Читать книгу Die milchblütige Heldin Üllü Wa - Ingrid Dobbertin - Страница 13

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Geschnappt und getragen

Üllüs neues Leben begann als Katastrophe. Üllü konnte nichts sehen, sich nicht bewegen, kaum atmen und verlor immer wieder für eine Zeit lang das Bewusstsein. Zunächst wachte sie danach bald wieder auf, doch die Zeiten, in denen sie nichts von sich wusste, wiederholten sich in immer kürzeren Abständen und wurden immer länger. Nach dem Aufwachen war dann jedes Mal alles noch schlimmer als zuvor.

Irgendwann endete dieser schreckliche Zustand damit, dass ein gewaltiger Schlag sie von hinten traf, und anschließend etwas Warmes ihren gefesselten Körper noch mehr zusammendrückte. Danach hatte Üllü das Gefühl, sich sehr schnell vorwärts zu bewegen, ohne selbst etwas dazu beizutragen.

Nach einer Weile war das vorbei, doch dann bekam sie einen weiteren, sanfteren Schlag von vorn gegen den Kopf, und trotz ihrer verschlossenen Augen hatte sie den Eindruck, dass es für einen Moment etwas heller wurde. Dabei ließ der Druck um sie herum nach und es wurde kühler. Gleichzeitig nahm die Atemnot ein wenig ab.

Nach diesem kurzen Augenblick der Erleichterung war alles wieder wie zuvor: eng, warm und rabenschwarz. Das Ganze wiederholte sich einige Male, doch bald bemerkte Üllü das nicht mehr, denn nun verlor sie das Bewusstsein für lange Zeit, und fiel danach, ohne zuvor noch einmal aufzuwachen, in einen langen, tiefen Schlaf.

Das Wiedererwachen aus diesem Schlaf erfolgte stufenweise, so, wie wenn man beim Klettern immer wieder ein Stück weit abrutscht, bei jedem neuen Versuch dann aber etwas höher kommt, bis man es schließlich ganz nach oben schafft. Als Üllü so weit war und dauerhaft wach blieb, war es um sie herum nicht nur dunkel, eng und warm, es juckte sie auch überall.

Zunächst konnte sie sich an gar nichts erinnern, kaum dass sie wusste, wer sie selbst war. Dann traf ein plötzlicher Druck ihren Kopf von vorn, etwas Kaltes schwappte über ihr Gesicht und für einen kurzen Moment wurde es heller. Diese Zustände wiederholten sich und kamen ihr bekannt vor.

Das half ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, und ganz langsam kehrte die Erinnerung zurück. Als Erstes erinnerte sich Üllü daran, wie sie in einem schwarzen Meer am Ersticken war, und dann, wie sie von hinten gestoßen und anschließend, ohne selbst etwas dazu beizutragen, rasend schnell nach vorn getragen worden war. Nach einiger Zeit dehnte sich ihre Erinnerung dann weiter nach rückwärts aus, und es fiel ihr wieder ein, wie sie mit ihrer Familie zur Korallenstadt unterwegs gewesen war. Schließlich erinnerte sie sich auch wieder an Wassererde und alles, was dazu gehörte, doch alle diese Erinnerungen waren schwach und farblos, wie von einem dichten Schleier verhüllt.

Üllü hatte jetzt keine Atemnot mehr und konnte auch ihre Augen wieder öffnen, allerdings nur, um in Finsternis zu blicken. Das war eine Verbesserung ihrer Lage, doch der Juckreiz wurde so schlimm, dass sie bald an gar nichts anderes mehr denken konnte. Sie musste sich kratzen. Dazu versuchte sie, die feste Wand, die sie einzwängte, ein wenig wegzudrücken, um Spielraum für ihre Finger zu bekommen. Schließlich konnte sie ihre Hand ein Stück weit an ihrem Körper entlang schieben und dabei spürte sie – dass sie nichts spürte. Ihre Finger schienen gefühllos zu sein. Trotzdem, dort, wo ihre Fingerkuppen sein mussten, ließ der Juckreiz etwas nach.

Üllü wollte mit dem Kratzen weitermachen, doch sie kam nicht dazu. Ein kurzer leiser Schrei ließ sie aufhorchen. Es hörte sich an, als ob sich jemand wehgetan hätte. Üllü zog ihre Hand etwas zurück, und wieder hörte sie ein leises Geräusch im Inneren ihrer dunklen Höhle. Es musste von dort kommen, wo ihre Finger sich befanden.

