Читать книгу Die milchblütige Heldin Üllü Wa - Ingrid Dobbertin - Страница 7

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Die Wa Luwala Walabe Walu

Bevor die junge Nixe Üllü all die Abenteuer erlebte, von denen hier berichtet wird, führte sie das glücklichste Leben, das man sich vorstellen kann. Niemals wäre ihr damals in den Sinn gekommen, dass sich daran etwas ändern könnte. Und doch änderte sich alles.

Bevor das geschah, lebte Üllü mit ihrer Nixenfamilie im Westen. Ihre Familie nannte sich „Wa“, und gehörte zum Nixengeschlecht der Luwala Walabe Walu, was aus der Nixensprache übersetzt „Westmeerküstenbewohner“ heißt. Üllüs vollständiger Name war daher „Üllü Wa Luwala Walabe Walu“.

Zu Hause waren die Wa in Wassererde, einem den Menschen unbekannten Ort weit draußen im Delta eines großen Flusses, wo zwischen den vielen Wasseradern die Erde immer weniger, weicher und nasser wird, bis sie schließlich ganz verschwindet und das freie Meer beginnt. Alles war hier nass, nicht nur das Wasser und die Erde, soweit es sie überhaupt noch gab, sondern auch die Luft, und deshalb hing über Wassererde fast immer ein Hauch von Regenbogen, obwohl es gar nicht regnete. Selbst die Bäume pflegten hier aus dem Wasser zu wachsen. Einen ganzen Wald gab es davon, und in diesem Wasserwald lag ganz versteckt der See der tausend Quellen, von dem noch zu sprechen sein wird. Der größte Teil von Wassererde war allerdings reine Meereszone, und hier, wo es bis auf eine kleine Gruppe schwarzer Felsen nichts als Wasser gab, lebten die Wa.

Mit über hundert Nixen waren sie eine große Familie, und mit Ausnahme von Sabo, dem uralten Familienoberhaupt und Üllüs bestem Freund, waren sie alle jung, schön und glichen einander wie ein Ei dem anderen. Für einen Menschen wäre es jedenfalls kaum möglich gewesen wäre, sie voneinander zu unterscheiden. Von der Hüfte an abwärts entsprach ihr Körper dem eines Fischs, war geschmeidig und mit Schuppen bedeckt, und weil die in allen Farben des Meeres schillerten, sah es so aus, als ob sie einen langen, engen, paillettenbestickten Rock anhätten. Eine Schwanzflosse, wie man sie manchmal auf Bildern von Nixen sieht, hatten die Wa nicht. Sie hatten Füße. Die waren sehr breit, hatten Schwimmhäute zwischen den Zehen und eigneten sich perfekt zum Schwimmen. Auch gehen konnten die Wa damit.

Ohne Beine war das allerdings mühsam, und deshalb zogen die Wa auf festem Grund das Hüpfen dem Gehen vor. Weil die Wa als Nixen das Wasser aber viel mehr liebten als das Trockene und es deshalb fast nie verließen, kam das selten vor.

Von der Taille an aufwärts sahen die Wa aus wie Menschen, und keiner hätte sich nach Üllü oder ihren Geschwistern umgedreht, wären sie mit Sonnenbrille, langem Mantel und Mütze in Paris oder New York spazieren gefahren. Kleine Unterschiede gab es aber doch. So hatte die Haut der Wa einen grünlich-bronzefarbenen Schimmer, und ihr nasses Haar, das ihnen bis zur Hüfte reichte, war teils blau, teils grün, und konnte, je nach Stimmung, heller oder dunkler werden. Etwas Besonderes waren auch ihre Augen. Die strahlten in einem ganz hellen Türkis und hatten winzige, fast unsichtbare Pupillen, sodass man beim Hineinschauen den Eindruck hätte haben müssen, in klares Wasser zu blicken. Alle in Üllüs Familie hatten solche Augen, alle bis auf zwei: Die Augen von Üllü und Sabo waren grün mit ein klein wenig Goldgefunkel darin und hatten Pupillen, wie Menschen sie haben.


Die beiden unterschieden sich aber noch in etwas anderem vom Rest ihrer Familie, und dieser Unterschied betraf ihr Gedächtnis. Während die übrigen Wa sich nicht länger als höchstens drei Tage zurückerinnern konnten, die meisten von ihnen sogar kaum einen ganzen Tag, hatten Üllü und Sabo ein Gedächtnis, das dem der Menschen gleich war. Vielleicht hingen die Besonderheiten von Augen und Gedächtnis ja miteinander zusammen, doch sicher wissen kann man es nicht.

