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5 Naturgewalt

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Hallöchen«, trällerte Palmira mit schriller Stimme. Ihre Erscheinung glich einer Detonation. Die Gespräche in der Bäckerei verstummten auf einen Schlag und Fassungslosigkeit machte die Runde bei der vornehmen Kundschaft des Edel-Brötchenverkäufers im noblen Stadtteil Köln-Marienburg. Die Naturgewalt baute sich breit auf, ließ ein unüberhörbares Stöhnen vom Stapel und wedelte sich mit einem überdimensionierten und knallbunten Fächer die Schweißperlen von der Stirn.

Palmira hatte den schönsten Zwirn übergeworfen, den ihr gewaltiger Fundus bot. Den 120-Kilo-Körper zierte ein wallendes, teils transluzentes Kleid in zartem Hellblau. Sie sah aus wie ein gefallener Engel, der aufgrund des zu hohen Körpergewichtes die Tragfähigkeit seiner Wolke überschritten hatte und Richtung Erde gestürzt war. Die platinblonde Perücke krönte ein kleiner Fascinator mit Netz und Feder, und zwar in Knallrot. Die Krönung des Ganzen war jedoch Dürer – der Mops, den sie auf dem Arm trug und der dröge vor sich hin sabberte und die typischen röchelnden Atemgeräusche ausstieß. Und warum Dürer? Palmira fand, dass ihr Hund ein wenig Ähnlichkeit mit Dürers berühmtem Aquarell eines Feldhasen hatte – speziell, was die Augen betraf. Die Übereinstimmung zwischen dem Feldhasen und Palmiras Mops war allerdings nur dem Frauchen vergönnt zu sehen. Dürer – also dem Hund – war das egal.

Palmira ließ erst einmal die Blicke im Geschäft schweifen. Nicht, dass sie das Angebot des Bäckers interessiert hätte, sie musste aber das Spannungsniveau des Auftritts erhöhen bzw. zumindest halten. Sie schlenderte ziellos locker umher, nickte mit dem Kopf und sprach das ein oder andere mit Dürer. Der Blick blieb an einer Ecke des Ladens hängen. Eine Glasvitrine beherbergte hässliche Gebilde aus Salzgebäck, die wohl die architektonischen Highlights Marienburgs darstellen sollten. Gruselige Kunst aus dem Kindergarten!

»Oh ha, welches Salzteigmonster hat sich denn hier ausgetobt?« Palmira schüttelte angewidert das augenfällige Haupt. Es war ihre Show und sie hatte einhundert Prozent Aufmerksamkeit. Der Plan ging auf. Keiner der Kunden wagte, auch nur ein Wort zu sagen. Also ergriff sie die Initiative und wandte sich an die Runde der Anwesenden.

»Was für ’ne scheiß Hitze. Da läuft einem doch glatt die Suppe in jede Falte unterhalb des Körperäquators.« Eine grelle, schrille und unüberhörbare Transen-Lachsalve folgte. Gleichzeitig stieß Palmira die ihr am nächsten stehende Person mit der Schulter an.

»Stimmt’s, Rumpelstilzchen!?«

Palmiras Opfer war ein hagerer, älterer, gepflegter Herr mit Nickelbrille sowie einem affigen roten Barett als auffälligstes Merkmal auf dem Haupt. Kurzerhand griff sich die Gute, im Überschwang der Gefühle, den verdatterten Opa und versenkte dessen vergleichsweise kleinen Kopf inklusive Kopfbedeckung in ihrem gewaltigen Plastik-Dekolleté. Der mindestens zwei Nummern winzigere Greis bekam Schnappatmung, rang nach Luft und konnte sich schließlich nur mit äußerster Mühe befreien. Die Augen des Rentners wirbelten hilfesuchend und panisch hin und her. Sinnlos! Rettung war nirgendwo in Sicht. Die restliche weibliche Kundschaft mittleren Alters betrachtete dezent und fremdschämend die Szenerie. In den Augen der vermögenden Gattinnen machte sich jedoch auch ein Funken Faszination bemerkbar. So etwas hatten die Damen der feineren Gesellschaft hier noch nicht gesehen.

Palmira richtete ihre Aufmerksamkeit in Richtung Verkäuferin und holte zum finalen Vernichtungsschlag aus.