Zuerst verstand Üllü nicht, was sie hörte. Doch mit der Zeit gewöhnte sich ihr Ohr an das, was wie ein Klagelaut begonnen hatte und sich nun wie ein leises Rasseln anhörte. Schließlich meinte Üllü, etwas wie „zerdrücken, wehtun, undankbar, grob“ zu hören. Die Wesen, die diese Laute von sich gaben, schienen zu schimpfen und das ohne Unterbrechung. Sie sprachen merkwürdig, wie im Chor, alle gleichzeitig, nur mit etwas unterschiedlich hohen Stimmen.

„Meint ihr mich?“, fragte Üllü ins Dunkel hinein. Die Antwort kam prompt:

„Wir putzen dich, lecken das Öl von dir ab und du zerdrückst uns.“

Üllü war überrascht.

„Ich wusste ja gar nicht, dass ihr da seid. Es juckt mich nur. Habt ihr gesagt, ihr putzt mich? “

„Du warst voller Öl“, rasselte es aus der Dunkelheit neben ihr.

„Öl, was ist das?“ Üllü hatte das Wort noch nie gehört, doch dann kam ihr ein Verdacht.

„Hat es schwarze Farbe?“, fragte sie.

„Ja, hat es. Alle kennen es und alle außer uns fürchten sich davor. Wie kann man nur so dumm sein und nicht wissen, was Öl ist?“, rasselte es zurück.

„Wo ich herkomme, gibt es kein Öl, deshalb kenne ich es auch nicht“, gab Üllü trotzig zurück.

Die Wesen, die mit ihr schimpften, sie für dumm hielten, empfindlich zu sein schienen und im Chor sprachen, mussten sehr klein sein, und es mussten viele sein. Vielleicht waren sie schuld daran, dass es sie so juckte. Doch sie hatten auch gesagt, dass sie das Öl von ihr leckten. Wenn sie wirklich alles Öl von ihr ablecken würden, könnte sie vielleicht wieder schwimmen und sich selbstständig fortbewegen. Üllü schöpfte ein wenig Hoffnung. Vielleicht konnte sie von den Kleinen noch mehr erfahren.

„Es tut mir leid, wenn ich euch gedrückt habe. Ich wusste gar nicht, dass ihr da seid. Man kann hier ja nichts sehen, und seltsamerweise spüre ich auch nichts. Habt ihr mich wirklich geputzt?“

„Ja, haben wir.“

„Wer seid ihr denn?“

„Rate mal!“

Üllü hatte keine Ahnung, mit welcher Art Lebewesen sie es zu tun hatte, und im Bereich der Winzlinge kannte sie sich auch nicht aus. So ließ sie ihrem Erfindungsgeist freien Lauf und schlug Namen vor wie Nuschelmuscheln, Juckjocker, Wisperwanzen, Schalenschellen, doch jedem dieser Vorschläge folgte wütender Protest, und schließlich verloren die Kleinen die Geduld. Nicht ohne Stolz erklärten sie, Kinder der Meerohren zu sein, Putzer genannt.

Von Meerohren hatte Üllü noch nie etwas gehört.

„Wie sehen Meerohren aus?“

„Sie haben einen Kopf, einen Rüssel, einen großen Bauch und ein hartes gedrehtes Haus, das in allen Farben schillert. Wir freuen uns schon jetzt auf dieses Haus. Bis jetzt haben wir nur die Bausteine dafür. Deshalb sind wir auch so empfindlich.“

Üllü dachte sich, die Winzlinge könnten vielleicht wissen, wo sie war.

„Wo bin ich eigentlich?“, fragte sie.

Bisher hatte sie unwillkürlich im Flüsterton gesprochen, wohl weil ihre seltsamen Begleiter auch so leise sprachen. Bei ihrer letzten Frage hatte sie nicht geflüstert, sondern normal laut gesprochen.

„Schrei nicht so, das tut uns weh. Es könnte uns zum Platzen bringen. Wir hören nämlich sehr gut, schließlich gehören wir zu den Ohren“, rasselte der Chor.

Üllü wiederholte ihre Frage so leise, dass sie kaum zu hören war, und schickte eine Entschuldigung voraus.

„Du bist im Rachen unseres Wals“, war die prompte Antwort.

