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3 Fake-News Tag zwei

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Der Typ ist langweilig. Laaangweilig! Und zwar so was von lang und weilig. Kaum zu glauben, dass die Schlaftablette jemals ein wie auch immer geartetes weibliches Wesen an Land ziehen konnte«, brummelte Margaux vor sich hin.

Sie blickte mit müden Augen durch die riesige Kopfschmerz-Audrey-Hepburn-Gedächtnissonnenbrille auf das Display des Notebooks, den Kopf auf die Hände gestützt. Gestern Abend hatten es die drei im Kaiserwasser kräftig krachen lassen. Es galt, den neuen Auftrag gebührend zu feiern. Ein Whisky-Sour jagte den anderen und in den Pausen zwischen den Cocktails diente Kölsch dazu, die Kehle feucht zu halten und die Klebrigkeit der Mixgetränke zu eliminieren. Ein Fehler, wie Margaux leidvoll feststellen musste. Von Paul und Hannes war im Froschkönig weit und breit nichts zu sehen. Die lagen mit Sicherheit noch komatös in den Federn. Super! Einzig und allein sie war mal wieder so blöd, pflichtbewusst pünktlich den Laden um neun Uhr aufzusperren.

Ab und an wanderte Margaux’ Blick auf das neben ihr liegende Exposé, das die Blastonk-Ehefrau hinterlassen hatte. Das beschrieb freilich nur den beruflichen Werdegang des vermeintlichen Ehebrechers. Mister Belanglos war 52 Jahre alt und hatte ein Studium der Biochemie in Tübingen erfolgreich absolviert. Im Rahmen der Hochschulausbildung promovierte er direkt, was in Chemiker-Kreisen absolut üblich war. Das sagte zumindest das Internet. Die universitäre Einrichtung entließ den jungen Dr. Streber mit summa cum laude. Respekt!

Insgeheim bewunderte sie diesen Dr. Blastonk um seinen erstklassigen Abschluss. Sie hatte niemals die Möglichkeit zu studieren gehabt, obwohl sie intellektuell mehr als großzügig ausgestattet war. Margaux’ Elternhaus förderte jedoch zu keinem Zeitpunkt die auffällige Intelligenz der einzigen Tochter. Vielmehr legten die Erzeuger Wert auf frühzeitiges Geldverdienen. Also hatte sie eine Lehre zur EDV-Kauffrau begonnen und erfolgreich absolviert. Ein Aufbegehren gegen das Zuhause erfolgte erst, als sie finanziell auf eigenen Füßen stand. Der Hang zur Gothic-Szene war ein Ausdruck dafür. Sie wollte die spießigen und kurzsichtigen »Erziehungsberechtigten« im Nachhinein schocken und bestrafen.

Aber vielleicht hatte die Vita ja auch etwas Gutes. Wer weiß, was ein Hochschulabschluss aus ihr gemacht hätte. Schwamm drüber! Mittlerweile war Margaux in Sachen Recherche, Computer und Internet ein wahrer Crack, ein Nerd. Eine wissenschaftliche Karriere hatte sie abgehakt. Zu spät! Jetzt hing sie bei den Froschkönigen ab und versuchte, den Alltag zu meistern. Okay, sie sah ein, dass sie auf sehr hohem Niveau jammerte. Ihr ging es gut, sie hatte Freunde. Und mit Paul und Hannes zu arbeiten, war auch nicht das Schlechteste. Sie mochte diese beiden Chaoten. Reichtum würde sie mit dem Job kaum einfahren, aber wer brauchte Geld, wenn man das Leben liebte?!

»Hi Hase! Alles in Ordnung? Gestern einen schweren Abend gehabt?« Albert stand im Büro. Margaux war dermaßen in Gedanken versunken, dass sie den Metzger nicht bemerkt hatte. Sie winkte ihm zu.

»Na klar. Ich war mit den Jungs noch auf einen Feierabend-Drink«, entgegnete sie.

»Oh ha! Verstehe.« In Margaux’ Nähe war Albert immer ein wenig gehemmt. Er mochte die Frau. Warum wusste er nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie eine gewisse Unnahbarkeit, Kühle und für ihr Alter ungewöhnliche Ernsthaftigkeit ausstrahlte. Er fand die meist zugeknöpfte Margaux faszinierend und streckenweise geheimnisvoll. Aber da ging vermutlich seine Fantasie mit ihm durch. Gern hätte er sie intimer kennengelernt. Sie jedoch auf ein Date anzusprechen, war unvorstellbar!

»Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich den Laden schließe. Muss auf ein Reitturnier.«

Sie blickte auf. »Hey cool. Und die Erfolgsaussichten auf ’nen Pokal?«

Albert winkte ab.

»Machs gut, Süße, und lass dich von den beiden nicht zu sehr einspannen.«

Margaux warf ihm ein Küsschen zu und vertiefte sich erneut in die Schriftstücke zu Dr. Blastonk. Sie las die Informationen über das Studium der Biochemie genauer auf der Website der Universität in Tübingen nach. Die Dokumente der Auftraggeberin gaben da kaum etwas her. Der Onlineauftritt der Fakultät besagte, dass die Hochschulausbildung die Hauptthemengebiete Medizin, Chemie und Biologie abdeckte. Aus den wenigen Unterlagen ging hervor, dass sich Dr. Blastonk auf die Neurochemie und Enzymologie spezialisiert hatte. Okay, das war nicht unbedingt spannend und der Burner. Nachdem er den Hochschulabschluss in der Tasche hatte, tingelte er erst einmal durch die Welt – hauptsächlich Indien, USA und Brasilien. Das Geld der Eltern machte es möglich. Das Elternhaus hatte Kohle ohne Ende. Der Vater führte ein mittelständisches Unternehmen mit Hunderten Angestellten, das als Zulieferer für die Automobilindustrie erfolgreich unterwegs war. Dann kamen die Neunziger und der Laden ging den Bach herunter. Insolvenz und Pleite! Zudem zockte der Senior an der Börse – mit wenig Erfolg. Er verbrannte einen Großteil des Vermögens mit dubiosen Optionsschein-Geschäften. Trotzdem war immer noch genügend Geld da, um ein komfortables Leben jenseits von existenziellen Sorgen zu führen.

Nach einigen Jobs in Deutschland und Überseefirmen trat Blastonk eine Stelle in Köln bei einem Pharma-Unternehmen an. Da machte er innerhalb zweier Jahre Karriere. Er kletterte das Leiterchen stetig himmelwärts. Die Geschäftsführung ernannte den intelligenten jungen Mann zum Leiter der Forschungsabteilung. Was er da genau erforschte, vermochte selbst das Internet nicht zu berichten. Wahrscheinlich das Pillendreher-Übliche – neue Pülverchen gegen Kopfschmerzen und Impotenz entwickeln und die dicke Kohle einfahren, dachte Margaux ein wenig sozialneidisch. Sie musste den Laden so schnell wie möglich durchleuchten. Kein Problem dank Web. Schließlich galt es auch hier, den untreuen Ehegatten in Verruf zu bringen.

Das Unternehmen mit Sitz vor den Toren Kölns und in Luxemburg hieß »BioSeq« und war ein eher kleinerer Player am hart umkämpften Biotech-Markt. Gleichwohl spielte man bei den Großen mit – und das mit beachtlichem Erfolg. Laut Wirtschaftsbericht aus dem Netz erwirtschaftete die Firma letztes Jahr einen Umsatz von stattlichen 280 Millionen Euro und das bei rund 100 Millionen Euro Gewinn. Nicht schlecht! Hauptsächlich beschäftigte sich BioSeq mit der Suche nach sogenannten Susceptibility-Genen. Die sollten wohl so etwas wie der Heilige Gral der Genforschung sein. Viele Gene im menschlichen Genom waren für die häufigsten Krankheiten verantwortlich. Für die meisten dieser Gebrechen jedoch gab es bis heute entweder gar keine oder nur sehr begrenzte Therapiemöglichkeiten. Und da kamen die ominösen Susceptibility-Gene ins Spiel. Eine Therapie der seltenen und kaum behandelbaren Genleiden schien laut BioSeq bald möglich. Die Ergebnisse der Genforschung flossen in eine gemeinsame EU-Datenbank ein. Hier ging es um Hightech-Wissenschaft im Bereich der Bio-Informatik und des Drug-Designs – so viel verstand Margaux. Und das sollte auch erst einmal reichen. Ihr begann langsam der Kopf zu schmerzen. Eines stand fest: Dr. Blastonk war in einem der führenden Unternehmen dieser Disziplin eine maßgebliche Person.

