Читать книгу Die milchblütige Heldin Üllü Wa - Ingrid Dobbertin - Страница 8

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Wie Üllü und Sabo Freunde wurden

Für Üllü war alles schön damals in Wassererde, das Schönste aber war für sie die Freundschaft mit Sabo. Niemanden in ihrer Familie liebte sie so wie Sabo, und ohne die Freundschaft zu ihm hätte sie sich ihr Leben gar nicht vorstellen können. Das war sehr ungewöhnlich, denn zum einen kamen so enge Freundschaften bei den Wa sonst gar nicht vor, zum anderen war Üllü fast noch ein Kind und Sabo uralt.

So alt war er, dass die meisten der Nixen dachten, er sei schon immer auf der Welt gewesen. Das stimmte zwar nicht, doch wenn man Sabo ansah, war es kein Wunder, dass so etwas geglaubt wurde. Sein Rücken war gebeugt, sein Gesicht durchzogen von einem Netz tiefer Furchen, und ein silberner Kranz aus Haar und Bart umrahmte es wie ein Heiligenschein. Sabo war aber nicht nur alt, er war auch weise und kannte das Meer, denn in seinem langen Leben hatte er nicht nur viel erlebt, er hatte auch über vieles nachgedacht. So genoss er großes Ansehen bei den Wa und alle suchten seinen Rat.

Dass Üllü und Sabo etwas hatten, was den anderen Nixen fehlte, ein gutes Gedächtnis, war sicher wichtig für ihre Freundschaft, alleine dadurch wäre diese aber nicht zustande gekommen. Dazu war ein Anstoß nötig, und der war von Üllü gekommen, als sie noch ein ziemlich junges Nixenkind war.

Wie alle ihre Geschwister war sie damals wild, voller Tatendrang und für alles zu haben, was Spaß machte. Doch Üllü hatte auch noch eine andere Seite. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob ihr etwas fehlte. Sie wusste selbst nicht, was es war. Sie spürte es wie einen leichten Hunger, doch nicht Hunger im Bauch, sondern Hunger im Kopf. Wenn sie den spürte, hielt sie es nicht aus in der Gesellschaft ihrer Geschwister und wollte alleine sein. Sie schwamm dann zum See der tausend Quellen. Hier war sie ungestört, denn die anderen Wa mieden den See wegen des dichten Wurzelgewirrs im Wasser. Üllü dagegen liebte den See mit allem, was dazugehörte, und fand ihn wunderschön. Wie ein offenes Auge leuchtete er aus dem Grün des Waldes hervor, hellblau, dunkelblau, türkis oder grün, je nach Tageszeit und Wetter, und die unzähligen Quellen, die seinem Grund entsprangen, glucksten und sangen und brachten das Licht zum Tanzen. Das machte den See zu einer Zauberwelt, die Üllü zum Träumen einlud.

Üllü liebte den See aber nicht nur, weil er so schön war und sie sich dort immer noch ein bisschen glücklicher fühlte als anderswo, es gab hier etwas, was ihr ganz besonders wichtig war. Das war die Schaukel, die sie sich einst aus Luftwurzeln und Schlingpflanzen gebaut hatte, und von der aus sie, wenn sie sich hoch nach oben schwang, durch ein Fenster im Laub Sabo auf seinem Felsen im Meer sehen konnte. Auf dieser Wurzelschaukel war Üllü einst der Gedanke gekommen, sie könnte Sabo einmal auf seinem Felsen besuchen. Das war der Beginn ihrer Freundschaft mit ihm.

