Читать книгу Die milchblütige Heldin Üllü Wa - Ingrid Dobbertin - Страница 9

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Der stumme See

Wenn bedeutende Dinge geschehen, solche, nach denen nichts mehr ist wie zuvor und von denen die Betroffenen später ihr ganzes Leben lang erzählen, dann kündigt sich das manchmal durch seltsame Ereignisse vorher an. Man sagt dann: „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“. Ein solcher Schatten traf eines schönen Tages den See der tausend Quellen, Üllüs Lieblingsplatz aus Kindertagen. Üllü erfuhr davon durch ihre Freundin, die kleine Wasserschildkröte Atta, mitten in der Nacht.

Atta war im See zu Hause und hatte alles miterlebt. Am Abend hatten die Quellen begonnen, schwarzes Wasser zu spucken. Das Wasser im See war daraufhin immer dunkler geworden und hatte zunehmend übler geschmeckt. Schließlich hatten die Quellen das Sprudeln ganz eingestellt. Im See war es inzwischen unerträglich. Gegen Mitternacht hatte Atta es dort nicht mehr ausgehalten, und war, allen Gefahren zum Trotz, aufs Meer hinausgeschwommen, um Üllü von der Katastrophe zu berichten.

Den Schlafplatz der Nixen erreichte Atta ohne Zwischenfälle, doch Üllü bei Nacht unter den vielen schlafenden Nixen zu finden, war schwierig, und als ihr das endlich gelungen war, schlief Üllü so fest, dass sie nicht wach zu kriegen war. Alle Weckversuche scheiterten, und Atta wurde immer aufgeregter. Schließlich wusste sie sich nicht anders zu helfen, als Üllü mit ihren zahnlosen Kiefern ins Ohr zu beißen. Das half. Üllü drehte sich aus der flachen Rückenlage in die Senkrechte, streckte sich ausgiebig in alle Richtungen und wischte sich den Schlaf aus den Augen.

„Üllü endlich, beeil dich doch!“, keuchte Atta aufgeregt.

Wegen der Dunkelheit konnte Üllü den Störenfried nicht sehen, der sie da gerade so unsanft aus dem Schlaf gebissen hatte, doch die Stimme kannte sie.

„Komm mit, im See – die Quellen …“, weiter kam Atta nicht. Die Stimme versagte ihr.

„Wieso, was ist passiert? Was ist mit den Quellen?“

Üllüs Stimme war noch ganz heiser vom Schlaf. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum die Quellen Grund für irgendwelche Aufregung sein sollten.

„Erst haben sie schwarzes Wasser gespuckt, und dann sind sie versiegt. Das Wasser im See ist schmutzig, dunkel und schmeckt fürchterlich. Vielleicht – ich glaube, der See stirbt. Wir haben solche Angst.“

Es dauerte eine Weile, bis die schlaftrunkene Üllü verstand, was Atta da eben gesagt hatte, doch als sie es dann begriff, war sie schlagartig hellwach. Es war wirklich eine schlimme Nachricht.

„Wir meinen, du könntest die Quellen vielleicht wieder lebendig machen. Die Fische glauben, dass die Quellen krank geworden sind, weil du uns schon ewige Zeit nicht mehr im See besucht hast“, flüsterte Atta.

Für Üllü war das eine absurde Vorstellung.

„Das ist verrückt. Wie kann man nur so etwas glauben. Ich werde gar nichts machen können, Atta, leider“, seufzte sie.

Atta überhörte das und ließ nicht locker.

„Versuch’s einfach, Üllü, irgendetwas müssen wir doch tun.“

Üllü hielt es für unmöglich, dass ihr Fernbleiben etwas mit dem Verstummen der Quellen zu tun haben konnte, und sie war sich sicher, die Quellen nicht wieder zum Leben erwecken zu können. Doch jetzt, da den See das Unglück getroffen hatte, tat ihr bitter leid, dass sie ihn so lange nicht mehr besucht hatte. Sie zögerte daher keinen Augenblick, Atta zum See zu begleiten.