»Sagen Sie, wissen Sie, was mit Herrn Dr. Blastonk los ist? Keiner öffnet die Tür. Ich wollte nur mal nach dem Rechten schauen, da Fritz gestern nicht zu unserem monatlichen Schamanen-Workshop erschienen ist. Das ist für den Lieben eher untypisch, zumal er einen lang vorbereiteten Vortrag zum Thema Natursteine als Rettung der Seele zu halten beabsichtigte. Wir machen uns wirklich Sorgen. Nicht wahr, mein Kleiner.« Dabei küsste sie ihren Mops auf die zu kurz geratene Nase, was bei Kundschaft und Verkaufspersonal gleichermaßen für einen Ekelanfall sorgte.

Keiner der Anwesenden fühlte sich bemüßigt zu antworten. Es entstand eine peinliche Pause, während Palmira auffordernd in die Runde blickte.

»Nicht die Spur einer Ahnung, was im Hause Blastonk los ist?«

Die Verkäuferin fand als Erste die Contenance wieder. »Schamanen-Workshop?«

»Ja meine Beste. Wir treffen uns, wie erwähnt, einmal im Monat des nächtens im Kölner Grüngürtel, entkleiden uns und lauschen den Gedanken und Erfahrungen der Mutter Erde.«

»Entkleiden?«, fragte die verunsicherte Kauffrau irritiert nach. Die Ärmste dachte wohl, dass sie die Gesprächsführung übernehmen musste. Eine fatale Entscheidung, sie würde den Kürzeren ziehen.

»Natürlich Liebelein, was denkst du denn? Nur so können wir das gesamte Spektrum der Schwingungen aufnehmen und dem Geist einverleiben. Und wenn es zu extremer Körperlichkeit zwischen den Mitgliedern des esoterischen Zirkels kommt, dann ist die Erdgöttin Gaia manchmal gutgesinnt und beglückt uns mit ihren übersinnlich-transzendenten Botschaften«, referierte Palmira, die sich in Höchstform redete.

Rumpelstilzchen wurde hellhörig. Mittlerweile hatte sich der Rentner mit der roten Baskenmütze aus Palmiras Fängen befreit, blieb jedoch interessiert stehen und hörte aufmerksam zu.

»Ähm Gnädigste, was meinen Sie mit Körperlichkeit?«, fragte er flüsternd.

Palmira lächelte ihn verführerisch an und befingerte mit ihrer behaarten Bauarbeiterpranke zärtlich das Kinn des begierigen Pensionärs.

»Na, na, na, wer wird denn hier gleich wuschig werden. In der Tat haben es Fritz und ich beim letzten Treffen ein wenig zu heftig getrieben. Er fiel über mich her, wie der Mistral das französische Hinterland im Herbst heimsucht.«

Rumpelstilzchen hatte Feuer gefangen. Er hing fasziniert an Palmiras Lippen.

»Und jeder kann bei Ihnen Mitglied werden?«, fragte er schüchtern.

»Natürlich, Knuffelchen.«

Die Brötchenverkäuferin mischte sich wieder ein. »Herr Weyrich, Sie werden doch wohl nicht …«

Herr Weyrich räusperte sich und verließ fluchtartig den Laden. Dabei vergaß er die Tür zu öffnen und lief prompt gegen die Glasscheibe des Geschäftes. Es wummerte mächtig, Rumpelstilzchen prallte zurück und landete erneut in Palmiras Armen, was ihm nun weniger unangenehm schien als beim ersten Mal.

»Hey, immer schön vorsichtig, mein kleiner Hase! Wir wollen doch nicht, dass das nette Barett verrutscht.« Herr Weyrich versuchte aufs Neue, die Örtlichkeit seines psychischen und physiologischen Ausfalls zu verlassen. Der zweite Anlauf gelang. Er verließ den Laden, jedoch nicht, ohne Palmira noch einmal einen dezent verschwörerischen Blick zuzuwerfen. Sie hatte einen neuen Bewunderer, auch wenn sie Rumpelstilzchen wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Irgendwie schade!

»Also, von Ihnen hat Fritz in den letzten Tagen niemand gesehen?«, fragte sie abermals in die Runde der schockerstarrten Vorstadt-Tanten. Alle schüttelten heftigst den Kopf.