Damals hatte Üllü sich wieder einmal auf ihre Schaukel zurückgezogen und sah Sabo in der Ferne auf seinem Felsen sitzen. Niemand außer ihm hielt es so lange alleine aus, so weit weg von allen anderen. Üllü wollte ja selbst manchmal alleine sein, doch so lange alleine da draußen zu sitzen wie Sabo, das hätte sie sich nicht gewünscht. Die Vorstellung, Sabo könnte vielleicht einsam oder traurig sein, hatte ihr keine Ruhe gelassen, und so war sie hinausgeschwommen und hatte sich neben ihn auf den Felsen gesetzt. Eine ganze Weile hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen, Sabo nicht, weil er überrascht war, und Üllü nicht, weil ihr neben so viel Alter und Weisheit nichts Vernünftiges einfiel. Schließlich hatte sie sich aber doch ein Herz gefasst und das Gespräch eröffnet. Es verlief folgendermaßen:

„Warum sitzt du so viel Zeit hier allein, Sabo?“, fragte sie.

Sabo ließ sich Zeit mit der Antwort. Er wollte etwas Richtiges sagen, und das liegt einem ja nicht immer gleich auf der Zunge.

„Ich bin nicht allein. Das Meer ist ja da. Es spricht mit mir“, sagte er leise und lächelte dabei.

„Kann das Meer denn sprechen?“

„Das Meer hat seine eigene Sprache, eine andere als wir, doch wenn man genau hinhört, kann man sie mit der Zeit verstehen, nicht immer, aber manchmal.“

Üllü wäre nie in den Sinn gekommen, an etwas zu zweifeln, was Sabo sagte, doch was er da gerade gesagt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen.

„Wie spricht denn das Meer?“

„Nicht so, wie wir miteinander sprechen, nicht so direkt, nicht in Worten. Es spricht in Bildern.“

„Was für Bilder?“

„Wenn das Meer mir etwas sagen möchte, dann zeigt es mir Bilder von dem, was ich erlebt habe. Dabei fällt mir dann manchmal etwas auf, was ich vorher nicht beachtet habe, etwas, das überraschend war, das nicht gepasst hat oder etwas, was ich nicht verstanden habe. Manchmal ist es auch ein Gefühl, was ich mir nicht erklären konnte.“

Nach einer längeren Pause fuhr er fort:

„Manchmal fangen die Bilder an, sich zu bewegen, sie spielen miteinander, oft kämpfen sie auch gegeneinander. Ich schaue dann ihrem Treiben zu und warte ab, was daraus wird. Manchmal entsteht dann eine andere Geschichte, als die, die wirklich passiert ist, und ich finde etwas heraus.“

„Was findest du heraus?“

„Manchmal finde ich heraus, warum die Dinge so gekommen sind, wie sie gekommen sind. Manchmal sehe ich auch etwas, was noch nicht passiert ist, etwas, was erst kommt.“

Üllü überlegte eine Weile.

„Die Reise zur Korallenstadt?“, fragte sie schließlich.

„Vielleicht.“

„Ich möchte auch solche Bilder sehen“, erklärte Üllü.

„Du kannst es lernen. Dafür braucht man Geduld. Man muss warten können. Wenn man jung ist, ist das schwer.“

„Ich kann das“, erwiderte Üllü, und Sabo wunderte sich.

So wie Sabo mit Üllü sprach, hatte noch nie jemand mit ihr gesprochen. Üllü nahm sich damals vor, es Sabo mit dem Bildersehen gleichzutun. Nachdem sie eine Weile still nebeneinander gesessen hatten, fragte Üllü weiter:

„Dann bist du also nicht einsam?“

„Hast du das gedacht?“

„Ich weiß nicht, es hätte ja sein können.“

„Und deshalb wolltest du mir Gesellschaft leisten?“

Üllü war unsicher. Vielleicht wollte Sabo gar keine Gesellschaft. Doch als sie in sein freundliches Gesicht blickte, wusste sie, dass sie unbesorgt sein konnte.

„Nicht jede Gesellschaft kann Einsamkeit vertreiben. Dazu braucht es einen Freund – oder eine Freundin.“

„Vielleicht – könnte ich deine Freundin sein?“

Das war Üllü so herausgerutscht, und nun, da es ausgesprochen war, spürte sie ihr Herz klopfen. Sie war ja noch ein Kind. Sie schwankte zwischen Hoffnung und Furcht. Und dann sagte Sabo:

„Ja, das wäre schön, das wäre sehr schön“, und beide strahlten sich an.

