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Kapitel 5 – Jennas Schicksal nimmt seinen Lauf
ОглавлениеJenna lehnte mit Noir am Geländer der Dachterrasse der Detektei, blickte hinunter auf den Londoner Verkehr und genoss das schöne Wetter. Morgen würde sie in den Norden Englands aufbrechen, um mehr über sich und ihre Mutter zu erfahren. Daher war sie noch einmal gekommen, um Noir zu beruhigen. »Du hast ja meine Handynummer. Außerdem kannst du mein Telefon dank Magnus’ Technik jederzeit orten, und Nicolas und Jamie können immer ein Portal erschaffen, um mich zurückzuholen.«
Noir drehte sich zu ihr und spielte am Clip ihres Memoboards, bevor sie sich eine Strähne ihres silberweißen Haares hinters Ohr schob. »Warum fragst du deinen Dad nicht einfach, was er so oft in Bridlington zu erledigen hat?«
»Er würde mir ohnehin nicht die Wahrheit sagen, nur Verdacht schöpfen und mich nicht fahren lassen.« Kurz schloss sie die Augen und atmete tief ein. Sie wollte in Bridlington ansetzen, einer Hafenstadt in Yorkshire. Jenna hatte im Schreibtisch ihres Dads Rechnungen von Hotels und Pensionen gefunden, die in diesem Ort oder in der Nähe davon lagen. Fast jeden Monat fuhr er die über zweihundert Meilen dorthin. »Ich habe seine Adressbücher durchsucht und seinen Computer. Nirgendwo finde ich einen Anhaltspunkt. Außer Bridlington. Angeblich trifft er dort einen befreundeten Chirurgen, meint Ben, mit dem sich Dad beruflich austauscht. Einem Freund aus Studienzeiten.« Was für ein Quatsch! Jenna hatte diesen ominösen Mann noch nie zu Gesicht bekommen.
»Vielleicht hat er eine Geliebte und es ist ihm peinlich, jemandem davon zu erzählen?«
»Ach, bleib doch mal ernst. Mir ist noch nie aufgefallen, dass er anderen Frauen hinterhersieht.«
»Das ist mein Ernst.« Noir schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Vielleicht ist ja auch dieser Studienfreund sein …«
»Noir!« Lächelnd schüttelte Jenna den Kopf. »Da steckt etwas anderes dahinter. Das spüre ich. Etwas, das mit mir zu tun hat, weil er jedes Mal sofort das Thema wechselt, wenn ich ihn darauf anspreche.«
»Warum lässt du mich oder einen der Goyles nicht die Sache übernehmen?«
Jenna seufzte. »Weil ich einfach mal raus muss, weg von Ben, Dad und der Klinik. Ich fühle mich eingesperrt. Dad behütet mich nach wie vor, als wäre ich ein unmündiges Kind, und Ben scharwenzelt auch ständig um mich herum. Er versucht, mich zurückzuerobern. Das nervt mich alles nur noch.«
»Also hast du jetzt einen endgültigen Schlussstrich gezogen?«
Sie nickte. »Ben ist wirklich lieb, fast schon zu lieb, nur kein Mann für mich. Er ist so … normal, beinahe langweilig und blockiert mich irgendwie. Ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll, aber wir passen einfach nicht zusammen.«
Noir hob die Brauen. »Er ist dir also nicht wild genug im Bett?«
Sie gab ihrer Freundin einen Klaps auf den Arm. »Du bist und bleibst unmöglich!« Sofort hatte Jenna lebhafte Bilder vor Augen: sie und Kyrian in wilder Umarmung, wie er sie küsste und hart, aber rücksichtsvoll, liebte.
Plötzlich zog Noir den Kugelschreiber aus dem Clip des Memos und schrieb etwas auf den oberen Rand der Akte, die sie dort eingeklemmt hatte: Kyrian starrt dir schon seit fünf Minuten auf den Hintern.
Hitze schoss in Jennas Gesicht. Kyrian war in der Nähe? Sie stellte sich aufrecht hin und stützte sich nicht mehr am Geländer ab. Ihre Pobacken prickelten. »Dank auch schön«, zischte sie.
Noir schmunzelte und drehte sich herum. »Was gibt es, Kyr?«, rief sie.
Jennas Herz raste, als sie sich ebenfalls umdrehte. Wie viel von ihrem Gespräch hatte er belauscht?
Kyrian, der außerhalb menschlicher Hörweite an der Hausmauer gelehnt hatte, schlenderte zu ihnen. Dabei wanderte sein Blick immer wieder zu Jenna. Ihr wurde noch heißer.