»Teuerste, sagen Sie, es ist doch sicherlich kein Problem, hier ein paar Flyer zu meinem neuen Workshop Einfach laufen lassen – freie Menstruation als Ausdruck persönlicher Freiheit und Gleichberechtigung auszulegen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, die sowieso nicht kommen würde, legte sie einen kleinen Stapel der brisanten Textdokumente auf der Fensterbank ab.

»Ach ja, und grüßen Sie Dr. Blastonk von mir, wenn er bei Ihnen auftauchen sollte. Er soll sich bitte melden. Die Telefonnummer hat er ja.«

Palmira blickte umher und grinste innerlich – die Bombe war zielsicher eingeschlagen und hatte erfolgreich gezündet. Siegessicher verließ sie den Laden und schlenderte zu ihrem alten Renault R4, der direkt vor dem Geschäft parkte. Der Wagen begleitete sie schon seit unendlich vielen Jahren. Ehe sie einstieg, ließ sie ihre Blicke schweifen. In Marienburg war alles so ganz anders als in Ehrenfeld. Auch wenn sie es sich locker hätte leisten können, mit den Lotto-Millionen sich hier ein Domizil zuzulegen – sie wollte um nichts in der Welt tauschen. Köln-Marienburg zählte zu den größten, teuersten und exklusivsten Villenvierteln, die es in Deutschland gab. Hier fand man die opulentesten Villen sowie traumhaftesten Gärten und Parks. Und jede Menge prominenter Einwohner. Ab dafür! Die Körnerstraße in Ehrenfeld war ihr Mikrokosmos, in dem man sie kannte und vor allem akzeptierte. Und das war Palmira wichtig. Obwohl sie als Paradiesvogel galt und genauso aussah, legte sie großen Wert darauf, respektvoll behandelt zu werden. Und das war gar nicht so einfach. Denn mit der sooft beschworenen und zu jeder Gelegenheit besungenen beziehungsweise zur Schau getragenen kölschen Toleranz war es nämlich nicht so weit her. Jenseits der »toleranten« Fassade herrschte Mief und Spießbürgerlichkeit wie vor vielen Jahrzehnten. Selbst in Ehrenfeld! Es hatte lange gedauert, bis man sie akzeptiert bzw. toleriert hatte und nicht mehr hinter ihrem Rücken tuschelte und sie auslachte.


Keine Stunde später steuerte Palmira ihren Renault in die Körnerstraße und fand sogar einen Parkplatz nicht unweit ihrer Wohnung und des darunterliegenden Ladengeschäfts. Ein Glücksfall, so konnte der Tag weitergehen. Das Unheil nahte jedoch sehr schnell, und zwar in Gestalt Sabines. Palmira schnaufte, als Sabine ihr wild gestikulierend bedeutete, einen anderen Stellplatz für das Gefährt zu suchen. Die Büchse nervte! Oh Weltuntergang, sie hatte sich mal wieder auf den Parkplatz direkt vor ihrem Laden niedergelassen. Eine Ungeheuerlichkeit, da die junge Dame – ihres Zeichens Betreiberin und Inhaberin eines Design-Chi-Chi-Geschäfts – den öffentlichen Parkplatz für sich bzw. ihr Geschäft beanspruchte. In aller Regel stellte die liebe Kleinstkrämerin illegalerweise einen alten Sessel auf Rollen auf den Parkplatz. Palmira hatte keine Lust, diesmal klein beizugeben. Sie war auf Krawall gestrickt, hatte einfach Kupido auf Konfrontation. Es war wieder höchste Zeit, die kleine Zicke einzunorden. Also ließ Palmira das Auto stehen und schälte sich genüsslich aus dem Fahrzeug. In Palmiras Augen war Sabine nichts weiter als einer dieser typischen Öko-Opportunisten, die Ehrenfeld zunehmend bevölkerten und ihren Wohlstandsmüll heimlich auf die Mülltonnen der Nachbarschaft verteilten. Palmira hatte sie dabei schon ein paar Mal erwischt, was der Grund für Sabines Feindseligkeit ihr gegenüber war. Hauptsache, die alternative und hippe Fassade stimmte. Krönung der ganzen Verlogenheit waren die Avantgarde-Jazz-Weltmusik-Konzerte in ihrem Laden, in deren Rahmen sie für diverse Umweltschutzprojekte sammelte, sich aber keinen Deut um die Umwelt vor der eigenen Haustür scherte. Widerlich! Was aus der gesammelten Kohle wurde, stand zudem in den Sternen.