Von diesem Tag an besuchte Üllü Sabo jeden Tag auf seinem Felsen im Meer. Über alles konnte sie mit ihm reden, nie wurde er ungeduldig und nie fand er eine Frage dumm. Manchmal saßen die beiden schweigend zusammen, blickten aufs Wasser und freuten sich einfach nur, dass der andere da war. Oft sprachen sie auch von ganz einfachen Dingen wie zum Beispiel davon, wo die besten Algen wuchsen, wie hübsch die frisch geschlüpften Enten waren, wie heiß es heute war oder dass sich eine Nixe beim Spielen an einer Feuerqualle die Finger verbrannt hatte. Doch sie sprachen auch über anderes.

Dann erzählte Sabo Üllü Geschichten aus dem Leben des Nixenvolkes. Er hatte diese Geschichten früher auch den anderen erzählt, doch die hatten bald alles wieder vergessen. Obwohl Sabo natürlich wusste, dass es nicht anders sein konnte, weil die Nixen ein so kurzes Gedächtnis hatten, hatte es ihn traurig gemacht und so hatte er über solche Dinge mit seiner Familie nicht mehr gesprochen. Dass es jetzt jemanden wie Üllü gab, die seine Geschichten liebte, sie nicht gleich wieder vergaß, und der er alles erzählen konnte, was er wusste, war für Sabo wie ein Geschenk. Es machte ihn glücklich.


*

Von der Korallenstadt hatte Sabo mit Üllü nur einmal gesprochen, als er vom weißen Blut der Nixen sprach. Der Anlass zu diesem Gespräch war eher ein zufälliger gewesen. Üllü war damals auf dem Weg zu Sabo in Panik geraten, weil sie dachte, dass ein Hai sie verfolge und fressen wolle, weil sie eine Gruselgeschichte über ihn erzählt hatte. Zitternd vor Angst hatte sie es schließlich zu Sabos Felsen geschafft und sich in Sabos Arme geworfen.

Sabo hatte sie ganz sanft festgehalten und leise zu ihr gesagt:

„Du brauchst keine Angst zu haben. Es war kein Hai, es war ein großer Delphin. Er wollte mit dir spielen.“

Ungläubig hatte Üllü in die Richtung geschaut, wo sie ihren Verfolger vermutete, und ihn dabei so weit draußen entdeckt, dass er schon lange abgedreht haben musste. Offenbar hatte er die Verfolgung aufgegeben, als er bemerkte, dass sie vor ihm floh. Ihre Angst war also ganz unnötig gewesen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, fragte Sabo:

„Hast du bemerkt, wie kalt du bist?“

Üllü hatte es nicht bemerkt. Erst, nachdem Sabo das gefragt hatte, spürte sie die Kälte. Sabo erklärte es ihr.

„Wenn wir Nixen Angst haben, kann unser Blut in den Adern gefrieren, und unser ganzer Körper wird zu Eis. Man ist in großer Gefahr, wenn das passiert, denn bei jedem härteren Stoß kann der vereiste Körper in Stücke brechen. Wenn er unversehrt bleibt, kann das Eis in den Adern wieder tauen und man wird wieder warm, weich und lebendig. Du hast großes Glück gehabt.“

Üllü hatte nicht gewusst, dass Blut gefrieren kann, und hatte Sabo gefragt, ob jedes Blut gefrieren kann.

„Nein“, hatte Sabo geantwortet, „nur weißes Blut gefriert durch Angst. Die meisten Lebewesen haben rotes Blut. Unser Blut, das Blut der Nixen, ist weiß, ähnlich der Milch, die Kinder bei ihren Müttern saugen.“

Üllü stellte sich vor, was passiert wäre, wenn Sabo sie nicht in seinen Armen aufgewärmt hätte, und schon begann sie wieder zu frösteln.