Die Türglocke läutete und zwei reichlich beschädigte männliche Wesen schlurften ins Büro. Hannes und Paul sahen erbärmlich aus. Wert auf ein frisches Aussehen hatten sie nicht gelegt, auch geruchsmäßig wiesen die Kollegen Defizite auf. Margaux rümpfte die Nase. Wie lange die beiden es in der Cocktailbar hatten krachen lassen, konnte sie nur erahnen. Sie beendete das Besäufnis gegen drei Uhr nachts, als Margaux speiübel aus dem Laden stürzte. Sie schaffte es gerade noch in ihr wenige Meter weit entferntes Appartement bzw. an den davorstehenden Baum. Wie sie es in die Wohnung geschafft hatte? Fehlanzeige! Filmriss! Heute Morgen war sie mit einem mächtigen Kater wach geworden. Ausgezogen hatte sie sich gestern Abend nicht mehr. Sie stank nach Alkohol und Nikotin. Aha, das volle Programm also. Na prima. Die Dusche wirkte Wunder. Nach einer gefühlten Stunde des Brausens war die Welt wieder zu zwei Dritteln hergestellt. Allein ein penetranter Kopfschmerz erinnerte an das gestrige Vergehen.

Paul und Hannes schlichen ins Büro. Befriedigt stellte Margaux fest, dass es ihren Mitstreitern noch sehr viel schlechter ging als ihr. Gut so!

»Guten Morgen, auch schon da?«, schmetterte sie ihnen mit letzter Kraft und immenser Lautstärke entgegen. »Kaffee?«

Hannes winkte ab und Paul schüttelte vehement den Kopf.

»Hör auf, wenn ich noch mehr Espresso saufe, mutiert meine Blutgruppe bald zu Arabica«, stöhnte Hannes, während er eine doppelte Dosis Aspirin-Pülverchen ohne Flüssigkeit in den Rachen kippte. »Oh Mann, ich trinke nie wieder Alkohol.«

»Ja sicherlich, träum weiter. Ich erinnere dich heute Abend an dein Statement«, entgegnete Margaux genervt. »So Freunde, verlassen wir mal die Gefilde des niederen Restalkohol-Daseins und widmen uns Herrn Dr. Blastonk. Also, wie starten wir?« Beide blickten müde ihre Freundin an, die ihre Frage selbst beantwortete.

»Im Gegensatz zu euch bin ich seit zwei Stunden auf den Beinen und war fleißig. Ich lege gerade ein Facebook-Fakeprofil für den untreuen Ehemann an. Das sollte als Kampagnen-Ausgangspunkt erst einmal ausreichen. Glücklicherweise ist der Herr Doktor auf Facebook noch nicht aktiv. Das Hacken eines bestehenden Profils ist demnach überflüssig, das spart eine Menge Zeit. Und das Glück bleibt uns hold, meine Freunde – auf der Website des Arbeitgebers gibt es eine Seite mit maßgeblichen Mitarbeitern, darunter sind beispielsweise die Abteilungsleiter und nicht zu vergessen die Chefetage. Ich habe die Namen und E-Mail-Adressen der aufgelisteten Personen durch den Rechner gejagt und tatsächlich sind viele davon im sozialen Netzwerk vertreten. Passt also! Die lade ich ein, die neue Facebook-Seite Blastonks zu besuchen. Und wie ich diese Langweiler einschätze, werden die sich darauf stürzen wie die Schmeißfliegen auf ’nen dicken Haufen … ihr wisst schon was.«

Hannes nickte anerkennend. Er fragte sich, wie es Margaux möglich war, nach dem gestrigen Besäufnis wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte einfach Klasse und war zäher, als es den ersten Eindruck machte.