»Dr. Fairchild.« Er nickte ihr zu.
Sie brachte nur ein »Hi« heraus, denn er sah atemberaubend aus. Seine athletische Figur kam in den schwarzen Sachen – eng anliegendes T-Shirt und Cargohose – voll zur Geltung. Dazu trug er leichte Einsatzstiefel. Fasziniert starrte sie auf seinen Oberarmmuskel, der sich beachtlich wölbte, als er Noir eine silberne Kette mit Anhänger überreichte.
»Ich hab’s gefunden«, erklärte er, ohne Jenna aus den Augen zu lassen. Der Blick aus seinen blauen Augen brachte ihr Inneres zum Kochen. »War genau da, wo du gesagt hast.«
Seine leicht raue Stimme schickte schon wieder wohlige Schauder über ihre Wirbelsäule. Sie konnte kaum noch stehen, bloß weil dieser Kerl sie anstarrte. Ihre Hand krampfte sich um das Geländer.
»Dann ist der Fall ja geklärt.« Noir bedankte sich bei ihm. »Ich brauche dich vielleicht gleich noch mal.«
Er nickte erneut und verließ sie. Jenna blickte ihm so lange hinterher, bis er verschwunden war.
Als sich Noir räusperte, sah Jenna hastig zu ihr. Ihre Freundin grinste sie wissend an. »Er hat einen süßen Knackarsch, was?«
»Was hat er dir gegeben?« Ihr Blut kochte. Sie brauchte dringend Abkühlung. Und Noir würde sie heimzahlen, dass sie Kyrian absichtlich ihr Gespräch hatte belauschen lassen.
Noir öffnete die Faust. »Einen magischen Kompass.« Das silberfarbene Artefakt glänzte in der Sonne. »Lass uns in mein Büro gehen. Mein Klient, der die Suche des Kompasses in Auftrag gegeben hat, kommt bald. Außerdem können wir uns dort unterhalten, ohne abgehört zu werden.«
Sie zwinkerte Jenna zu. Noirs Büro war schalldicht. Jenna wusste jetzt schon, welche Wendung das Gespräch nehmen würde. Sie deutete auf den Kompass, während sie auf die Glastür zugingen. »Wie hat Kyrian ihn gefunden?«
»Ich habe lediglich mit dem Besitzer gesprochen, der mir, beziehungsweise der Versicherung, weismachen wollte, das Artefakt sei ihm bei einem Einbruch gestohlen worden. Die Versicherungsgesellschaft glaubte ihm nicht, denn er hatte einige Vorstrafen am Hals, und hat mich engagiert.«
»Und?«
»Klarer Fall von Versicherungsbetrug. Die Gedanken des angeblich Geschädigten haben mir verraten, wo er den Kompass versteckt hat, und ich habe Kyrian hingeschickt.«
»Noir«, sagte Jenna tadelnd, als sie ihr Büro betraten. »Du weißt genau, dass du nicht so viel arbeiten und außerdem nicht zaubern sollst.« Jegliche Anwendung von Magie belastete das Immunsystem und förderte frühzeitige Wehen, die Noir schon seit Wochen hatte. »Stress kann die Produktion bestimmter Hormone fördern, die Wehen auslösen. Oder es kommt zu einem vorzeitigen Blasensprung. Stress sollte vor allem in der Schwangerschaft auf jeden Fall vermieden werden.«
»Ja, Frau Doktor, ich hab daher auch ganz artig Kyr geschickt und keinen Suchzauber angewendet. Das mit den Gedanken kann ich ja schlecht abschalten, wie du weißt. Ich war so brav ich konnte.«
Jenna grinste. »Das will ich auch hoffen, sonst werde ich deinem Liebsten sagen, dass er besser auf dich aufpassen soll, und wie ich Vincent kenne, legt er dir dann Ketten an.«
»Bitte nicht«, flehte Noir gespielt, »ich bin froh, dass er meine Bowlingkugel wenigstens mal für ein paar Minuten aus den Augen lässt und wir uns ungestört unterhalten können.«
Plötzlich kniff Noir die Lider zusammen und stützte sich auf dem Schreibtisch ab.
