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6 Ungereimtheiten Tag drei

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Der weiße Fiat Spider kam in einer nicht zu übersehenden Staubwolke vor dem Eingang der Villa zum Stehen. Nachdem sich der Staub verzogen hatte, ging quietschend die Tür der Fahrerseite des schnieken Oldtimers auf. Zwei handgenähte, hellbeige und maßangefertigte Lederschuhe berührten vorsichtig Köln-Marienburger Boden. Der Schöne Leander, seines Zeichens Kommissar der Kölner Kripo, war gelandet.

Der Schöne Leander, auch Pastell-Hansi oder profan und bürgerlich Leander Schicher genannt, entstieg dem einstigen Highlight italienischer Automobilbaukunst. Den Kaschmir-Pullover locker über die Schulter geworfen beschritt er den Weg zum Tatort. Nicht ohne vorher noch einmal einen Blick in den Außenspiegel des Cabrios zu werfen, ob die grau melierte Föhnfrisur und der perfekt getrimmte Magnum-Schnäuzer auch saßen. Sie taten es! Man hätte meinen können, das Grundstück und die Villa gehörten zu ihm wie das widerliche Aftershave, das sich in Sekundenbruchteilen einem ansteckenden Virus gleich ausbreitete. So richtig ernst genommen wurde er, wie die Spitznamen vermuten ließen, weder von seinen Kollegen noch den Verbrechern, die er zu jagen und dingfest zu machen versuchte. Die Streifenbeamten vor Ort wunderten sich nicht schlecht, als sie Schicher erblickten. Ungewöhnlich, dass diese Knallcharge mit einem Fall wie dem hier betraut wurde. Wahrscheinlich ein Versehen oder akute Personalnot – schlimmstenfalls beides! Die Polizeibeamten, welche den Tatort vor Schaulustigen absichern sollten, verzogen genervt das Gesicht. Sie kannten den Mann nur zu gut. Leander Schicher genoss unter seinesgleichen keinen erfreulichen Ruf – und das war noch mehr als schmeichelhaft ausgedrückt. Man hätte auch sagen, dass sie ihn hassten. Um des eigenen Vorteils wegen haute der Arsch immer wieder den ein oder anderen Kollegen in die Pfanne. Das kam mal so gar nicht positiv in den Kölner Dienststellen an. Schicher war ein Choleriker der übelsten Art, dem es an den grundlegendsten Fähigkeiten mangelte, mit Menschen sozial umzugehen. Das war bei ihm nicht etwa pathologisch, nein, der Schöne Leander wollte es so. Und je länger er auf seiner bescheidenen Karrierestufe verharrte, desto schlimmer traf es vor allem die untergebenen Mitarbeiter. Sie litten am meisten unter den Wutausbrüchen und der überschaubaren fachlichen Befähigung. Normalerweise hätte er bereits den Rang eines Kriminalhauptkommissars bekleiden müssen. Erst recht, wenn man bedachte, wie viel Zucker er in den Allerwertesten geblasen bekommen hatte – der Vater war ehemaliger Regierungspräsident mit besten Beziehungen. Aber irgendwie hatte das alles nichts genutzt – die ihm maßgeblich auszeichnende Unfähigkeit vermasselte mit schönster Regelmäßigkeit immer wieder die Karriere. Das ärgerte den alten Schicher maßlos. Er sah seinen Sprössling längst im gehobenen Polizeidienst, und zwar mindestens als Kriminalrat oder angehenden Kriminaldirektor. Das würde jedoch niemals passieren. Dazu war Pastell-Hansi einfach zu blöd.

Obwohl gläubiger Christ, ständiger Kirchgänger und aktiver Kirchenvorständler, war Leander Schicher ein Mann, der über Leichen ging – ein Karrierist der schlimmsten Sorte. Schließlich galt es, den Karrierewünschen des Herrn Papa zu entsprechen. Da die Karriere ins Stocken geraten, wenn nicht sogar festgefahren war, schlugen sich die Bitterkeit und Aussichtslosigkeit des beruflichen Werdegangs auf Leanders Magen. Pastell-Hansi schluckte massenweise Magentabletten und anderen Kram in großzügigen Dosen.