»Klingt gut«, lobte er die Freundin. »Und welches Material schütten wir in das Facebook-Profil?«

»Ich würde sagen mit dem üblichen Schmuddelkram – sexuelle Vorlieben und Hasskommentare den ein oder anderen Kommunalpolitiker betreffend sowie gegen Schwule und Lesben. Nicht zu vergessen, eine anständige rechte Gesinnung. Und ich finde, Haustiere sollte der Stinkstiefel auch nicht mögen. Zudem bedienen wir diverse zwielichtige Gruppen, um ihn dort als aktiven Teilnehmer zu etablieren. In den nächsten Tagen verfasse ich in Blastonks Namen knackige Beiträge, die garantiert diskussionswürdig sein werden.«

Dabei grinste Margaux. Es machte ihr einen Mörderspaß. Als sie seinerzeit damit anfingen, das Geschäftsmodell in die Tat umzusetzen, hatten die junge Frau noch Gewissensbisse geplagt. Sie trieben höchst unmoralische Dinge, die natürlich mehr oder minder strafbar waren. Über den Froschkönigen schwebte konstant das Damoklesschwert der Verleumdung. Darum galt es, keine digitalen Spuren in den sozialen Kanälen des Webs zu hinterlassen. Im Laufe der letzten Monate redete sie sich allerdings zunehmend ein, dass es ja kaum die Falschen traf. Alle Opfer, die sie mit der Agentur in Misskredit brachten, verdienten es.

»Und was tun wir in der richtigen Welt?«, fragte Paul. Er hasste diesen ganzen Social-Media-Kram und verstand es am Rande nicht, warum Millionen Menschen es faszinierend fanden, im Internet die Hosen runterzulassen. Schwachsinn!

Hannes nickte langsam. »Ich würde sagen, fürs Erste bestellen wir in Blastonks Namen diverse Sextoys. Und zwar bei den unterschiedlichsten Anbietern – Lieferadresse Köln-Marienburg. Post- und Paketboten sind die reinsten Tratsch- und Klatsch-Multiplikatoren! Ach ja, und lass uns Herrn Doktor das ein oder andere Sex- und Fetisch-Magazin im Abo gönnen – inklusive der Lieferung an den Arbeitsplatz. Das wird nicht nur den Postboten auf Hochtouren bringen. Das sorgt mit Sicherheit freudiges Interesse bei den Damen vom Empfang.«

»An welche Postillen denkst du?«, fragte Paul.

Hannes kratzte das unrasierte Kinn. »Ich geb dir ’ne Liste!«

Margaux schaute interessiert auf. »Nee, ist klar. Warum wundert es mich nicht, dass du dich in diesem Bereich auskennst.«

»Rein beruflich, Liebelein. Ich tue alles für die Firma.« Margaux und Paul mussten laut prustend loslachen.

»Wenn ich die Damen und Herren mal zur Ordnung rufen dürfte«, äußerte Paul. »Welche Einzelhandelsinfrastruktur gibt es in der Nähe der Blastonk-Villa?«

Margaux klinkte sich wieder ein. »Das Übliche – Bäcker, Metzger, Supermarkt und diverse Boutiquen. Sämtlichst ganz hervorragend geeignet, unseren Aktionen Nachdruck zu verleihen. Sie sind allesamt inhabergeführt, nicht allzu groß und höchstwahrscheinlich von der betuchten Nachbarschaft gern frequentiert.«

Paul nickte. »Ein Fall für Palmira?«

»Ein Fall für Palmira!«, entgegneten Margaux und Hannes wie aus der Pistole geschossen. »Bestimmt braucht sie auch ein paar Scheine! Und sie ist die perfekte Waffe, um Aufmerksamkeit zu generieren«, freute sich Hannes.

»Okay, ich werde gleich herübergehen und ihr einen Besuch abstatten. Wie ich sie kenne, wird die Werteste mit Freude einwilligen«, sagte Paul zu den Kollegen.

»Eine Frage: Wollen wir der Einfachheit halber unseren Fake-News-Kontakt im Darknet anfragen? Der Scheck ist doch ziemlich … imposant in seiner Dimension«, fragte Margaux Richtung Paul. Im Darknet gab es nichts, was es nicht gab – eben auch Dienstleister für Fake-News-Kampagnen. Hier konnte man ganze Propaganda-Feldzüge gegen Bezahlung kaufen.