»Was ist?« Jenna war sofort an ihrer Seite und legte die Hand auf den runden Bauch. »Eine Wehe?« Sie fühlte in Noir hinein, nur kurz, solange sie abgelenkt war und nichts merkte, und sah das Baby vor ihrem inneren Auge. Es lag in der optimalen Position, der Kopf zeigte nach unten, sein Herz schlug normal. Erleichtert atmete sie auf. Alles bestens. Noir wusste nichts von ihrer speziellen Fähigkeit, was Jenna oft schmerzte, denn sie wollte ihr Geheimnis gern mit jemandem teilen, um darüber zu reden.
»Keine Wehe.« Noir bog den Rücken durch, die Hände in die Hüften gestemmt. »Der kleine Zappelphilipp bringt mich noch um, bevor er auf der Welt ist. Er tritt mein Herz mit Füßen und rammt seinen Dickkopf in meine Blase. Und wenn er besonders übermütig ist, boxt er mir zu allem Überfluss in die Nieren.«
Jenna schmunzelte. »Er kommt halt ganz nach seinen Eltern.« Sanft drückte sie Noir in den Bürostuhl und setzte sich ihr gegenüber. »Du musst noch weniger arbeiten. Vielleicht sollte ich dir Bettruhe verschreiben.«
Gähnend lehnte sich Noir zurück. »Das würde Vincent gefallen.«
»Du weißt, dass Sperma Wehen auslösen kann?«
Noirs Augen wurden so groß, dass Jenna lauthals lachen musste. »Keine Sorge, es enthält zwar auch das Hormon Prostaglandin, das wir in der Klinik benutzen, um Wehen einzuleiten, aber in so geringen Mengen, also da müsstet ihr schon …«
»Jenna«, unterbrach Noir sie todernst. »Je dicker der Bauch, desto geiler der Goyle. Da kommt ganz schön was zusammen.«
Sie prusteten beide los und lachten so heftig, dass ihnen Tränen über die Wangen liefen. Noir hielt sich den Bauch. »Aua, hör auf!«
Mit dem Handrücken wischte sich Jenna die feuchten Wangen ab. »Selbst Schuld.«
»Du hast mit dem Thema angefangen.« Noir atmete tief durch und beruhigte sich langsam. »Übrigens ist das Vincents Lieblingsthema, nach wie vor. Er kennt so viele Wege, mich zu verwöhnen. Obwohl ich gar nicht weiß, was er an mir findet. Ich fühle mich so attraktiv wie eine Seekuh. Sogar meine Füße sind geschwollen.«
Jenna räusperte sich. »Nimmst du brav dein Magnesium?«
»Ja, Frau Doktor.«
»Und den Himbeerblättertee?«
»Ebenfalls. Und auch dein Spezialpulver.« Noir lehnte sich vor. »Jetzt aber wieder zu dir. Dein Vater wird einen Grund haben, dir nichts über deine Mutter zu erzählen. Er möchte dich vielleicht vor irgendwas oder wem beschützen.«
»Glaub ich nicht, sonst hätte er mir davon berichtet. Er möchte nur nicht an sie erinnert werden. Er hat sie sehr geliebt.« Ihre Mutter Ida hatte in einer Magierbehörde als Schreibkraft gearbeitet und starb angeblich, als das Gebäude einem Anschlag zum Opfer fiel, hinter dem Dunkelelfen steckten. Jenna war zu der Zeit bei Dad. Sie konnte sich nicht mehr an ihre Mutter erinnern.
Noir schüttelte den Kopf. »Das ist doch schon ewig her.«
»Wahre Liebe ist unvergänglich.« Ob sie einmal diese Art von Liebe kennenlernen würde?
»Bist du dir sicher, dass du nicht zu Ben passt?«
Jenna schenkte ihr einen möglichst bösen Blick.
»Schon gut.« Noir grinste. »Dann nimm wenigstens Kyrian mit.«
Sie hatte es gewusst. »Warum gerade ihn?«, fragte sie scheinheilig, wobei ihr der Gedanke plötzlich gefiel. Er würde wenigstens für Ablenkung sorgen.
»Ich habe ihn beim Training mit den anderen Goyles beobachtet. Er kämpft ausgezeichnet und kennt richtig fiese Tricks. Bei ihm bist du bestens aufgehoben.«
»Als ob ich mich nicht verteidigen könnte, immerhin bin ich eine Hexe.« Gut, sie musste zugeben, dass ihre magischen Fähigkeiten alles andere als außergewöhnlich waren, hatte sie sich ihr Leben lang eher auf Fortschritte in medizinischen Dingen konzentriert. Und heimlich ihre Heilkunst trainiert. Über Schulzauber war sie nie hinausgekommen. Im Fach »praktische Anwendung der Zauberkünste« hatte sie allerdings miserabel abgeschnitten.