»Sabine, Engelchen, wo brennt’s denn?«, fragte sie scheinheilig. Das Design-Mäuschen bekam schon wieder hektische Flecken im Gesicht – ein untrügliches Zeichen dafür, dass Palmira auf dem richtigen Kurs war. Na also, geht doch.

»Könnten Sie bitte nicht hier parken. Der Parkplatz gehört zu meinem Geschäft.«

»Ach, ist das so. Bisher dachte ich, es handle sich hier um einen normalen öffentlichen Parkplatz. Und jetzt kommt die ganz große Überraschung für dich, Liebelein. Hat das Ordnungsamt mir doch tatsächlich mitgeteilt, dass es sich um einen städtischen Parkplatz handelt. Komisch! Und mal im Vertrauen, Schätzchen: Die fünf Hippster-Besucher pro Tag kommen doch sowieso per Fuß oder Fahrrad, um sich deine eigenartigen Filz-Handy-Täschchen und all den anderen bescheuerten Kram anzuschauen.«

Das hatte gesessen! Sabine rannte schreiend in ihren Laden zurück. Was genau das zarte Seelchen lauthals brüllte, war beim besten Willen nicht zu verstehen. Gegenüber stand Paul, der das Geplänkel amüsiert verfolgt hatte. Er klatschte Applaus und grinste von Ohr zu Ohr.

»Du bist unnachahmlich!«

»Ich weiß«, flötete Palmira. Dürer dümpelte müde auf Palmiras Arm vor sich hin, ihn schien das alles nicht im Geringsten zu tangieren. »Ich ertrag diese blöde Schlampe nicht. Machen hier einen auf gute Nachbarschaft und Öko und sind dabei die schlimmsten Egomanen, die es überhaupt gibt. Sie und ihre Design-Lädchen-Freunde.«

»Geht mir genauso«, antwortete Paul und klopfte der Freundin auf die Schulter. Und in der Tat hatte Palmira in Paul einen Verbündeten im Kampf gegen die zunehmende Öko-Verspießung des Viertels und der Straße.

»Und, alles klargegangen? Hast du die Saat des Bösen ausgebracht?«, fragte Paul.

Palmira grinste und salutierte. »Und ob! Vernichtungsschlag ausgeführt! Du hättest die Gesichter sehen sollen, Fassungslosigkeit und Entsetzen als beschreibender Zustand der Kunden wären noch reichlich untertrieben. Ich glaube, der liebe Dr. Blastonk wird ab heute mit anderen Augen betrachtet werden, wenn er durchs beschauliche Marienburg wandelt. Der Bäcker war die optimale Informationsschleuder. Du Teufel, du!« Palmira zupfte mit Daumen und Zeigefinger beider Hände an Pauls Wangen. Der schaute genervt in der Gegend umher. Es war ihm peinlich, dass sie ihn wie ein kleines Kind behandelte. Er ließ es jedoch über sich ergehen. Wenn es ihr ein Bedürfnis war! Nachdem der Kuschelanfall vorüber war, blickte Palmira Paul an.

»Ach beinahe hätte ich’s vergessen, da war noch etwas Merkwürdiges. Als ich den Bäcker verlassen hatte und wieder Richtung Körnerstraße abdüsen wollte, sprach mich eine junge Frau an. Ebenfalls eine Kundin. So der Typ unscheinbares Mäuschen – eher untypisch für Marienburg. Ich tippe auf Hausangestellte bei einem dieser reichen Säcke.«

»Palmira, komm zur Sache!«

»Ja, schon gut, mein Mon Chéri. Also, die Gute teilte mir mit, dass sie seit gestern versuchte, Blastonk zu erreichen. Fehlanzeige! Ich fragte sie noch weswegen, aber da rannte die kleine süße Maus auch schon weinend weg. Ist das nicht komisch?«

Froschkönige

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