*

Von den schlafenden Nixen unbemerkt, machten sich die beiden auf den Weg zum See der tausend Quellen. Bedrückt und ohne zu sprechen schwammen sie nebeneinanderher. Nur einmal brach Atta das Schweigen:

„Ich glaube, dass das schwarze Wasser die Quellen verstopft hat.“

Üllü hörte zwar, was Atta sagte, war aber so tief in Gedanken, dass sie es gar nicht wirklich wahrnahm und nicht antwortete. Daraufhin sagte Atta nichts mehr, und Üllü grübelte weiter. Ihr Kopf bezweifelte nicht, was Atta berichtet hatte, doch ihr Herz hoffte, dass es nur ein böser Traum war, der sich in nichts auflösen würde, sobald sie den See erreicht haben würden. Doch als sie dort ankamen, war diese Hoffnung dahin, und es erwies sich als traurige Wahrheit, was Atta gesagt hatte.

Trotz der nächtlichen Stunde herrschte im Wasser große Aufregung. Sämtliche Seebewohner waren wach und die Fische waren geradezu in Panik. Alle stürmten auf Üllü zu und redeten auf sie ein, sodass sie kein Wort verstand.

„Ich würde euch so gerne helfen, aber ich werde nichts machen können. Ich weiß auch nicht, was mit den Quellen los ist“, stöhnte sie.

Die Antwort darauf war von allen Seiten die gleiche: „Es genügt, wenn du da bist, bleib hier, dann wird alles wieder gut“.

Üllü war klar, dass sie dieses Vertrauen enttäuschen musste, und das machte sie noch trauriger, als sie sowieso schon war. Weil ihr nichts einfiel, was sie sonst hätte tun können, tauchte sie in die Tiefe ab, setzte sich auf den Grund des Sees und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie wollte an die Quellen denken und sie bitten, wieder lebendig zu werden, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie war viel zu niedergeschlagen und verwirrt, um überhaupt etwas denken zu können.

Als Üllü eine Weile so gesessen hatte, ohne das kleinste Fünkchen Hoffnung, hörte sie ein dumpfes Grollen, der Boden des Sees unter ihr begann zu zittern wie bei einem Erdbeben, und dann war ein erstes leises Glucksen im Wasser zu hören. Bald gluckste es aus allen Richtungen, Üllü spürte Luftblasen nach oben steigen, und es dauerte nicht lange, da hörte sich der See der tausend Quellen an, wie er sich immer angehört hatte. Die Quellen hatten wieder zu sprudeln begonnen. Welche Farbe ihr Wasser hatte, war bei Nacht nicht zu erkennen, doch bald war klar, dass es gutes Wasser war. Üllü konnte es noch kaum glauben, da drängten sich die Seebewohner bereits um sie: „Üllü, Üllü, die Quellen sind wieder aufgewacht, wir haben es gewusst, du hast es hingekriegt.“

„Sie sind von selbst wieder aufgewacht, ich hab gar nichts gemacht“, wehrte sich Üllü, doch keiner glaubte ihr.

Für die Seebewohner war alles wieder in Ordnung, das Leben war in den See zurückgekehrt, und sie waren von ihrer Angst erlöst. Unverzüglich begaben sie sich wieder zur Ruhe.

Auch Üllü war erleichtert, doch beruhigt war sie nicht, ganz im Gegenteil. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass Wasser schwarz werden und Quellen versiegen konnten. Wenn das einmal passiert war, wer konnte wissen, ob es nicht wieder passierte und – wenn Quellen versiegen konnten, vielleicht konnte dann auch das Meer einmal austrocknen und alle, die sie liebte, hätten dann kein Zuhause mehr? Das war eine schreckliche Vorstellung, sie durfte gar nicht daran denken.

Üllü beschloss, den Rest der Nacht im See zu verbringen. Misstrauisch wie ein alarmierter Wachsoldat blieb sie auf dem gurgelnden Grund des Sees sitzen und lauschte dem Sprudeln der Quellen, voller Sorge, es könnte wieder verstummen. Doch die Quellen ließen kein Zeichen der Schwäche erkennen. Als der Morgen anbrach, unterzog Üllü das Wasser einer gründlichen Prüfung und fand es tadellos. Daraufhin verabschiedete sie sich vom See und seinen Bewohnern, soweit diese schon aufgewacht waren, begab sich zum Ausgang des Sees, ließ sich von dem kräftigen Quellstrom, der sich ins Meer ergoss, hinaustragen und schwamm zurück zum Schlafplatz ihrer Familie.

Die milchblütige Heldin Üllü Wa

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