Noir hob die Brauen, denn sie kannte sehr wohl Jennas nicht vorhandene Fähigkeiten. »Ich möchte mich ja nicht mit meinen Zauberkünsten rühmen, aber ohne Vincent wäre auch ich Ceros’ Dämonen nicht entkommen.«
Jenna erinnerte sich, denn Noir hatte ihr die Geschichte erzählt, wie der Höllenfürst sie in einen Hinterhalt gelockt hatte. Und Noir war die stärkste Hexe, die Jenna kannte. Sie konnte sogar die Erde zum Beben bringen.
»Es gibt Situationen im Leben, da ist ein Beschützer notwendig.« Noir zog eine Schublade auf, holte eine Akte heraus und schlug den Deckel auf. »Kyrian hat in meinem Team die beste Spürnase. In den letzten drei Monaten hat er vier Personen gefunden, die schon lange als verschollen galten. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass er mein bester Mitarbeiter ist.«
»Den will ich dir nicht nehmen. Ich weiß, wie viel du zu tun hast.« Ob das Kyrians Akte war? Jenna versuchte, einen Blick auf die Papiere zu erhaschen. Sie erspähte ein Foto von ihm.
Noir legte die Hand auf ihre. »Für meine Freundin nur den Besten.«
»Ich würde mich ja geschmeichelt fühlen, wenn ich nicht wüsste, dass du uns verkuppeln willst.«
Noir machte so ein unschuldiges Gesicht, dass Jenna erneut lachen musste. »Hier geht es nur um mich und meine Gesundheit«, sagte Noir, nur noch halb so ernst. »Wenn ich Kyr mit dir schicke, hab ich erstens Gewissheit, dass dir nichts passiert, und zweitens ein weiteres Handy, das ich orten kann. Ich weiß ja, wie gern du Dinge verlegst.«
Da hatte sie ausnahmsweise recht. »Okay, überredet.« Irgendwie freute sich Jenna auf dieses Abenteuer. »Was ist mit Nicolas? Von ihm schwärmst du mir doch auch ständig vor?«
»Nicolas brauche ich auf jeden Fall hier. Er hat ein Auge auf Jamie, außerdem ist er der Einzige, der dich sofort zurückholen kann. Und er unterstützt mich mit seiner außerordentlichen Fähigkeit, in die Köpfe anderer eindringen zu können.«
»Das klingt gut, das entlastet dich.«
Noir nickte. »Ja, es ist praktisch, einen Goyle zu haben, der ebenfalls herausfinden kann, ob jemand lügt, sofern es nicht subtil geschehen muss.«
Jenna fand Nicks Fähigkeit auch faszinierend. Er konnte in anderen Köpfen sogar verschollene Informationen finden, wenn diese Leute an Amnesie litten oder ihnen durch einen Schadenzauber Erinnerungen genommen worden waren.
»Wie geht es Dominic und Akilah?«, fragte Jenna. »Ich habe sie seit der Untersuchung nicht mehr gesehen.« Da die beiden reinrassige Gargoyles waren, versteinerten sie bei Tag. Soweit Jenna wusste, waren die zwei ein Pärchen und teilten sich eine Wohnung.
»Es geht ihnen gut. Sie helfen mir, Beziehungen zu anderen Klans zu knüpfen, die nicht so einen engstirnigen Oberen haben wie Grimsley einer ist, und suchen nach weiteren Goyles oder verstoßenen Gargoyles. Magnus hat da noch einige interessante Signaturen auf seinen Satellitenbildern.«
Grimsley war der Anführer des Londoner Gargoyle-Klans, bei dem Vincent und auch Dominic und Akilah früher gelebt hatten, doch warum das Gargoyle-Pärchen jetzt hier lebte, wusste Jenna nicht. Noir war ihr ausgewichen, als Jenna sie darauf angesprochen hatte, also wollte sie nicht nachfragen. Es gab wohl einen triftigen Grund.
»So.« Resolut klappte Noir Kyrians Akte zu. »Genug vom Thema abgelenkt. Ich schicke dir Kyrian mit, oder ich rege mich so auf, dass du nicht wegfahren kannst, weil es mir so schlecht geht.«
Seufzend verschränkte Jenna die Arme vor der Brust. »Na gut, du Erpresserin«. Dafür erntete sie von Noir ein so breites Lächeln, dass sie ihr nicht böse sein konnte.