Die Wa waren wild und ausgelassen und führten in Wassererde ein herrlich unbeschwertes Leben. Arbeiten mussten sie nicht, denn alles, was sie brauchten, fanden sie um sich herum im Wasser. Sie ernährten sich von Seegras, Algen und Tang, hatten als Wohnung das Wasser, und weil sie keine Kleider trugen, brauchten sie sich auch darum nicht zu kümmern. Langeweile kannten sie trotzdem nicht. Sie schwammen um ihr Leben gern, tollten im Wasser herum, neckten die Fische, kämmten sich die langen Haare, schminkten sich mit Algenfarbe ihre schönen Gesichter und spielten. Mit Spielen brachten sie die meiste Zeit des Tages zu. Sturm und hohe Wellen liebten sie besonders; von denen ließen sie sich in die Luft werfen und tanzten mit ihnen, das fanden sie ganz wunderbar.

Doch auch ohne Sturm konnten die Wa das Meer zum Kochen bringen. Das geschah beim Wasserballspiel. Kein Tag verging ohne dieses Spiel, und die Zeit des Wasserballspiels war die schönste Zeit ihres Nixentages. Als Ball stellte sich ihnen ein kleiner Tintenfisch namens Quark zur Verfügung. Er musste entweder geworfen oder entführt, und danach gesucht und gefunden werden. Das war schwer, denn Quark war schnell wie der Blitz und konnte sich tarnen. Kam ihm ein Verfolger zu nahe, ließ er ein Wölkchen schwarzer Tinte ins Meer entwischen, und schon war er nicht mehr zu sehen. Irgendwann wurde er aber doch gefangen und meist war es Üllü, die ihn fing. Sie war die unangefochtene Königin des Spiels. Der Einzige, der sich nicht am Spiel beteiligte, war Sabo. Ihm war es zu anstrengend geworden. Wenn die anderen spielten, saß er auf einem schwarzen Felsen im Meer und blickte hinaus aufs Wasser. Alle kannten das und ließen ihm seine Ruhe.

Nach dem Spiel, wenn sie sich genügend ausgetobt hatten, versammelten sich die Wa am Meeresgrund, räkelten sich im Sand oder legten sich in eine Seegraswiese und erzählten sich Geschichten. Meist ging es dabei um die Reise zur Korallenstadt, wo sich in großen Zeitabständen alle Westmeernixen trafen, um Hochzeit zu halten. Nur Üllü erzählte meist andere Geschichten, solche, bei denen sich die Zuhörer gruseln konnten. Das liebten die Wa besonders, denn in ihrem wirklichen Leben hatten sie keine Feinde, und so fehlte ihnen zum Gruseln die Gelegenheit. Den Haien gegenüber war zwar Vorsicht geboten, doch Haie lebten gar nicht direkt in Wassererde, sondern weiter draußen im Meer. Menschen gab es in Wassererde nicht, und niemand unter den Wa hatte jemals einen Menschen gesehen.

Natürlich mussten die Wa auch schlafen. Wenn die Sonne unterging und der Nixentag sich dem Ende zuneigte, legten sie sich dazu aufs Wasser, das Gesicht dem Himmel zugewandt. So konnten sie die schönsten Träume haben. Sie träumten dann von der Korallenstadt der Nixen, und wenn sie davon träumten, rollten ihre Augen unter den geschlossenen Lidern, ein Lächeln lag auf ihren Lippen, ihre Arme reckten sich wie zu einer Umarmung dem Himmel entgegen und ihre Hände bewegten sich, als ob sie jemanden streicheln wollten.

So war das Leben in Wassererde für die Wa ein Leben wie im Paradies. Wenn Paradies allerdings bedeutet, dass gar keine Wünsche offen sind, dann lebten sie doch nicht ganz im Paradies, denn einen unerfüllten Wunsch hatten alle Wa: eben die Reise zur Korallenstadt, um dort Hochzeit zu feiern. Seit Üllü sich erinnern konnte, war kein Tag vergangen, an dem diese Reise nicht Gesprächsstoff gewesen wäre. Über die wunderbarsten Erlebnisse wurde da berichtet. Dabei hatten die, die das erzählten, die Reise meist gar nicht selbst erlebt, denn oft lag mehr als ein Nixenleben zwischen diesen Reisen, und um sich daran zu erinnern, reichte das Gedächtnis der Nixen sowieso nicht aus. Der Einzige, der mehrere dieser Meereswanderungen mitgemacht und nichts davon vergessen hatte, war Sabo. Doch ausgerechnet er sprach nie davon. Keiner wusste, wann der Aufruf zu der großen Nixenhochzeit ergehen würde; auch Sabo wusste es nicht, und so hüllte der Traum von der Korallenstadt ganz Wassererde ein wie eine rosarote Sehnsuchtswolke.

Die milchblütige Heldin Üllü Wa

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