»Bist du irre, ich blase die Kohle nicht sofort wieder heraus. Wir müssen endlich lernen, Rücklagen zu bilden und ein paar Scheine auf die hohe Kante zu legen!«

Hannes blickte erstaunt auf. »Was ist denn mit dir los? Du haust doch sonst das Geld hemmungslos und ratzfatz auf den Kopf. Zu viel Wirtschaftswoche gelesen?«

»Haha, sehr lustig.« Paul verzog den Mund. »Ich habe euch bei Vera zum Mittagessen avisiert. Die hat die ein oder andere Information in Sachen Dr. Blastonk auf Lager. Fahrt bitte heute Mittag zu Tantchen und macht fleißig Notizen.« Hannes stöhnte, er hatte keine Lust, bei Tante zu speisen. Er mochte sie zwar, jedoch ging sie ihm auch verdammt schnell auf die Nerven. Margaux hingegen war mehr als entzückt und freute sich darauf. Vera Zakowski war stets liebevoll zu ihr und interessiert am Wohlbefinden der »jungen Dame«, wie sie von ihr immer gern genannt wurde.

Paul klatschte in die Hände. »Okay, dann haben wir ja erst einmal genug zu tun. Ich begebe mich Richtung Palmira.«

Er entleerte ein weiteres Tütchen Aspirin in den Rachen und steuerte Palmiras Lädchen an. Mit dem Kreislauf war es nicht zum Besten bestellt. Kaum an der Straße angekommen, machte er Pause auf einem runden Betonblock am Straßenrand, der verhindern sollte, dass Autos in der ohnehin engen Körnerstraße irregulär parkten. Leicht zitterig griff er in seine Hosentasche und angelte eine Zigarette aus einer Schachtel heraus.

Wie er so da hockte und konzentriert die Spur des Rauches verfolgte, verfinsterte sich plötzlich der Himmel. Er stutzte. Wolken? Unmöglich!

»Hallöchen Süßer.« Die Wolken sprachen zu ihm und manifestierten sich schließlich in Person Palmiras. Er musste lächeln.

»Palmira, mein Engelchen, was für ein Zufall, ich wollte dir gerade ein Besuch abstatten«, flötete Paul zurück. Engelchen klang zwar niedlich, passte jedoch zu Palmira so gar nicht. Die extrovertierte Erscheinung hieß mit bürgerlichem Namen Horst Panzke und war im früheren heterosexuellen Leben Werksschlosser bei Ford gewesen. Horsts Werdegang änderte sich im Alter von 63 Jahren mit einem Schlag, als er mehrere Millionen Euro im Lotto gewann. Wie hoch die Summe genau war, wusste niemand, spielte aber auch keine Rolle. Es war ein Riesenhaufen Geld. Im Vertrauen verriet sie Paul einmal, dass diverse Organisationen – von Tierschutz bis AIDS-Hilfe – von dem Geldsegen profitiert hatten. Paul vermutete, dass trotz der Großzügigkeit Palmiras noch immer ein stattlicher Batzen übrig war, der bis zu ihrem Lebensende reichen sollte. Dank des Zasters hatte Palmira seinerzeit befreit aufgeatmet, den gehassten Job gekündigt und die verschüttete weibliche Seite seiner Persönlichkeit ausgebuddelt. Seit mehreren Jahren nahm Palmira – formerly known as Horst – Hormone. Die halfen wenig. Von verführerischer Fraulichkeit konnte bei ihr nicht im Ansatz die Rede sein – Körperbehaarung und Stimme spielten da irgendwie nicht mit. Was an natürlicher Feminität fehlte, kompensierte sie mit greller Schminke, einer platinblonden Perücke im Pagenfrisur-Schnitt, gestylten Fingernägeln und wallenden Gewändern, die Palmiras Körperfülle kaschierten. Das gelang mal mehr, mal weniger. Kurzum – die Werteste war eine Erscheinung, eine Nummer für sich und ein extrem gütiger und netter Mensch, der nur in dem schrägen Mikrokosmos Köln-Ehrenfelds existieren konnte.

»Also mein kleiner Hase, was brennt auf der Seele? Ich habe übrigens gestern eine neue Lieferung Heilsteine bekommen, von denen ein paar die sexuelle Attraktivität beim bevorzugten Geschlecht steigern sollen. Na, wie wär’s?« Palmira grinste Paul an.

»Geschenkt! Wir brauchen deine Hilfe. Du müsstest Köln-Marienburg aufmischen und für Aufsehen sorgen. Interesse?«

Die Erscheinung klatschte entzückt in die Hände und freute sich wie ein blutjunges Ding, das zum ersten Mal allein auf die Piste durfte.