Auf eine lockere und professionelle Außenwirkung bedacht schritt Schicher Richtung Eingang. Sein Credo first of all, never get out of style, übertrieben gepflegte Garderobe sowie eine hochgradige Eitelkeit, was das Aussehen betraf, hatten ihm den Spitznamen der »Schöne Leander« eingebracht. Schicher schaute sich um, ob der allgemeine Fokus der Szenerie auf ihm lag. Das tat er nicht! Mist, niemand nahm Notiz vom Kommissar. Leider gab es keine Schaulustigen, da der Zugang zur Villa Blastonk von der Straße her nicht einzusehen war. Der Polizeikommissar atmete enttäuscht aus und ging rasch zum Eingang des Hauses. Vor dem stand ein Polizeibeamter, der ihn mit Missachtung strafte, zumindest empfand es Pastell-Hansi so. Nicht einmal ein dezentes Kopfnicken, wie es normalerweise unter Kollegen üblich war. Im ersten Moment wollte er den jungen Beamten zusammenstauchen. Nach kurzem Überlegen unterließ er es. Was sollte es. Irgendwie war er heute lustlos. Die Sache hier musste so schnell wie möglich über die Bühne gebracht werden.

Schicher steuerte Richtung Wohnzimmer. Im Türrahmen blieb er stehen. Am Tatort wuselten mindestens sieben Mitarbeiter der Spurensicherung umher und sicherten, was das Zeug hielt. Unvermittelt traf ihn ein Knäuel aus Plastik an der Brust.

»Anziehen!«

Der Werfer mit der entsprechend rauen Imperativ-Stimme gehörte zu Karl Kaltenbrunner, dem Oberspezi der Spusi. Leander wollte sich gerade über den Ton beschweren, als er mitbekam, wer da vor ihm erschien. Kaltenbrunner, den die Kollegen Meister Proper nannten, schaute Schicher herausfordernd an. Wie immer war er auf Krawall gestrickt. Und eines war klar – mit dem Typen legte man sich am besten nicht an. Unterstrichen wurde die Autorität des Spusi-Chefs durch 1,90 Meter Körpergröße und die dazugehörenden 110 Kilogramm Muskeln. Am angsteinflößendsten jedoch war sein Gesicht – eine Mischung aus Falten und Narben. Beides war mittlerweile kaum mehr auseinanderzuhalten. Und aus diesem Mix aus Hässlichkeit und Faszination funkelten zwei hellblaue Augen und bohrten sich direkt in Leanders Hirn.

»Ja, schon gut.« Der Schöne Leander stülpte die Plastiküberzieher über die Schuhe und zog Latexhandschuhe an.

Kaltenbrunner grinste den Kommissar an.

»Ja?«, fragte Schicher leicht gereizt.

»Seit wann trägst du den Schnäuzer? Der sieht ja aus wie Schambehaarung. Ich sag dir aber nicht von welchem Tier!« Die gesamte Mannschaft der Spurensicherung fing an zu grölen.

Kaltenbrunner blickte sich um und nahm seine Sklaven in den Blick. »Hab ich gesagt, dass ihr mit Arbeiten aufhören sollt? Also Beeilung, Leute, die Zeit läuft. Dieser scheiß Bauhaus-Klotz hat ein mieses Karma und ich möchte so schnell wie möglich hier raus.«

Schicher schaute umher. Das Wohnzimmer und die angrenzende offene Küche boten ein Bild des Chaos. Am Boden lagen Unmengen an Glasscherben, Geschirrteile, Pfannen, Töpfe, zertrümmerte Kleinmöbel, aufgeschlitzte Kissen, viele Bücher und unzählige lose Blätter. Markant und absolut nicht zu übersehen war jedoch der gewaltige Blutsee, welcher dem farblichen weißen Einerlei eine abstrakte einmalige Note verlieh. Und über allem waberte der Geruch der menschlichen Vergänglichkeit – eine olfaktorische Mischung aus Blut und Exkrementen. Glücklicherweise hatte die Verwesung keinen Anteil an diesem fürchterlichen Geruchsmix. Pastell-Hansi wurde schlecht. Mist, das fehlte gerade noch. Er musste sich zusammenreißen, wollte er nicht noch mehr zum Gespött der anwesenden Kollegen werden. Also begann er, durch den Mund zu atmen, und schob ein Minzbonbon in den Schlund.