„Ich bin im Rachen eines Wals?“

„Wenn du das nicht weißt, hat er dich geschnappt“, erklärten die Putzer, und nach einer längeren Pause, in der sie offenbar nachgedacht hatten:

„Merkwürdig, bisher hat unser Wal alle heruntergeschluckt, die er geschnappt hat.“

„Wieso ist das euer Wal?“

„Er hat uns eingeladen und uns sein Maul als Wohnung angeboten, deshalb ist er unser Wal. Wir haben sein Maul vom Öl befreit, und plötzlich bist du gekommen. Wir haben gedacht, dass er dich fressen will. Das hat uns gewundert, weil du das Öl an dir gehabt hast. Er mag kein Öl. Als er dich dann nicht geschluckt hat, dachten wir, dass du vielleicht hier hereingekommen bist, um dich zu verstecken. Es könnte natürlich auch sein, dass er mit dem Runterschlucken warten will, bis du ganz sauber bist.“

„Ich habe mich nicht hier herein geflüchtet, und, überhaupt, wie lange bin ich denn schon hier?“

„Oh, schon ziemlich lange. Wir sind ja klein und können nur wenig Öl verputzen, und doch ist von dem vielen Öl, das an dir geklebt hat, schon alles weg.“

Üllü wurde hellhörig. Offenbar war sie von dem, was die Putzer Öl nannten, befreit. Und dann: Ein Wal hatte sie geschnappt. Jetzt, da sie das wusste, glaubte sie, sich auch an den Moment erinnern zu können, als das passiert war. Es war, als sie den heftigen Schlag von hinten bekommen und danach das Gefühl gehabt hatte, schnell vorwärts getragen zu werden. Damals war sie am Ersticken. Hätte der Wal sie nicht geschnappt, würde sie jetzt vielleicht gar nicht mehr leben.

Dass der Wal sie nur deshalb nicht verschluckt hatte, weil sie Öl an sich hatte, wie es die Putzer vermuteten, konnte sie nicht glauben. Wale waren Freunde der Nixen und wenn sie das nicht waren, so ließen sie die Nixen doch in Frieden. So angestrengt Üllü auch nachdachte, sie kam nicht auf den Grund, warum der Wal sie in seinem Rachen haben wollte. Doch warum hatten die Putzer sie geputzt, sie und den Wal?

„Warum habt ihr mich geputzt?“, fragte sie.

„Wir müssen uns ja ernähren“, klingelte es im Chor.

„Was hat Ernähren mit Putzen zu tun?“, dachte Üllü laut, und schon hatte es der Chor gehört.

„Öl macht uns satt, deshalb verspeisen wir es, wenn wir es finden.“

Üllü konnte nicht verstehen, wie man sich von so etwas Widerlichem ernähren konnte, und sie fragte die Putzer, ob sie sich wirklich ausschließlich von Öl ernährten.

„Jetzt schon, jetzt ist es unsere Leibspeise, doch wenn wir erwachsen sind, ernähren wir uns nicht mehr von Öl. Als erwachsene Meerohren ernähren wir uns vom weichen Äußeren der Tiere.“

Üllü kam ein schrecklicher Gedanke.

„Wann werdet ihr erwachsen?“

„Wenn es nach etwas riecht, was uns als Meerohren ernähren kann“, erklärte der Chor.

Üllü brauchte nur einen Moment, um sich auszumalen, was demnächst passieren würde, wenn kein Öl mehr an ihr war. Die Putzer würden ihren Nixenkörper riechen und den Wunsch verspüren, so schnell wie möglich erwachsen zu werden. Dann … Sie konnte nicht weiter denken. Angstschweiß trat ihr auf die Stirn und sie fühlte, wie sie zu frieren begann.

„Du musst der Angst ins Auge blicken, dann verschwindet sie, denn sie ist feige“, das hatte Sabo gesagt. Doch Üllü konnte dem, was sie erwartete, nicht ins Auge blicken, es war einfach zu schrecklich. Und dann, als Üllüs Angst so groß war, dass sie gar nicht mehr größer werden konnte, wurde ihr klar, was geschehen musste. Sie musste raus aus dem Rachen des Wals, so schnell wie möglich, bevor die Putzer zu Meerohren wurden und sich über ihre Haut hermachen konnten.

Üllü fühlte ungeahnte Kräfte in sich wachsen. Mit dem Mut der Verzweiflung stieß sie ihre Ellbogen mit aller Gewalt gegen das, was sie zusammendrückte, und dann, als sie sich Platz geschaffen hatte, zwickte sie den Wal so stark sie konnte von innen in seine Wange. Augenblicklich tat das seine Wirkung. Der Wal spuckte Üllü aus. Er spuckte so kräftig, dass sie in einem hohen Bogen erst durchs Wasser und dann durch die Luft flog. Dort drehte sie sich um und sah hinter sich einen riesengroßen Wal in die Tiefe abtauchen. Sie hörte gerade noch sein mattes Pfeifen, dann pflatschte sie ins Wasser zurück.


Die milchblütige Heldin Üllü Wa

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