»Kannst du das heute Nachmittag erledigen? Die Adresse des Bäckers schicke ich dir aufs Smartphone.«

»Hmmm, heute Nachmittag? Ist eher schlecht. Da habe ich einen Termin bei der König-Artus-Loge. Du weißt schon, ich bin doch beim Deutschen Druiden-Orden Ehrenmitglied. Und heute findet eine außerordentliche Sitzung statt. Ist eigentlich stinklangweilig, aber ich drücke denen bei der Gelegenheit immer gern ein paar Steinchen mit besonderen Qualitäten aufs Auge.«

»Ach komm, es ist wichtig!«

Palmira tat ein wenig genervt und entließ ein Stöhnen, das mindestens zwei Oktaven zu tief ausfiel. Ein Ausrutscher der Weiblichkeit! So viel zum Thema Hormonbehandlung. Paul wusste, dass Madame mit Freude gebeten wurde, und gab ihr einen Augenblick der obligatorischen Bedenkzeit. Begleitet wurde die Schweigeminute von einem flehenden Gesichtsausdruck.

»Ja, schon gut. Ich mach’s ja.« Paul umarmte sie und setzte einen dicken Schmatzer auf die frisch rasierte Wange. Palmira war wie immer entzückt und blickte ihn leicht verliebt an.

»Und?« Sie hielt die Hand auf. Aha, jetzt ging’s um das Geschäft.

»Äh ja. Dein Honorar bekommst du am Montag. Der Scheck unserer Auftraggeberin muss noch gutgeschrieben werden. Sollte aber nach dem Wochenende erledigt sein. Gilt der übliche Stundensatz?«

»Natürlich«, entgegnete Palmira mit einem Augenzwinkern und verschwand, um sich für den gebuchten Auftritt zu präparieren. Paul schüttelte den Kopf. Er verstand nicht wirklich, warum sie Geld dafür verlangte. Ihr kleiner Laden mit Devotionalien für Schamanismus und Natursteinheilkunde lief recht gut – von den gewonnenen Lotto-Millionen mal ganz zu schweigen. Er vermutete, dass ein Stundenhonorar – das kaum der Rede wert war – die Ernsthaftigkeit ihrer künstlerischen Darbietung unterstrich.

Paul blieb noch einen Augenblick sitzen, zündete eine weitere Zigarette an und ließ den Blick schweifen – wie sooft in letzter Zeit. Er war ein Ureinwohner, hier geboren, aufgewachsen und hatte alles erlebt, was man als Kind, Jugendlicher und Erwachsener erleben konnte. Die geliebte Körnerstraße und das einstige Arbeiterviertel Köln-Ehrenfeld hatten sich in den vergangenen Jahren schleichend verändert. Die Hippster und Young Urban Professionells verwandelten seinen Mikrokosmos. Die hippen Typen und gut verdienenden grünen Spießer mit der richtigen Gesinnung nahmen zunehmend die Straße und das Viertel in Besitz und eröffneten Design-Lädchen, Cafés, Klubs und schicke Fahrradläden. Die ursprünglichen Geschäfte, wie Metzger, Bäcker oder der kleine Supermarkt des Türken verschwanden sang- und klanglos. Stattdessen präsentierte man sich mit gepflegtem Hipsterbart, inklusive zum Dutt gebundenen Zopf, in Cafés und Szene-Läden, diskutierte über das neueste Fahrrad, iPhone, das angesagteste lokal gebraute Draft-Bier oder was auch immer. Natürlich 100-prozentig ökologisch hergestellt! Und beruflich machte man selbstredend irgendetwas mit Medien.

Paul fühlte sich, obwohl er ja nicht alt im physischen Sinne war, wie ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit – ein Antikörper in einem in der Entstehung begriffenen Organismus, der ihn bald abstoßen würde. Dinge veränderten sich! Vielleicht musste er lernen, mit dieser Tatsache umzugehen. Er schnippte die Kippe in den Gully und blickte zum Himmel – das strahlende Blau blendete; es war kein Wölkchen zu sehen. Eigentlich hätte sich Paul über den Auftrag freuen müssen, was er am gestrigen Tag auch ausgiebig getan hatte. Je mehr Zeit jedoch verging, desto intensiver bemächtigte sich seiner ein undefinierbares Gefühl. Irgendetwas lag in der Luft, und zwar nichts Gutes.

Froschkönige

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