»Tja, das sieht man nicht alle Tage, oder?«, entgegnete Kaltenbrunner ehrlich fasziniert. Schicher winkte ab und gab sich weiter der Szenerie hin. In der Blutlache lagen zwei Menschen auf dem Bauch. Hände und Beine der beiden Opfer waren mit Kabelbindern gefesselt und wiesen eine immense Austrittsöffnung am Hinterkopf auf.

»Darf ich vorstellen: Herr Dr. Blastonk nebst Gattin – die Bewohner dieses schicken Bunkers. Und so tot, wie man nur sein kann.«

»Seit wann?«

»Da musst du unser Fräulein Doktor fragen. Ich bin für die Spurensicherung zuständig.« Sprach es und verschwand.

»Ich schätze, dass die beiden vor ungefähr zwei Tagen ermordet wurden. Eine genauere Todeszeit gibts erst nach der Obduktion. Da die Leichenstarre vorüber ist, müssen die Opfer hier länger als 36 Stunden tot sein.« Die Stimme gehörte zu Frau Dr. Wastel, ihres Zeichens Polizeiärztin. Schicher wandte sich um.

»Dr. Wastel, schön, Sie zu sehen«, süßelte er.

»Lassen Sie’s, geben Sie sich keine Mühe«, entgegnete die Ärztin kühl und ablehnend.

Im Türrahmen stand eine Frau mittleren Alters mit rauchiger Sprachfärbung. Unter dem Kopfüberzieher des weißen Overalls drängten drahtige graue Locken hervor, die sich kaum bändigen ließen. Dr. Bettina Wastel mochte Schicher ebenfalls nicht, wie einhundert Prozent der vor Ort Tätigen. Aber bei ihr war es eine Spur anders. Spezieller und irgendwie sehr viel eisiger, weil persönlicher. Dies lag vor allem in der Tatsache begründet, dass der Schöne Leander den Sohn der Ärztin vor wenigen Monaten hopsgenommen hatte. Der hatte mit ein paar Freunden am Aachener Weiher gesessen und sich die ein oder andere gehörige Portion Cannabis reingepfiffen. Pastell-Hansi, der zufällig am Ort der kriminellen Handlung vorbeijoggte, hatte nichts Besseres zu tun, als sofort seine Kollegen vom Drogendezernat anzurufen. Ihnen teilte er mit, dass man am Standort des Geschehens in großem Stile mit Drogen handelte, was natürlich völliger Blödsinn war. Es kam, wie es kommen musste – das gerichtliche Verfahren wurde eingestellt. Aber trotzdem war es mehr als unangenehm für Dr. Wastel, die ja in Diensten der Polizei tätig war. Und irgendwann, das hatte sich Bettina vorgenommen, würde sie diesem arroganten Schnösel und Nichtskönner so richtig einen reinwürgen. Bis dahin jedoch war »Business As Usual« angesagt.

»Kann ich die beiden mitnehmen?«, fragte Dr. Wastel in Richtung Kaltenbrunner.

»Yepp, wir sind soweit fertig.«

Dr. Wastel winkte ihren Assistenten zu, die damit begannen, die Leichen in die dafür vorgesehenen Plastiksäcke einzutüten.

»Sie melden sich?«, klopfte Schicher bei der Ärztin an. Die ignorierte ihn und schmetterte ein Adieu gegen den Spusi-Chef. Obwohl Schicher sich betont interessiert und beschäftigt umtat, nahm er diese Stichelei natürlich wahr. Und machte es ihm etwas aus? Komischerweise ja. Er musste dringend lernen, über gewissen Dingen zu stehen. Blöde Kuh!

»Was denken Sie?«, fragte Schicher in Richtung Kaltenbrunner.

»Ich? Sie legen Wert auf meine Meinung?«, entgegnete der Mann der Spurensicherung. Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er damit, die offensichtlichen Fakten in Worte zu fassen.

»Also, wir haben es hier mit einigen Ungereimtheiten zu tun. Zuerst einmal: Herr und Frau Blastonk wurden mit jeweils einem Kopf- und einem Herzschuss erledigt – quasi hingerichtet. Allerdings weisen die Herrschaften diverse Schnittverletzungen auf, besonders bei der Toten. Kann sein, dass der Einbrecher, die beiden gefoltert hat, wofür die Schnittwunden aber eher untypisch sind und sich zudem an den falschen Körperstellen befinden.«

»Es war ein Raubüberfall?«, fragte Schicher wenig beeindruckt.