„Kann man denn nichts gegen das Blutgefrieren tun?“

„Nein, nur gegen die Angst kann man etwas tun. Man kann sie vertreiben.“

„Wie macht man das?“

„Indem man ihr ins Auge schaut. Wenn du mit deinem Auge auf sie zielst wie der Schützenfisch auf seine Beute, dann zieht sie sich zurück.“

„Aber man kann die Angst doch gar nicht sehen.“

„Die Angst nicht, aber das, was einem Angst macht. Das musst du ganz genau anschauen, meist verliert es dabei seinen Schrecken.“

„Und was ist, wenn man das, was einem Angst macht, nicht sieht, wenn man nur weiß, dass es irgendwo da ist, zum Beispiel ein Hai, der einen schnappen möchte?“

„Auch dann geht es. Du musst dein inneres Auge benutzen, musst dir das, was dir Angst macht, vorstellen. Dazu braucht es Mut, den musst du haben.“

Dass ihr das, was sie da gehört hatte, einmal das Leben retten würde, konnte Üllü damals nicht ahnen. Sie stellte sich die Sache jedoch schwierig vor, und auch was Sabo über das Blut gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie fand es merkwürdig und auch ein bisschen ungerecht, dass alle anderen rotes und nur die Nixen weißes Blut hatten, Blut, das einen bei Angst in Lebensgefahr brachte. Sie musste mit Sabo darüber sprechen. Ein paar Tage später tat sie es:

„Warum ist unser Blut nicht rot wie bei allen anderen?“

„Alle Lebewesen stammen aus dem Meer. Sie sind aber nicht alle auf einmal entstanden, sondern nacheinander. Die Nixen kamen erst sehr spät dazu, als Fische, Wale, Delfine, Kraken, Krebse, Muscheln und alle anderen schon längst das Wasser bevölkerten. Auch die aus Korallen erbaute Stadt der Nixen gab es schon sehr früh, lange bevor es Nixen gab. Sie war schon damals der schönste Platz im ganzen Westmeer, und deshalb sollte sie die Wiege der Nixen sein.“

„Und deshalb feiern die Nixen dort Hochzeit?“

„Ja. Die Korallenstadt ist der Ort, wo die ersten Nixen geboren wurden.“

Nach einer kleinen Pause fuhr Sabo fort:

„Ich spreche von den Nixen, die an den Küsten des Westmeeres leben, den Luwala Walabe Walu, zu denen auch wir Wa gehören. An unserer Entstehung war nicht nur das Wasser beteiligt, auch die Korallen haben uns damals etwas von sich mitgegeben. Es war das Rote im Blut, das haben sie uns geschenkt. Es war der letzte Rest von Rot, den die Korallen noch besaßen, alles Übrige hatten sie schon an die Tiere abgegeben, die vor uns entstanden sind. Als nun die Korallen für sich selbst gar nichts Rotes mehr hatten, wurden sie nicht nur weiß, sondern auch krank. Sie hätten ohne das Rote nicht leben können. Das wollten die Nixen nicht. Deshalb haben wir Nixen ihnen das Rote aus unserem Blut damals wieder zurückgegeben. Wir können ja auch mit weißem Blut leben, aber ohne Korallen wäre alles Leben im Meer in Gefahr gewesen. Dafür sind uns alle Meeresbewohner dankbar. Sie lieben uns dafür und niemand ist unser Feind.“

Und leise, wie zu sich selbst, fügte er hinzu:

„So war es bis jetzt. Es ist schon so lange her. Die Geschichte könnte eines Tages in Vergessenheit geraten. Bei den Haien könnte das vielleicht bald passieren.“

Je länger Üllüs Freundschaft mit Sabo dauerte und je mehr Üllü von Sabo erfuhr, desto mehr verschwand der Hunger in ihrem Kopf, und sie verlor das Bedürfnis, alleine zu sein. Deshalb, und auch weil sie so viel Zeit mit Sabo verbrachte, war sie dem See der tausend Quellen untreu geworden.

Die milchblütige Heldin Üllü Wa

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