen und diesen Idioten eine verpassen, die sich gewaschen hat.« Vera grinste. »Mir fällt da noch etwas ein, was Doris mal erwähnte. Ist jedoch schon eine Weile her. Zufällig hat sie einmal mitbekommen, dass der Göttergatte einen Termin bei einem Psychologen hatte. Sie war in der City shoppen, als sie Fritz sah, wie er ein Gebäude in der Hohe Straße betrat. Sie folgte ihm und bekam mit, dass es sich um eine psychotherapeutische Praxis handelte. Die Gute war erstaunt. Okay, ein Verhältnis, daran war sie ja gewöhnt. Aber ein Psycho-Doktor?! Ich kann mir das irgendwie auch nicht recht vorstellen.«

»Midlife-Crisis, inklusive Depression?«, fragte Margaux.

Vera lachte laut auf. »Ich weiß nicht, ob Blastonk zu derlei komplexen Gefühlen fähig ist. Glaube eher nicht.«

»Ist trotzdem sehr interessant. Das könnten wir für unsere Kampagne benutzen. Es scheint sich ja um eine Schwachstelle des werten Dr. Blastonk zu handeln. Weißt du, welcher Seelenklempner das war?«

»Klar doch, Liebelein.« Sie reichte Hannes eine Visitenkarte.

»Dr. Arne Weiß. Und du hast nicht zufällig eine Ahnung, weswegen er beim Onkel Doktor war?«

Vera grinste schelmisch. »Rein zufällig kenne ich den Seelenklempner, und siehe da, er war mir den ein oder anderen Gefallen schuldig. Wir haben ein interessantes Gespräch geführt. Zudem ist er in meinem Etablissement ein gern gesehener und üppig zahlender Gast.«

Auf gut Deutsch hieß das, dass Tante ihn eiskalt erpresste. Margaux blickte besorgt in Richtung DS. Der nickte dezent, was bedeutete, dass alles in bester Ordnung war. Keine Gefahr im Anmarsch!

Hannes schüttelte den Kopf. »Okay, dann raus damit«, forderte er Vera leicht genervt auf, Details zu nennen. Die war kurz vorm Explodieren, die News mussten einfach nach draußen.

»Ob ihr es glaubt oder nicht, unser Herr Doktor Chemiker war wegen Sexsucht in Behandlung«, prustete Vera auf ihre ganz eigene Art los.

»Sexsucht?« Margaux schaute auf. »Das ist doch Schwachsinn?!«

»Mitnichten, mein liebes Kind«, antwortete Tante. »Laut Dr. Weiß – und das hat er mir unter dem Mäntelchen der Verschwiegenheit anvertraut – kämpfte Dr. Blastonk mit dem unkontrollierten Konsum von Pornografie, Telefonsex, Cybersex und diversen Sex-Chats.«

»Für mich ist Sexsucht nichts anderes als eine faule Ausrede des männlichen Geschlechts, um Seitensprünge zu rechtfertigen«, entgegnete Margaux resolut in Richtung Vera.

»Ich weiß nicht. Laut Herrn Psycho-Doktor handelt es sich um eine Sucht. Sexsucht verspricht, genauso wie der abhängige Genuss von Alkohol oder anderen Drogen, einzigartige Aufregung und Entspannung. Die Befriedigung der Sucht kompensiert vorübergehend schlechte Gefühle. Viele Menschen sehen in Drogen, wie die der Sexsucht, eine Belohnung für die Mühen des stressigen Alltags – sagt zumindest Blastonks Psychologe«, referierte Vera.

»Ist ja alles schön und gut, Sex hin, Sex her. Auf jeden Fall lässt sich das perfekt verwenden. Wir dürfen doch?«, fragte Hannes.

»Aber sicherlich.« Vera kicherte. »Der hat’s nicht besser verdient.«

Froschkönige

Подняться наверх