»Hmmm, ich denke nicht. Auf den ersten Blick sprechen die Verwüstungen im Erdgeschoss der Villa und der geöffnete Tresor dafür. Das Obergeschoss ist jedoch unversehrt. Dort fand keinerlei Raubzug statt. Und außerdem ist die Exekution der beiden Opfer für einen Beutezug uncharakteristisch.«

»Haben wir etwas über die Waffe?«

»Kann ich noch nicht viel zu sagen. Nur, dass die Todesopfer Kontaktwunden aufweisen.«

»Die Schusswaffe wurde aufgesetzt?«

Kaltenbrunner nickte zustimmend. »Und es muss sich um eine Knarre mit Schalldämpfer gehandelt haben.«

Schicher runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Keiner der Nachbarn hat einen Schuss oder Ähnliches gehört. Und das, obwohl die Terrassentür geöffnet war.«

»Und warum hat man die Leichen der beiden erst jetzt entdeckt?«

Kaltenbrunner stöhnte dezent, aber unüberhörbar auf. »Mann oh Mann, was würdest du ohne mich machen? Blastonk arbeitete häufig von zu Hause aus, sodass man ihn im Büro kaum vermisste. Und die Olle ging keinerlei beruflichen Tätigkeit nach. Ihre Hauptaufgabe war es, die Kohle des Gatten zu verprassen.«

Pastell-Hansi blickte umher. »Sag mal, wo hat er denn seine Praxis?«

»So ein Doktor war er nicht! Blastonk hat Chemie studiert und werkelte bei einer Hightech-Pharma-Bude in Köln-Deutz«, entgegnete Kaltenbrunner genervt. »Und ehe du fragst. Wie die Firma heißt, musst du selbst herausfinden. Mein Job ist hier erledigt!«

»Wer hat die beiden gefunden?«

»Die Putzfrau.«

»Muss ich mit der sprechen?« Blöde Frage, wie Pastell-Hansi im Nachhinein feststellte. Der Spusi-Mann schüttelte fassungslos den Kopf und packte seine sieben Sachen zusammen.

Schicher fühlte, dass es mit diesem Fall schwierig werden würde. Ein Raubmord, der keiner war, und zwei betuchte Kölner, die ein Profikiller ins Jenseits befördert hatte. Scheiße, das roch nach einer Menge Wespennester und noch mehr Arbeit. Warum konnte es kein klarer Eifersuchtsmord sein – mit eindeutigen Motiven und einer überschaubaren Anzahl an Verdächtigen. Im Moment kam der Mordfall extrem unpassend, da der Kommissar an einer politischen Karriere bastelte. Vater Schicher hatte an ein paar Stellschrauben gedreht, um dem Sprössling karrieremäßig unter die Arme zu greifen. In der Vergangenheit stellte der Alte den Sohn diversen kommunalpolitischen Größen vor, die vom Junior allerdings wenig angetan waren. Der Schöne Leander hatte sich aber auch nicht wirklich ins Zeug gelegt, was Papa erzürnte. Und wieder einmal rieb der Alte dem Abkömmling die berufliche Entwicklung des ungeliebten Bruders unter die Nase. Der hatte sich erfolgreich nach oben gevögelt. Sein schwuler Geschwisterteil war heimlich mit einem Staatssekretär der Landesregierung in Düsseldorf liiert, der ihm in Sachen Werdegang nachhaltig geholfen hatte. Will heißen, dass Stephan Schicher heute als Lobbyist der Autoindustrie in Berlin tätig war und jede Menge Kohle machte. Dem alten Schicher gefiel das, Leander weniger, weil es ihn mächtig unter Druck setzte. Besonders dann, wenn der Alte damit drohte, sein Testament noch einmal zu überdenken. Natürlich war das eine leere Drohung. Aber vielleicht war ja dieser Mordfall das Ticket in den gehobenen Dienst.

»Hey Schicher?!«

»Ja?!«

»Das solltest du dir mal anschauen!«

Kaltenbrunner wedelte mit einem kleinen Büchlein Schicher zu. Der ging vorsichtigen Schrittes zum Spurensicherer und nahm den Gegenstand entgegen. Er blätterte in dem schmalen Heftchen und musste schlagartig grinsen.

»Na da schau her!«

Froschkönige

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